Britta

Als wir uns morgens mit Octavio treffen, weiß ich nicht, was mich erwarten wird. Ein Besuch im Armenviertel Siloé steht an. Trotz großer Gruppe und Guide ist mir etwas mulmig zu Mute.
Das Viertel am Rande von Cali, welches in den Berggipfeln hoch über unserer Wohnung thront, wird nur von wenigen der Menschen, mit denen wir im alltäglichen Leben verkehren, betreten. Octavio wohnt nun schon mehrere Jahrzehnte in Cali und hat noch keinen Fuß zwischen die heruntergekommenen Hütten des Slums gesetzt.
Als wir eine Brücke überqueren, die das Viertel von den sicheren Fassaden des anschließenden Wohngebietes abgrenzt, bietet der am Boden liegenden Bettler und das halb verhungerte Kätzchen einen ersten Einblick in das Leben Siloés. Doch dieses Bild ist, wie ich feststellen muss, noch harmlos. Als wir uns hoch oben – immer noch weit entfernt von dem riesigen Leuchtstern der über Siloé thront und nachts ganz Cali ein Mahnmal ist, Mitten in Siloé wiederfinden, bin ich einfach nur noch geschockt.
Ich weiß nicht, ob man es überhaupt noch Hütten oder Baracken nennen kann, was uns hier umgibt. Heruntergekommene Blechfassaden, zerfetzte Klamotten, bloße Füße. Der Geruch nach Staub und Müll. Eine Blechhütte neben der anderen und abgehungerte Pferde, die sich um das letzte Stück Grün streiten. Und doch machen die Menschen einen fröhlichen Eindruck. Als wir uns auf einen Fußballplatz begeben, hat sich dort eine bunte Menschenmenge jeglichen Alters versammelt und tauscht die neusten Dorfgeschichten aus – so kommt es mir vor. Dabei vergesse ich , dass Siloé zwischen 60.000 und 120.000 Einwohner hat – so genau weiß das keiner, denn die Menschen hier sind nicht registriert. Im Gegensatz zum Armenviertel Aguablanca ist das Viertel Siloé schon stolze 90 Jahre alt. Seit dem leben Menschen hier ihr Leben in Armut ohne Aussicht auf Besserung.
Auf dem Rückweg kommen wir an drei Kindern vorbei, die mit einem Seil spielen. Fröhlich lachend führen sie uns ihre Kunststücke vor. Doch ich kann die Löcher in den Klamotten und die faulen Zähne nicht übersehen. Als wir wieder unten in Cali ankommen und in einer Mall zu Mittag essen, kommen mir die piekfeinen Bodenfließen plötzlich unwirklich vor. „Siloé gehört zu Cali und doch ist es außen vor. Die Menschen dort leben ihr eigenes Leben, werden vom Rest der Stadt ausgegrenzt und leben ein Leben in Elend. Niemand kümmert sich um das Viertel, das von Tag zu Tag ärmer und chaotischer wird. Siloé ist eine tikkende Zeitbombe.“, erzählt der Guide.
Ich frage ihn nach dem Unterschied zu unserem Armenviertel, Aguablanca. Er erklärt mir, dass man sich um Aguablanca gekümmert hat, Straßen gebaut hat, Schulen errichtet hat und Häuser saniert hat. Doch um Siloé kümmert sich keiner. Die Lage in den Bergen, die steilen Hänge an den Bergen erschweren ein Eingreifen. Der Stadtteil vegetiert vor sich hin, die Menschen müssen mit Lebensbedingungen kämpfen, die in Deutschland unvorstellbar sind. Allein, dass es im gesamten Viertel keine befestigten Straßen gibt, lässt das Viertel auf mich schon heruntergekommen erscheinen. Doch das wirklich Schlimme sind die Hütten, in denen die Familien wie im Mittelalter zusammengepfercht wohnen und täglich um ihre Nahrung kämpfen.
Und auch wenn viele der Menschen aus Aguablanca nicht in ganz so schlimmen Bedingungen wie in Siloé leben – wenn ich von den Hauptstraßen aus, die wir morgens auf dem Weg zur Schule im Auto der Direktorin passieren, in die vielen Seitenstraßen lunse, dann bietet sich mir ein Bild, das sich nicht von Siloé unterscheidet. Doch meistens schotten einigermaßen stabile Häuser den Blick ab. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt wissen will, was sich dahinter verbirgt.
Schon so schnürt sich mir die Kehle zu, wenn ich mit den Kleinen aus der Vorklasse zusammen bin, und mir immer mehr bewusst wird, dass sie eben doch aus armen Familien stammen.
Sie verstehen nicht, wenn ich ihnen sage, dass es unerzogen ist, sich auf den Fußboden zu setzen, mitten im Unterricht rumzulaufen, oder dem Sitznachbarn fünf Minuten lang das eigene Heft über den Kopf zu ziehen. Als ich Juan sage, er soll sich entschuldigen, guckt er mich nur mit großen, verlegenen Augen an. Ich erkläre ihm, dass man respektvoll mit den eigenen Mitmenschen umgehen muss, und dass sein Sitznachbar deswegen nun eine Entschuldigung verdient hat.
„Ich weiß nicht, wie man sich entschuldigt.“, sagt er mir.
Zuerst lache ich, denn natürlich ist das erste, was man denkt, wenn man aus einem wohlerzogenen, behüteten Haus stammt, dass der kleine Junge nach faulen Ausreden sucht. Doch nach einigen Minuten weiterer Diskussion wird mir bewusst, dass dem eben nicht so ist. Juan weiß wirklich nicht, wie man sich entschuldigt. Weil er es daheim nicht beigebracht bekommen hat. Viele der Kinder sind den ganzen Tag über alleine, wissen gar nicht, was Normen und Regeln sind, oder sie bekommen einfach genau dieses harte, schlecht erzogene Verhalten vorgelebt.
Als die Schulleiterin sich mit einer Mutter trifft, deren Sohn die ganze Woche massiv den Unterricht gestört hat, sagt diese nur: „Es tut mir leid. Ich werde ihn bestrafen. Ich werde ihn die ganze Nacht alleine in einem dunkeln Raum einsperren.“ Bekommt der kleine Junge damit beigebracht, was ein respektvoller, liebevoller Umgang ist?
„Es tut mir leid.“, sage ich zu Juan.
„Es tut mir leid.“, wiederholt er mit leiser Stimme und einem tieftraurigen.

Genau so beeindruckend ist für mich der Sporttag in der Schule, den man auf der einen Seite wohl am besten, auf der anderen Seite aber auch ganz und gar nicht mit den Bundesjugendspielen in Deutschland vergleichen kann. Von der Abschlussklasse geplant, werden die verschiedenen Klassen durch Stationen geführt. 500 Schüler veranstalten auf engstem Raum, in kleinen Klassenzimmern ein Sportfest. Keine neu sanierte Tartanbahn, kein riesiges, grünes Fußballfeld, keine Hürden, keine Speere. Und doch hatten die Kinder während dieses sportlichen Anlasses unter einfachsten Bedingungen mehr Spaß als ich es in Deutschland jemals miterlebt habe. Seilspringen, Sackhüpfen, Tanzen, Wettrennen auf der Straße – das sind die Disziplinen, die angeboten werden. Mit 80 Kindern im Alter von 5 bis 7 Jahren in einem Klassensaal Salsa und Bachata zu tanzen ist wirklich eine Erfahrung, die ich nicht missen könnte. Dieser Tag hat mir gezeigt, dass man wirklich nicht viel braucht, um glücklich zu sein.