von Adrian
Es ist heiß. Und das, obwohl die gewöhnlich mit den ersten, orangefarbenen Sonnenstrahlen einsetzende Brisa schon seit ein paar Stunden unermüdlich die Berge der westlichen Anden-Cordillera hinab fegt, um das Valle del Cauca zu später Stunde aus seiner täglichen Hitze-Lethargie zu erwecken. Gleichzeitig trägt sie die an Schlachtenlärm erinnernden Fangesänge der rot leuchtenden America-Südkurve durch die vom Lichtsmog illuminierte Stadt, über welcher die grünlich schimmernde Jesus-Statue, Cristo Rey, mit ausgebreiteten Armen thront, um eine merkwürdige Ruhe verbreitend das altbekannte Spektakel zu begutachten. Cali es Cali, sagt der Pan-de-Bono-Verkäufer, der auf dem Motorroller jeden Morgen um halb sechs lautstark seine typisch caleñischen Backwaren anpreisend durch die Straßen knattert. Cali es Cali, krächzt der mittlerweile schon heisergeschriene 15-Jährige, auf dessen nackten, von Schweißperlen bedeckten Rücken der rote Teufel als Logo seines Lieblingsvereins glänzt. Und Cali es Cali, sagt der Busfahrer des öffentlichen Verkehrssystems, dessen Bus offensichtlich stark unter dem Vandalismus der Steinewerfer leiden musste, als der Paro -angezettelt durch die privaten Kleinbusunternehmen- den sonst so hyperaktiven Stadtverkehr gewaltsam in einen 2-tägigen Dornröschenschlaf zwang und den Osten der Stadt mit Aguablanca in einen Hort der unkontrollierten Gewalt, ja der Selbstjustiz verwandelte.
Und wären Cristo Reys Lippen nicht in Stein gemeißelt, so würde er jetzt wohl die gleichen geflügelten Worte vor sich hin murmeln.
Ja, Cali hat viele Gesichter. Es ist immer und immer wieder dieser Punkt, der so unglaublich stark ins Auge fällt, auch wenn nach 9 Monaten des Aufenthalts in dem Lande, welches die Ausnahme für sich zur Regel gemacht hat, die Heimat in einigen Momenten sogar schon fremder wirkt, als das hier anzutreffende Spektakel.
Und obwohl dieser unendliche Farbmix aus verschiedensten Kontrasten erst einmal unbegreiflich erscheint, so ist er doch sicherlich auch dem extremen Städtewachstum geschuldet, welches Kolumbien aufgrund der einzugnehmenden Unsicherheit und Gewalt in den letzten Jahrzehnten erfuhr und unzählige Menschen aus allen Ecken und Enden dieses riesigen, durch einst verschiedenste Völker bzw. Kulturen besiedelten, Landes nun zusammen in diese riesigen „Kochtöpfe“, zu denen wohl gerade auch Cali gehört, schleuderte.
So weit, so kritisch, sagt da der ausländische Geist, dem dann doch sofort wieder endlose Multikulti-Debatten in den Ohren dröhnen, die jedoch augenblicklich wieder, auch aus Gründen der scheinbaren Belanglosigkeit, von unserer Brisa hinfortgeblasen und nun stattdessen wieder die Worte: „Cali es Cali“ an die Ohren getragen werden. Es scheint also doch einen Gedanken zu geben, der all diese Caleños, wie sie verschiedener nicht sein könnten, im Geiste vereint. Und was für einer! Einer der es in sich hat… oder auch nicht. Auf jeden Fall spricht er anscheinend für die Probleme, die selbst die „Ureinwohner“ haben, wenn sie versuchen, ihr persönliches Bild der Stadt in Worte zu fassen. Vielleicht ist es auch ein wenig die Gleichgültigkeit, die hier in diesem Spruch mitschwingt. Er kann auf jede Weise ausgelegt werden und ist erst einmal vollkommen wertungsfrei. Diese Stadt könnte alles sein. Viele Menschen hier scheinen es aufgegeben zu haben, im Großen zu denken und sich mit der eigenen Identität oder ihrer Heimatstadt auseinanderzusetzen, die kürzlich erst wieder mit fast einem Mord unter 1000 Einwohnern zu einer der Gefährlichsten der Welt erklärt wurde. Schicksalsschläge und Horrorszenarien relativieren sich und verlieren ihren fatalen Charakter. Man hat gar keine andere Wahl, als den allgegenwärtigen und alltäglichen Schreckensnachrichten, wie gerade z.B. von den seit 10 Jahren existierenden, nun aber zu einer neuen Klimax gekommenen, bürgerkriegsähnlichen Zuständen im nahegelegenen Buenaventura, mit einer gewissen Indifferenziertheit zu begegnen. Und wenn der Pfarrer sein Publikum während der Sonntagspredigt fragt, was das Mindeste sei, das man sich von dem Politiker erhoffe, den man gewählt habe, so ist doch immer wieder die allererste Äußerung: „Dass er sich nicht an der Staatskasse bereichert!“ Diese Haltung erklärt vielleicht auch die niedrige Beteiligung an der vergangenen Parlamentswahl, welche vor Ungereimtheiten nur so strotzte. Im Allgemeinen, wenn Kolumbianer von ihren politischen Vertretern erzählen, dann kommt es nicht selten vor, dass sich dabei ein scheinbar heiteres Lachen in die Gesichtszüge schleicht. Man hat seinen persönlichen Waffenstillstand mit der Situation geschlossen, auch wenn dieser bittere Nachgeschmack nicht immer herunterzuschlucken ist.
