von Adrian

Ein ganzes Land befindet sich im „Stillstand“. Ein ganzes Land ist in Aufruhr.
Sind da wieder die altbekannten Gegensätze, die sich hier auftun?
Nein, ganz so einfach ist es diesmal nicht. Der Paro ist zwar in aller Munde,
aber aus jedem Munde wird er anders dargestellt.
Seine Geschichte scheint keinen wirklichen Anfang zu haben
und sein Ende ist auch noch nicht auszumachen.
Gleichzeitig erweist sich der Paro als ein so multikausales Phänomen,
sodass es nur sehr schwer bis unmöglich scheint eine klare Struktur
in die Angelegenheit zu bringen.
Allerdings kann man versuchen, das ganze Spektakel mit einem noch
viel größeren und tiefgreifenderem Problem zu erklären.
„La Corrupción“ schwebt wie eine große Wolke über Südamerika
und gerade auf Kolumbien wirft sie einen dunklen Schatten.
Lasst uns mit einem kleinen Beispiel beginnen.
In Cali wird eine Hauptverkehrsstraße aufgerissen und vollkommen erneuert.
Soweit so gut – denkt man. Doch letztens, genau aus diesem Grund im Stau stehend,
erzählt der Taxifahrer, dass genau dieser Streckenabschnitt vor einem Jahr
schon einmal vollkommen neu und perfekt hergerichtet worden war.
„Die Ingenieure brauchten wohl wieder Geld“, sagt er mit einem gequälten Lächeln
und schüttelt leicht den Kopf.
10 Minuten später rappelt ein Taxi durch eine Straße in Aguablanca,
die von Schlaglöchern nur so übersät ist – von Asphalt kann gar keine Rede sein.

Und wie Korruption im „Kleinen“ existiert, so existiert sie auch im Großen.
Tatsache ist, dass die Regierung von Kolumbien
in den letzten Jahren Freihandelsabkommen mit den umliegenden Ländern
und den Vereinigten Staaten geschlossen hat.
Dies hat auch zur Folge, dass mittlerweile stark subventionierte
und extrem preiswerte (vor allem) Lebensmittel nach Kolumbien
als eine der fruchtbarsten Regionen der Erde importiert werden
und damit gleichzeitig auf desaströse Weise die kolumbianische Landwirtschaft
und in Folge dessen große Teile der kolumbianischen Ökonomie lähmen.
Somit wird dem Land sein eigentlicher Reichtum, nämlich seine Früchte,
sein Kaffee, seine extrem fruchtbaren Anbaugebiete…, entzogen und wertlos gemacht.
Durch die Hintertür kommen jedoch zusätzlich,
gemeinsam mit den internationalen Verträgen, weitere tiefgreifende Veränderungen,
die den kolumbianischen Bauern das Leben heutzutage schwer bis unmöglich machen.
So wurde zum Beispiel festgelegt, dass in ganz Kolumbien nur noch bestimmtes,
genetisch verändertes Saatgut verwendet werden darf,
welches sozusagen urheberrechtlich geschützt ist.
Riesige Mengen von „natürlichem“ Reis werden beschlagnahmt,
in „Massengräber“ gekippt und zugeschüttet,
um die Welt vor dem „falschen Getreide“ zu „schützen“.
Indianerstämme, deren kulturelles Selbstverständnis sich auf die Aussaat
und die Erhaltung ihrer Ur-Maissorten beruft, geraten in die Bedrängnis der Behörden.
Das ganze ist auch finanziell gesehen ein Teufelskreis.
Jedes Jahr wird das Gen-Saatgut teurer und mit ihm der einzig wirksame Spezialdünger.
Bauern müssen ihr Land verkaufen, da sie ihre Kosten nicht mehr
decken können und die Low-Price-Konkurrenz aus dem Ausland die heimischen Produkte wettbewerbsunfähig  macht.
Und während die Wirtschaft auf diese Weise schon angeschlagen ist,
so verstärken die steigenden Treibstoffpreise die angespannte Situation nur
noch zusätzlich und das, obwohl Kolumbien der viertgrößte Produzent
von Erdöl in ganz Südamerika ist.
Die Menschen gehen auf die Straße, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Kolumbien lebt von der Landwirtschaft und so beschränkt sich der Paro
nicht „nur“ auf die Bauern sondern betrifft gleichermaßen den riesigen Industriezweig der Lebensmittelproduktion.
Zulieferunternehmen und LKW-Fahrer bilden somit einen weiteren Kern der Demonstranten.
Sie haben gleichzeitig mit den hohen Ölpreisen zu kämpfen.
Aus diesem Grund haben sich auch die Taxifahrer dem Paro angeschlossen.
Am Ende kommen andere Berufsgruppen und Studenten hinzu,
welche die Gunst der Stunde nutzen, und unterstützen die Bewegung, um dem Ruf nach Veränderung Nachdruck zu verleihen, sowie ihre Verbundenheit
mit den Streikenden zu bekunden.
Und all diese Kolumbianer stellen im Grunde genommen die gleiche Frage:
„Wenn nicht in unserem Interesse,
in wessen Interesse handeln unsere Vertreter in Bogotá dann?“
Hier erkennt man wieder das tiefe, fast schon verzweifelte Misstrauen
des Volkes dem Staat und vor allem dem Präsidenten gegenüber.
Trotz aller Kontraste und Unterschiede, die so charakteristisch
für die Kolumbianer und ihr Land sind, kommt man doch bei jedem Gespräch
den Paro betreffend schnell auf ein vernichtendes Urteil für den Präsidenten.
Und während Juan Manuel Santos in anderen Ländern als Nobelpreisträger gehandelt wird,
pfeifen ihn die Caleños bei seinem letzten Stadtbesuch
anlässlich der Worldgames „einstimmig“ aus.

