Kolumbien – als Schüler gesehen.

von Adrian

Es kam, wie es kommen musste.Das caleñische „weihnachtliche Vorglühen“ hat schließlich erwartungsgemäß im Zuge der Feria mit einem pompösen Knallen sein jähes Ende gefunden und während man sich noch ungläubig die Augen reibt, ist die Stadt schon lange aus ihrem luziden Weihnachtstraum erwacht, um sich wieder der alten, gewohnten Unruhe zu widmen.Das Blitzlichtgewitter hat sicherlich seine Spuren auf der empfindlichen, deutschen Netzhaut hinterlassen. Das Land hat sich zum Jahreswechsel in ein Ultra-Kolumbien verwandelt. Alles wurde noch lauter, noch schneller, noch heller und… noch häufiger in Fett gebacken. Da neigt, der sich manchmal noch zaghaft regende, „neutrale Beobachter aus Deutschland“ doch gerne noch einmal dazu, kopfschüttelnd seinen scheinbar unanfechtbaren Senf dazu zu geben:“Die haben doch echt nicht verstanden, worum es an Weihnachten geht“

Und ja, auf den ersten Blick wirkt diese Aussage so hieb und stichfest, wie die Ritterrüstung so mancher Polizeieinheit, wenn mal wieder der Deportivo Cali spielt.
Doch dann erinnern wir uns an die erste Lektion, welche uns dieses facettenreiche Land, wie nichts in der Welt so unmissverständlich gelehrt hat: Der erste Blick reicht nicht aus und sehr oft genauso wenig der Zweite. Denn viel zu häufig wird die eigene Meinung letztendlich im Vorbeireiten gebildet. Erst einmal gilt es, vom hohen Rosse zu steigen und sich die Zeit zu nehmen, bei den Menschen an die Tür zu klopfen. Dann sollte man bitte nicht erschrocken sein, wenn diese Tür hier in Cali tatsächlich mit ungeheuerer Selbstverständlichkeit aufschwingt und Eintritt gewährt wird. In der Stube sind die Großfamilie und Freunde, wie an jedem der letzten neun Tage vor Weihnachten im Zeichen der „Novenas“ zusammengekommen, um sich gemeinsam singend, betend, essend und plaudernd auf die heilige Nacht und den Jahreswechsel vorzubereiten. Der Neuankömmling wird sofort mit Interesse und Herzlichkeit in den vertrauten Kreis aufgenommen und als Bereicherung angesehen. Wenn sich nun die feierliche Runde auflöst und unser Protagonist das Haus verlässt, so betritt er verwandelt die Straße. Er hat Pferd und Schuhe aufgegeben, wandert langsam durch die Stadt und sieht hinter jeder Tür ein ähnliches Novena-Szenario. Und somit fällt für Ihn auch stetig der Kulissencharakter dieses Landes. Gleichzeitig entwickelt er sich, dessen scheinbar unbewusst, immer stärker vom Beobachter hin zum Mitfühlenden, Teilnehmenden. Und dies ausgerechnet zur Weihnachtszeit, fern von der Heimat. In der Tiefe seines Herzens vermisst er gerade nämlich nicht etwa die Geschenke, den Schnee, die heimischen Bräuche oder die Ruhe. Viel eher ist ihm deutlich geworden, dass all dies ohne Freunde und Familie nicht mehr den geringsten Wert hat.
Dennoch hat Kolumbien es also unter diesen außerordentlichen, sehnsuchtsbetonten Umständen geschafft, solch eine Verwandlung mit dem Ehemals-Reiter zu vollziehen, wobei die hier im Vorbeireiten vorzufindenden Weihnachtsbräuche ihm doch in vielen Fällen anfangs teilweise immer noch so unangebracht vorkamen.

Jetzt, ein paar Wochen später, wo das neue Schuljahr begonnen hat, ist rückblickend auf allerlei Erfahrungen, Erlebnisse und Blogeinträge aus diesem erstaunlichen Aspekt, eine viel generellere Frage ans Licht gerückt, die bis jetzt viel zu häufig in ihrer Umkehrform gestellt wurde : „Was können wir von den Kolumbianern lernen?“ Und selbst wenn die Novenas schon genug Antwort auf diese Frage geben sollten, gibt es andere Beispiele, die in jeder Hinsicht und besonders auf menschlicher Ebene genauso eindrucksvollsten Charakter haben.
Eine Zahl „arbeitsloser“ Caleños steht mit ungebrochenem Enthusiasmus täglich vom ersten Sonnenstrahl an auf der Straße, um den Tag über in der Gluthitze der Stadt selbstgemachtes Essen, kleine Kunstwerke und all das zu verkaufen, womit ein wenig Pesos zu verdienen sind. Immer vom Ehrgeiz getrieben, die Lebensqualität verbessern zu können und Armut, Hunger, Existenzangst hinter sich zu lassen.
Natürlich finden wir wieder auch schon unter den „alltäglichen“ Schülerbiografien Bilder, die den Atem unwillkürlich stocken lassen und in vielerlei Hinsicht zum Umdenken anhalten.
So kommen das Mädchen, deren Mutter an Weihnachten überraschend gestorben ist und der schwerkranke Junge, dessen Mutter seit Neujahr aufgrund eines Kopfschusses im Krankenhaus liegt, wie eh und jeh in die Schule und legen mit entschlossenem Gesichtsausdruck noch größere Anstrengungen an den Tag als zuvor…
Man muss sich dieser Umstände bewusst werden und fragen, ob es da wirklich noch Sinn macht, aufgrund von Ergebnissen allgemeiner globaler Studien, wie zum Beispiel den desaströs einbrechenden Pisa-Werten, die im Vorbeireiten erfasst wurden, Kolumbien zu vergleichen und in der internationalen Öffentlichkeit als kulturlosen Bildungsversager zu verdammen?
Es gilt also, abzusteigen, den Fußweg zu nehmen, die Barrieren im Kopf zu zerschlagen, das Land wirklich zu erfahren und die Lehre vom unbeschreiblich starken, kolumbianischen (nicht Überlebens-, sondern) Lebenstrieb zu erfühlen, der immer wieder seine faszinierende Atmosphäre verbreitet. Er wird begleitet von der einzigartigen Fähigkeit mit Kummer, Sorgen, Schicksalschlägen umzugehen, fertig zu werden und sich immer wieder von Neuem auch durch den Beistand des eingeschworenen Freundes- und Familienkreises mit einem überzeugten Lächeln auf den Lippen zu erheben!

Und während die neuen Sorgen in Form von wahlkämpfenden Abgeordneten im Galopp unseren Coca-Cola-Weihnachtsmann aus seinem priviligierten Sattel hoch über der Stadt heben, stehen die neuen Plakatbewohner und Anwärter auf die im März anstehenden Parlamentswahlen ihrem pausbäckigen, rotgewandeten Vorgänger und Heilsversprächer weder in ihrer Gestalt, noch in ihrer Botschaft, um etwas nach.

„Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen.“ – Franz Grillparzer

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1 Kommentar

  1. ich bin zwar keine Schülerin aber eine Caleña und dein Beitrag hat mich sehr nachdenklich gemacht

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