„Meine Mama hat mich nie geliebt.“ – Der eindrucksvollste Tag meines Lebens

„Meine Mama hat mich nie geliebt. Mit zwölf musste ich anfangen als Haushaltshilfe in anderen Familien zu arbeiten, ich bin nie zur Schule gegangen und habe nie etwas anderes gelernt. Als Älteste meiner sechs Geschwister musste ich schon früh dabei helfen, Geld ins Haus zu bringen. Nur meine drei Brüder sind zur Schule gegangen, wir Mädchen durften das nicht.“
Katharinas Gesicht ist geprägt von tiefen Furchen und ich habe noch nie zuvor solche Augen gesehen. Während sie erzählt, nickt sie immer wieder traurig mit dem Kopf und blickt auf den Fußboden.

Heute wurde bei uns in der Schule der „Día del amor“ gefeiert und ich bin immer noch völlig aufgewühlt und kann das heute Erlebte gar nicht in Worte fassen. Ich glaube heute war wirklich einer der schönsten und emotionalsten Tage meines Lebens.
Anstatt Unterricht zu machen, bringt heute jede Klasse ein oder zwei abuelitos, alte Leute aus dem Viertel, die unter ganz schlechten Bedingungen leben, mit in die Schule. Die Kinder selbst wählen ihren abuelito aus. Dort gibt es Carlos, der nicht laufen kann und nur kommen kann, da ihm eine Organisation einen Rollstuhl geliehen hat, Armin, der mit seinen über siebzig noch Kaugummis verkaufen muss, José, der in seinem Leben mit dem Zirkus durch Südamerika getourt ist, bis er dann vom Seil fiel und seitdem blind ist. Achtzehn alte Menschen haben sich in der Schule versammelt, die alle eins gemeinsam haben: Sie sind sehr arm und alleine.
Um 09:00 Uhr empfangen wir sie an einem rot dekorierten Tisch mit einem leckeren Frühstück. Es gibt Arepa, Rührei, einen Apfel und heiße Schokolade. Mir geht schon das Herz auf, als ich sehe, wie die Kinder die wackeligen Alten an der Hand nehmen und sie zum Tisch begleiten.
Nach dem Frühstück, das ihnen von uns und den Elfern serviert wird, singt der Chor ihnen ein Ständchen. Ganz spontan stellt sich danach eine der Alten hin und singt eine religiöse Hymne. Auch sie ist blind, strahlt aber über beide Ohren. Davon angeregt beginnt José, der Zirkusmonteur, ein Ave Maria zu trällern. Es ist einfach nur wundervoll und herzergreifend, man kann nicht anders, als einfach nur Zuneigung und Glück zu empfinden.
Danach geht jeder der abuelitos in einen der Salons, wo sie den Kindern ihre Lebensgeschichte erzählen.
Ich begleite die sechste Klasse, da sich dort viele meiner Klavierschüler befinden. Schon von Anfang an merkt man, dass unsere abuelita es nicht leicht hatte im Leben. Sie kommt mir vor, als wäre sie 80 Jahre alt, ist aber grade mal 64. Trotzdem ist sie krank und hat nicht viel Kraft.
Sie ist sehr ernst und fängt schon am Anfang ihrer Erzählungen an zu weinen. Ihre Mutter sei sehr hart mit ihre gewesen, der Vater sei ein guter Vater gewesen, habe immer dafür gesorgt, dass ein Essen auf ihrem Tisch lande. Doch als dieser verstarb, hätte sich alles nur verschlimmert.
Mit zwölft fängt Katharina an zu arbeiten, mir wird ganz mulmig als ich das höre, und auch die Schüler gucken ganz verdrossen drein.
Mit siebzehn heiratet sie und bekommt wenig später ihr erstes Kind. Während der Trauzeremonie wird sie öffentlich von ihrer Mutter beleidigt und angeschrien. Aufgrund der Hochzeit zieht sie daheim aus und hat ihre Mutter seit diesem Tag nicht mehr gesehen. Jedes Mal, wenn wir auf ihre Mutter zu sprechen kommen, fängt sie an zu weinen.
Katharina bekommt sechs Kinder, am Anfang geht es ihnen gut, ihr Mann ist ein guter Ehemann, doch dann beginnt er, sie zu schlagen und schlecht zu behandeln. Sie flieht und kommt mit ihren Kindern bei einer Freundin unter, bis sie schließlich Arbeit in einem Restaurant findet, und mit dem Gehalt ein Zimmer bezahlen kann.
Von ihren Geschwistern, denen es einigermaßen gut ergeht, bekommt sie nie jemanden zu Gesicht, hört nicht einmal etwas von ihnen. Wenn sie sie anruft, um ihnen zu sagen, dass sie Geld für den Arzt braucht, kommt nichts zurück.