Cali es Cali. Es scheint eine Art Selbstschutz zu sein, diese traurigen Wahrheiten, nicht mehr an sich heranzulassen. Die Kolumbianer lieben ihr Land, hassen jedoch die Umstände, die seit mehreren Jahrzehnten in ihm herrschen und scheinen auch aus diesem Grunde eine große Bewunderung für Europa zu hegen. Es ist sehr schwer, einen Kolumbianer zu treffen, dessen größter Traum es nicht wäre einmal Paris, Turin oder München gesehen zu haben. Wie von Zauberhand scheint es dort drüben ohne Ausnahme Menschen zu geben, denen es ganz einfach gut geht. So untermalen im Pausengespräch mit einem Providencia-Schüler dessen fasziniert dreinblickende, große Augen das Interesse an Europa und seiner Kultur, wobei jedoch hier und da in den Fragen, in der Gestik, ja in der Mimik eine Art trotziges Minderwertigkeitsgefühl herauszuhören ist… In der darauf folgenden Geschichtsstunde wird ein Test zur französischen Revolution geschrieben, anstatt sich der eigenen Geschichte zu widmen. Es ist dieses Identitäts-Dilemma, mit dem nicht nur die Kolumbianer, sondern auch viele andere Länder auf der Welt kämpfen müssen.
Nach verschiedensten Erfahrungen, Begegnungen, Momenten wird schließlich die Bedeutung dieser psychischen Problemstellung in Verbindung mit der Situation, die diese Menschen gefangen hält, immer deutlicher. Es gibt wahrscheinlich unendlich viele Beispiele für dieses Phänomen, die allerdings nur Symptome darstellen.“Was ist also am Ende von dieser berüchtigten „Entwicklungshilfe“ oder „Entwicklungszusammenarbeit“ geblieben, von der in Europa so viel geredet wird“, fragt man sich gerade auch zurückblickend auf das Zwischenseminar in Ecuador, bei dem deutsche Voluntäre in ganz Südamerika verteilt arbeitend von ihren Eindrücken berichteten. Nach 9 Monaten des Freiwilligendienstes hat sich das Bild um 180 Grad gedreht. Es ist offensichtlich, dass die „helfenden“ Länder hauptsächlich ihre wirtschaftlichen Vorteile und Handelsbeziehungen im Auge haben, was bis zu einem gewissen Grad auch vollkommen legitim ist. Jedoch sollte man, wenn man die ganze Angelegenheit schon auf diese Weise betrachten will, den Unterschied zwischen dem Bauer sehen, der nur seine gefüllte Kornkammer vor Augen hat und dem Bauer, der sein Feld bestellt, weil er es liebt, die Samen auszusäen, weil es ihm Freude bereitet, jeden
Morgen mit der Sonne aufzustehen, die Frucht zu pflegen und mit ihr durch jeden Sturm zu gehen….
Cristo Rey wird auch weiterhin gerne mit offenen Armen die Bannerträger der „Entwicklungshilfe“ und der „Entwicklungszusammenarbeit“ in seine Stadt aufnehmen. Aber vielleicht freut er sich auch gerade über diejenigen, die sich dabei das „globale Zusammenleben“ ins Herz geschrieben haben, denn er hat wohl schon zu viele „Cali es Cali“s gehört, um nicht bemerkt zu haben, dass es oft nur der Ton ist, der auf die Absicht schließen lässt und den Worten letztendlich seine Seele einhaucht.
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