Fest steht, dass es nicht so weiter gehen kann.
ESMAD, die supergepanzerte, speziell für Aufstände ausgebildete Sondereinheit der Polizei
darf nicht mehr auf brandsätzewerfende Demonstranten losrennen.
Protestierende Lkw-Fahrer dürfen nicht mehr über Wochen hinweg
die wichtigen Überlandstraßen blockieren, sodass die Infrastruktur lahmgelegt wird
und sich der Kartoffelpreis über Nacht vervierfacht.
Änderung ist nicht in Sicht.
Nicht, solange der Präsident in seiner Starre verharrt.
Nicht, solange das kolumbianische Volk den Eindruck hat, von seiner Regierung
vernachlässigt und betrogen zu werden.
Im Moment hat sich die Situation ein wenig entspannt,
aber das ist nur die Ruhe vor dem nächsten Ausbruch und es scheint fast sicher,
dass jener mit noch größerer Wucht einschlagen wird.

Es muss also eine nachhaltige Lösung gefunden werden,
um das eigentliche Kernproblem, nämlich die Korruption, zu bekämpfen.
Ein Ansatz liegt bei der Erziehung.
Die Menschen müssen wieder die Hoffnung verspüren, sich auf die Werte ihrer Mitmenschen verlassen zu können.
Vergangene Woche wurde in „La Providencia“ das alljährliche Sportfest veranstaltet.
Die 11. Klasse organisierte auf dem Gelände der Schule liebevoll einen riesigen Sportparcours,
vom Sackhüpfen bis zum Fußballturnier.
Den ganzen Tag über herrschte eine eindrucksvolle Atmosphäre
aus Heiterkeit und Tatendrang über dem Colegio.
Alle Schüler waren mit absolutem Einsatz bei der Sache,
während jeder seinen Teil dazu beitrug, dass man schlussendlich
von einem wahren Fest sprechen konnte.
Wo werden Ideale, wie Verantwortungsbewusstsein und soziales Miteinander schöner vorgelebt,
als in der Schülerschaft von La Providencia?
Hier scheint es so einfach, ein funktionierendes System aus gegenseitigem Respekt
und moralischem Handeln herzustellen, bei dem jeder  das Gefühl verspürt,
ein Gewinner zu sein.
Und, was im Kleinen funktioniert, kann auch im Großen funktionieren.
„Ich weiß, dass es auch anders geht.“
Diese Botschaft tragen die Kinder mit sich,
wenn sie jeden Mittag die Schule verlassen und auf den harten Asphalt treten.
Die Chance für sie selbst, für ihre Familien und letztendlich für ganz Kolumbien.

 

El Día Deportivo