Eigentlich wollte ich hier über die Ustedes-Form schreiben, die mich im südamerikanischen Spanisch anfangs so verwirrt hat. Aber es gibt für mich zurzeit ein anderes Thema (und zufälligerweise beginnt es auch mit „U“)

…Ungleichheit/Unterschiede/Ungerechtigkeit

 Meinen fleißigen Bloglesern ist es ja auch nicht verborgen geblieben, dass Santiago del Estero kein Slum ist. Klar, auf dem Campo, wo die Jungs der Residencia herkommen, gibt es wenig: Blechhütten, Straßen, die eher einem Feldweg ähneln, Häuser ohne Strom- und Wasseranschluss, Bildungsnotstand. Im Stadtzentrum Santiagos das Gegenteil mit verglasten Hochhäusern, blitzenden Schaufenstern, gepflasterten Straßen. Eine mittelgroße Stadt, gut ausgebaut. Es gibt Eisdielen, Museen, Kindergärten, Privatschulen. Wer nur das Zentrum von Santiago kennt, fragt sich sicher, wie hier soziale Ungleichheit herrschen kann.

Die andere Seite…

Tja, so einfach ist es dann doch wieder nicht. Weiter draußen gibt es die anderen Stadtviertel: 8 de abril, La Católica, um nur ein paar „Barrios“ (Viertel) der anderen Seite von Santiago zu nennen. Aus diesen Vierteln kommen auch die Jugendlichen von „Tejiendo Lazos“, unsere Abendaktivitäten mit den Workshops. Sie erzählen von Drogenproblemen und Waffenmissbrauch und vorstellen kann ich mir das schwer. Denn diese Viertel habe ich noch nie besucht, zum einen weil sie so weit abseits liegen und zum anderen weil‘s auch relativ gefährlich ist. Als Europäer sollte man da alleine nicht hingehen, schon gar nicht als Frau.

In den restlichen Teilen der Stadt kann ich mich hingegen frei bewegen. Um das Oratorio herum siedeln sich gerade immer mehr gut betuchte Familien an. Ein paar Häuserblocks weiter gibt es also Villen (und wenn ich Villen sage, dann meine ich das auch!) mit großzügigen Einfahrten und gepflegten Vorgärten. Außerdem gibt es abgesperrte Communities, die eher einem Berliner Plattenbau ähneln, aber von einem Security-Mann bewacht werden. Wie fühlen sich die Jugendlichen, wenn sie durch diese fast schon perfekte Einfamilienhaus-Welt auf den Weg ins Oratorio sind?

Ein Erlebnis aus der Colonia

Erst kürzlich, in der Colonia (unsrer Ferienfreizeit, siehe letzter Blogeintrag), gab es einen Moment, in dem diese Unterschiede aufeinanderprallten: Wir hatten gerade die Colonia juvenil, also die Abendaktivitäten für die Älteren beendet und nur noch unsere Reflexion des Tages mit allen Volontären vor uns, als ein Mann im Portal stand.

„Joan“

Es war ein Nachbar, der nicht wegen einer Süßigkeiten- oder Geldspende gekommen war (was öfters in der Ferienfreizeit vorgekommen ist), sondern um sich zu beschweren. Welche Ausdrücke er benutzt hat – egal. So viel sei gesagt: Der Nachbar, nennen wir ihn mal Joan, beschwert sich lautstark darüber, dass die Jugendlichen aus den ärmeren Stadtvierteln Santiagos durch sein Viertel laufen und „überall Müll hinwerfen oder Wertsachen beschädigen Leider hatte Joan Recht: Eine Gruppe von Jugendlichen hatte mit Steinen herumgeblödelt und dadurch tatsächlich den Seitenspiegel seines Autos getroffen. Später stellte sich auch heraus wer es genau war und dass es laut den Jugendlichen keine böse Absicht beinhaltete.

Unseren Nachbarn war das aber egal, er wollte auf jeden Fall zur Polizei und auch zu diversen Fernsehsendern bzw. Zeitungen rennen mit der Bitte, das Oratorio zu schließen. Weil aus seiner Sicht durch die Arbeit unseres Projekts Kinder und Jugendliche aus den Barrios in sein Stadtviertel kommen würden, was ihnen wahrscheinlich normalerweise nie einfallen würde.

Unverständnis für Ungerechtigkeit

In diesem Moment, der für die meisten Animadores in der Colonia vielleicht einer der schwersten war, ergab sich für mich das ganze Ausmaß der Ungerechtigkeit. Nicht nur die materielle Ungleichheit spielt hier eine Rolle, dass es eben die marmorgefliesten Hauseinfahrten neben den Wellblechdächern gibt, sondern auch eine gewisse Inakzeptanz und das Verschließen der Augen vor der Realität. Nur weil Joan normalerweise unsere Jugendlichen nicht in seinem Stadtviertel sieht, existiert für ihn das Problem von gefährlichen Vierteln, von Armut, vielleicht nicht. Und wenn sie dann tatsächlich mal auftauchen, werden sie eher als zweite Klasse Mensch gesehen.

Natürlich ist Joan nicht ein Einzelfall und es gibt viele Menschen im Umfeld des Oratorios oder auch in der Stadt selbst, die Probleme damit haben, die Ungerechtigkeit selbst mit eigenen Augen vor ihrer Haustür zu sehen. Aber sollte das ein Grund sein, ein Projekt, dass versucht mit Bildung und Erziehung dem entgegenzuwirken, zu schließen? Für jeden für uns aus dem Oratorio und auch für die Mehrheit der Menschen außerhalb steht das nicht zur Debatte. Wir lieben unsere Arbeit, dass was wir hier tun. Und wir wissen: Erst auf einem längeren Zeitraum gesehen, sind die Effekte sichtbar. Den Schritt in die richtige Richtung tun, den Weg im Auge behalten. Einfach Anfangen und Weitermachen, egal wie viele Steine in den Weg gelegt werden.

Schlussendlich war Joan doch nur ein Kieselstein

…den zur Anzeige kam es nie. Der Seitenspiegel wurde repariert, mit den Jugendlichen gesprochen und wir Animadores haben ab diesem Tag die Kids in die Barrios nach Hause begleitet. An die Medien hat sich Joan bis heute nicht gewandt, für uns wäre das aber auch kein Drama gewesen, wie ein Salesianer aus dem Projekt bemerkt hat: „Wir sind eine soziale Einrichtung und bei uns läuft nie alles reibungslos ab. Dann kommt es eben zu Problemen. Wenn die Probleme dann im Fernsehen laufen, heißt das doch nur, dass wir unsere Arbeit gut machen“

Mal was anderes

Heute also nur ein Buchstabe. Ich denke, dass dieses Thema so gut wie bei jedem und jeder im Freiwilligenjahr auftaucht. Vielleicht in einer anderen Art und Weise und auch vielleicht nicht mit der gleichen Intensität. Beim nächsten Mal die anderen Buchstaben. Machts gut und bleibt gesund!

Eure Martha