Auch ihre Kinder kümmern sich nicht, und das, obwohl sie doch versucht hat, ihnen so viel Liebe zu schenken, dafür zu sorgen, dass alle zur Schule gehen können und Arbeit finden.
„Wie geht es ihren Kindern jetzt?“, frage ich.
„Gut. Sie sind arm, aber es geht ihnen gut.“ Mit fünfzig stirbt ihr Mann und einer ihrer Söhne im Alter von fünfzehn in einem Autounfall, danach muss sie die Familie alleine unterhalten. Sie kämpft sich von einer Arbeit zur nächsten, doch nichts dauert länger als vier, fünf Jahre am Stück. Das ist auch der Grund, warum Katharina keine Rente bekommt. Immer noch muss sie Wäsche waschen und Wohnungen säubern. „Ich bin müde, ich kann nicht mehr, aber ich brauche das Geld.“
Ihre Kinder arbeiten heute als Bäcker oder Schreiner, doch keiner lässt sich  bei ihr blicken. Bis vor kurzem hat Katharina zusammen mit einem Bruder gewohnt, der einzige, der sich um sie gekümmert hat. Der ist jedoch vor zwei Monaten spurlos verschwunden, und keiner weiß, was mit ihm ist.
Ich kann einfach nicht begreifen, wieso. Warum kümmert sich keiner um diese arme, alte Frau? Warum interessieren sich weder ihre Geschwister noch ihre Kinder für sie? Wieso hat ihre Mutter sie so schlecht behandelt? Was hat diese arme, nette, alte Frau getan, dass sie das verdient? Ich finde es einfach nur grausam und es macht mich unglaublich traurig.
Und doch hat sie immer ein Lächeln für die Schüler oder mich übrig, wenn wir eine  Frage stellen.
„Mussten Sie oft hungern?“, fragt eine der Schülerinnen.
„Ja, sehr. Sehr, sehr, sehr viel.“ Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, wie viel Essen täglich in Deutschland im Mülleimer landet. Deswegen kann ich auch kein Essen mehr wegschmeißen. Egal, wie vergammelt die Karotte im Kühlschrank schon ist, sie wird noch für irgendwas verwendet.
Am Anfang meiner Zeit hier fand ich es noch eklig, dass Terry (die Amerikanerin, die oben in Dapa lebt) verschimmelte Erdbeeren für ihren Nachtisch benutzt, aber mittlerweile kann ich es total nachvollziehen.
Später spielen einige Schüler den abuelitos noch etwas auf der Querflöte und auf der Geige vor. Dann essen wir gemeinsam etwas Brot und Weintrauben, in Gedenken an Jesus und sein letztes Abendmahl.
Zum Abschied wird jedem abuelito ein ganzer Einkauf geschenkt. Reis, Zucker, Mehl, Öl, Eier, Brot, Kaffee und einiges mehr.
Ich bin so dankbar, dass ich diese Erfahrung machen darf und Teil dieses Tages sein durfte.
Als wir später mit den Lehrern in der Versammlung darüber reden und jeder von seinem Treffen mit dem jeweiligen abuelo berichtet, kann ich die Tränen nicht zurück halten, weil mir einfach bewusst wird, wie gut wir es in Deutschland haben, wie viel Glück ich in meinem Leben bisher hatte und welche Chancen und Möglichkeiten uns Deutschen im Leben gegeben werden. Und wie wenig wir das zu schätzen wissen. Wie oft regen wir uns über so kleine, alltägliche Dinge auf, wie eine zu spät kommende U-Bahn, eine schlechte Note, Regen, Stau, oder ein überteuertes Mittagessen. Ganz ehrlich Leute, wacht mal auf!!! Katharina hat mir gezeigt, was es heißt, ein schweres Leben zu haben, und trotzdem gibt sie nicht auf, macht weiter, und dankt Gott für jeden Tag, den sie leben darf, dankt ihm für den Tag in der Schule und bittet ihn darum, uns zu beschützen. Ich kann diese Frau nur bewundern und ich glaube, dass ich diesen Tag nie wieder vergessen werde.
Immer noch bin ich total aufgewühlt und ich glaube, es dauert auch noch ein paar Tage, bis ich diesen Tag verarbeiten werde, denn es war wirklich eine ziemliche starke und intensive Sache für mich, die mich sehr beschäftigt.
Wenn ich unser Leben in Deutschland mit dem der Menschen hier in Aguablanca vergleiche, weiß ich ehrlich gesagt nicht so ganz, wie ich damit zurecht kommen würde.

