von Anne

Wer von uns hat diesen Satz noch nicht in den Mund genommen? Doch gleichzeitig bilden wir uns ein, dass wir uns unser Glück durch den Ausspruch bewusst machen und es wert schätzen. Dass wir damit leider falsch liegen, musste ich hier schmerzhaft erfahren.

Das Schuljahr ist nun vorüber, die Ferien sind angebrochen. Am Montag haben wir deswegen Zeit gefunden, uns nachmittags mit zwei Jungs aus der Abschlussklasse zu treffen. Wir haben viel miteinander geplaudert, haben in den vergangenen Wochen bereits mitbekommen, dass beide eine Aufnahmeprüfung für die „Universidad del Valle“, die größte öffentliche Universität in der Region absolviert haben. Juan* träumt davon, Medizin zu studieren, Felipe* hat sich auf ein Ingenieurstudium beworben. Beide warten nun auf den morgigen Tag, dann werden in der Zeitung die Nummern der zukünftigen Studenten aller Studiengänge veröffentlicht. Wir drücken beiden die Daumen und wünschen ihnen wirklich von ganzem Herzen, dass sie eine Zusage bekommen. Sie haben es so verdient, sind beide sehr intelligent, doch wir wissen auch, dass es schwierig ist, einen Studienplatz an der begehrten „Univalle“  zu ergattern.

Dienstagmorgen. Wir fahren in die Schule, in der heute lediglich eine Besprechung der Lehrer sowie Nachprüfungen stattfinden. Als wir ankommen, treffen wir auch Juan*, der noch seine Einladung für die Graduacíonsfeier am kommenden Samstag abholen muss. Wir freuen uns, ihn zu sehen, begrüßen ihn und fragen, ob er schon das Ergebnis seiner Aufnahmeprüfung weiß, doch das ist nicht der Fall. Kurz darauf wird ihm eine Zeitung gereicht, aufgeregt überfliegt er die Seite mit den Nummern. Erschrocken stellen wir fest, wie wenige Nummern nur aufgelistet sind, haben Angst, Enttäuschung in seinen Augen aufflackern sehen zu müssen. „Ich erinnere mich nicht mehr genau an meine Nummer, ich muss zu Hause erst nachschauen“ unterbricht er schließlich die Anspannung. Wir verabschieden uns und wünschen ihm nochmal viel Glück.

Dienstagmittag. „Hast du deine Nummer gefunden?“ „Hast du Erfolg gehabt?“. Kaum sind wir wieder in unserer Wohnung, verlassen die beiden Nachrichten mein Handy. Nur wenige Sekunden die niederschmetternde Gewissheit: Nein, weder Juan* noch Felipe*  werden an der Universität studieren. Unter allen Schülern unserer Abschlussklasse, die sich an der Universität beworben haben, hat es gerade einmal einer geschafft. Ich würde sie so gerne trösten oder ihnen irgendwie helfen, doch ich weiß, dass mir das verwehrt ist. Die Enttäuschung und Hilflosigkeit wandeln sich jedoch schließlich in traurige Wut, als Juan* mir ein Foto schickt: „Schau mal, 2000 haben sich auf Medizin beworben. Das hier sind die, die angenommen wurden, 90 Nummern.“

Annika und ich sind uns zwar beide noch nicht ganz sicher, was wir im nächsten Jahr studieren wollen, doch wir haben die Gewissheit, dass wir einen Studienplatz bekommen werden. Und noch dazu haben wir in Deutschland die glückliche Situation, dass Studieren so günstig wie in kaum einem anderen Land ist. Die traurige Realität ist aber, dass in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern Bildung ein Privileg derer bleibt, die sie sich leisten können. Die öffentlichen Universitäten können nicht genügend Plätze zur Verfügung stellen, die privaten Hochschulen sind in der Regel zu teuer.

Uns beide nehmen die Ereignisse des Tages ziemlich mit. Teilweise komme ich mir fast naiv vor, da ich eigentlich auch vor Beginn meines Aufenthaltes wusste, dass es hier sehr schwierig ist, nach der Schule weiterhin eine gute Bildung genießen zu können. Aber es ist einfach noch einmal etwas ganz anderes, hier zu sein und nicht ein Schicksal zu hören und vielleicht ein Foto zu sehen, sondern einen Menschen als Freund kennen zu lernen, der die gleichen Chancen verdient hat, die auch ich habe, um seine Träume verwirklichen zu können. Es tut weh, zu wissen, wie machtlos wir als Einzelne doch sind und es macht mich unglaublich traurig und sauer, wie ungerecht die Ungleichheit der Menschen auf der Welt ist. Das alles fällt mir schwer zu akzeptieren. Auch das mag jetzt vielleicht auf manche kindlich naiv wirken, doch es wird mir hier noch einmal stärker als je zuvor vor Augen geführt.

Ich habe darüber nachgedacht, ob ich diese Gedanken im Blog veröffentlichen soll, da ich mir fast sicher bin, dass es als Leser nicht verständlich ist, wenn man nicht selbst diese Erfahrung hat. Trotzdem hoffe ich, dass ich hiermit deutlich machen konnte, dass es viel schwieriger ist, wenn man nicht nur theoretisch weiß, dass wir in Deutschland unglaublich viele Chancen haben, sondern damit konfrontiert wird, dass den eigenen Freunden diese verwehrt werden.

 

„There’s so much sad gonna flood the ocean

We’re all in tears for a world that’s broken

Together we cry.”

[The Script]

 

*die Namen wurden geändert