Was hängen bleibt

von Adrian

Nach 4 Monaten kolumbianischer Impressionsflut, neigt sich das Jahr seinem Ende entgegen. Langsam wird es kälter, die Tage werden kürzer, die Menschen ziehen sich in ihre Häuser zurück und Ruhe kehrt ein. Die Zeit der Besinnung hat schließlich begonnen… Halt, das klingt nicht nach unserem geliebten Locombia! Und tatsächlich, hier wird das heilige Fest und der bevorstehende Jahreswechel durch ein Heer von dick in Stroboskoplichterketten eingwickelten Plastikweihnachtsbäumen beladen mit Kunstschnee und trommelnden, als Dämonen und Monster verkleideten Kindern angekündigt. Gigantische „Miniaturkrippen“ füllen jetzt in einem inoffiziellem Schönheitswettbewerb halbe Wohnzimmer aus, während aus den riesigen Lautsprechern vor den Einkaufsläden nun noch häufiger, als schon in den vorherigen Monaten fröhliche Jingle-Bells-Interpretationen erschallen, welche hin und wieder von Böllerschlägen unterbrochen werden, die scheinbar das geasamte Valle del Cauca erzittern lassen. Und wenn der Coca-Cola Weihnachtsmann mit rosigen Bäckchen auf den riesigen Werbetafeln „Ich glaube an die Caleños“-sagend von überallher feist auf die Stadt niedergrinst, so könnte man in bestimmten Situationen fast meinen, dass in dieser vieldeutigen frohen Botschaft vielleicht auch ein gewisser Hohn mitschwingt.
Derjenige, der gehofft hatte, dass nun schließlich die Zeit komme, in der sich selbst der große Ameisenhügel Cali einmal eine Ruhepause gönnen müsse, hat sich augenscheinlich gewaltig geirrt. Denn Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Das große Krabbeln geht jetzt wie es scheint erst richtig los und strebt laut schallend seinem kunterbunten Höhepunkt der absoluten Reizüberflutung entgegen.

Doch wenn man nun selbst mit solcherart Hintergedanken die letzten Runden ziehend über den ungewohnt ausgestorbenen und ruhigen  Schulhof von unserer Schule wandert, kurz vor dem Schriftzug „29 Jahre Providencia verharrt“ und schließlich die vergitterten, ausgestorbenen Klassensäle erblickt, so dauert es nicht lange und der nostalgische , deutsche Durchschnitts-Freiwillige wird nachdenklich… Das Geschehen der letzten 4 Monate wallt noch einmal in ihm auf und verschiedenste emotionsgeladene Impressionen durchleben die Sinne… Für einen Moment fühlt man wieder die steinerne Stadtmauer der historischen Kolonialstadt Cartagena unter seinen Füßen, hört den dumpfen Donner über dem nun verschlafenen, mythenumwobenen Städtchen Mompox, das einstmals eines der wichtigsten Goldumschlagsplätze Südamerikas darstellte, lässt den Blick über die unendlichen mit riesigen Plantagen besetzten Hänge der Kaffeezone streifen, rauscht nochmal durch die überfüllten Straßen dieser unbegreiflich großen und niemals ruhenden Hauptstadt Bogotá, riecht wieder den einzigartigen Duft der Arepas und Chorizos von Manisalez…. Doch bald erheben sich zwischen diesen „Postkartenerfahrungen“, viele andere  Erinnerungen, die sich trotz ihrer objektiven Bedeutungslosigkeit tief ins Gedächtnis eingebrannt haben. So ist da das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, als über einen auf dem Bürgersteig liegenden Mann steigen zu müssen, der offenbar im Drogenrausch in sich zusammengesunken ist. Und dann ist dort der Angestellte von der Stadtreinigung, welcher hinten am Müllwagen hängend in seinem leuchtend gelben Gummianzug ein paar flotte Salsaschritte an den Tag legt.
Die Großmutter aus Aguablanca, die zufrieden lächelnd in der Küche ihres mit eigenen Händen erbauten Ziegelhauses steht, das gleichzeitig ihr Lebenswerk darstellt, und von ihren Erfahrungen erzählt, die allesamt so unglaublich und heldenhaft erscheinen, jedoch aus ihrem Munde hervorgemurmelt kommen, als unterhielte sie sich mit einer Nachbarin über das Wetter…