Wenn wir alle nur ein bisschen sozialer denken und handeln würden, würden wir wahrscheinlich schon in einer viel besseren Welt leben. Ich weiß, dass das jetzt vielleicht sehr idealistisch klingt, aber alleine, sich bewusst zu machen, dass genug unserer Mitmenschen täglich ums Überleben kämpfen müssen, bringt uns vielleicht schon ein Stück weiter.
Der Lehrer der fünften Klasse erzählt, dass ihr abuelito mit dem Satz reinkam: „Ich lag gerade eine ganze Woche in meinem Bett ohne aufzustehen, ohne dass es jemand gemerkt hat.“ Als sie ihn fragen, wie er das denn überlebt habe, meint er: „Medikamente.“ Man fühlt sich einfach nur total beklommen.
Man muss sich einfach immer und immer wieder in Gedanken rufen, wie gut wir es in Deutschland haben. Es gibt so viele Menschen, die unsere Hilfe brauchen, und natürlich kann man nicht allen auf einmal helfen, aber auch die kleinen Dinge bringen einen ein Stück weiter. Deswegen liebe ich die Arbeit in der Schule so. Dort herrscht ein so hohes Maß an Nächstenliebe, man kann das gar nicht in Worte fassen. Immer wieder sehe ich, wie größere Schüler ihre kleineren Schulkameraden umarmen und drücken, wie auch wir ständig gedrückt und geküsst werden.
Und deswegen liebe ich auch die Musik. Ich wünschte, ich könnte das Leuchten in den Augen der Schüler beim Singen über diesen Blog nach Deutschland übermitteln.
Auch in den Köpfen aller Schüler und Lehrer bleibt das Erlebte eingebrannt. So wollen wir nun versuchen, dem behinderten Mann einen Rollstuhl zu schenken.

Ich kann nur noch einmal sagen: Danke, danke, danke, dass ich diese Erfahrungen machen darf.

Vorheriger Beitrag

Wie Latinos ihre Frauen auf Händen tragen

Nächster Beitrag

Die Geschichtenerzähler aus San Antonio

1 Kommentar

  1. Hallo,

    Ein sehr emotionaler Bericht….bringt einem wirklich zum Nachdenken und das schätzen was man hat.

    Viele Grüße aus Bonn
    Caroline

Kommentare sind geschlossen.

Läuft mit WordPress & Theme erstellt von Anders Norén