Die kleine Schulküche passierend, werden Erinnerungen an die fabelhaften „Ernährungswochen“ mit Herrn Zibelius wieder wach. Damit eng verknüpft sind die leuchtend interessierten Augen der Kinder jeder Altersstufe. Die Gleichen, die man im Englischunterricht hin und wieder vermisst. Und so kommt man schlussendlich doch nicht um die scheinbar alles entscheidende Frage herum:“Was ist hängen geblieben?“ Und schon kommen weitere Zweifel auf:“Hat der Unterricht den Kindern wirklich geholfen?“, „Ist die Arbeit hier vielleicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein?“. Die einzelnen Schüler erscheinen vor dem inneren Auge. Jeder hat seine eigene Geschichte. Jeder hat seine eigene Zukunft. Doch im Gegensatz zur Vergangenheit haben die Jugendlichen ihren noch kommenden Lebensweg selbst in der Hand. Und genau das ist der springende Punkt, die Quelle jeglicher schulischer Motivation. Es geht wohl also darum, diesen Mädchen und Jungen klarzumachen, dass ein Mensch der hier aufwächst nämlich gerade nicht allein schon durch die Tatsache, dass sein Viertel Aguablanca heißt, ein vorbestimmtes Schicksal hat. Es ist in diesem speziellen Umfeld zugegebenermaßen nicht leicht für ein Kind, sich differenzierter Perspektiven gewahr zu werden und Hoffnung zu schöpfen, wenn Aguablanca  in den nationalen Medien seit jeher nur aufgrund regelmäßiger Schießereien berühmt ist, wenn Kolumbien auf der Welt bisher hauptsächlich mit Kokain und Guerilla in die Schlagzeilen gekommen ist. Die Menschheit hat den Einwohnern Kolumbiens und insbesondere den Elendsvierteln wohl scheinbar schon seit langem ihren roten Stempel aufgedrückt und in die unterste Schublade verschoben. Woher sollte ein Schüler aus dem berüchtigten Aguablanca also die Motivation und den Ehrgeiz nehmen, Englisch zu lernen, wenn er von vornherein weiß, dass  seine gesamte Umgebung schon ein Urteil über ihn gefällt hat, an welches er vielleicht schon selbst glaubt?
Doch jetzt stelle man sich vor, dass es da eine Schule in Aguablanca gibt, die an ihre Zöglinge glaubt und alles daran setzt, den Möglichkeitenhorizont der Kinder zu öffnen, mit den wenigen Mitteln die sie hat.
Und nun stelle man sich vor, dass sogar im fernen Deutschland, im schönen Herborn um genau zu sein, eine uneigennützige Organisation existiert, welcher die Schüler der „Providencia“ so stark am Herzen liegen, dass sie mit größter Selbstverständlichkeit diesen Jugendlichen unter allen Umständen vertrauensvoll und hilfsbereit zur Seite steht. Ein einfacher Verein, der sogar in regelmäßigen Abständen Menschen schickt, die ihr Wissen, ihre Erfahrungen teilen wollen und wahres Interesse zeigen. Sie kommen, um diesem Credo ein Gesicht zu geben. Sie kommen, weil sie und der gesamte Verein, den festen Glauben haben, dass ein Kind, dass in den Straßen von Aguablanca aufwächst, den gleichen Wert hat, wie sein Herborner Gegenstück auf dem Johanneum Gymnasium.

Allein diese Tatsache, dieses Gefühl, dass es dort draußen noch andere, aus Fleisch und Blut bestehende, Menschen gibt, die sich wirklich für die Lebenswege eines jeden Schüler der „Providencia“ interessieren, ist ein so oft verkannter, aber umso immenserer Gewinn. Es ist der Glaube an sich selbst, der daraus resultiert, der letztendlich in den Jugendlichen hängen bleibt, die Motivation in die eigene Zukunft zu investieren.

Unter dem vor Kurzem erneuerten und schlichten Willkommensschild „La Providencia“ schließt sich das große, grüne Tor langsam mit einem metallenem Klirren. Das Schuljahr ist vorbei und die großen Ferien haben begonnen. Auf der Straße schlendert eine ehemalige, frisch verabschiedete Schülerin unseres „colegios“ vorbei. Sie winkt kurz. Ihr wurde vor ein paar Tagen an der besten und begehrtesten Uni Calis ein Studienplatz angeboten…

Ach und übrigens… Wenn die Jugendlichen im kommenden Jahr wieder durch die weit geöffneten Torflügel in die „Providencia“ hineinströmen und der Unterricht mit 29-jähriger Routine beginnt, ist der Coca-Cola Weihnachtsmann schon lange wieder abgehängt und mit ihm sein Glaubensbekenntnis.

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1 Kommentar

  1. was eine schöne Reflektion! Als Caleña kann ich nur sagen AUF KEINEN FALL TROPFEN AUF HEIßEM STEIN! Die Änderungen sind sichtbar, diese Jugend sind das neue schöne Kolumbien, das Kolumbien des Tayrona Parks voller Menschen aus aller Welt die nicht mehr gehen wollen.

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