Mein verfrühter Abschied von Santiago del Estero

Dass wir unsere Projekte verlassen müssen, darüber wisst ihr mittlerweile durch meine vorherigen Beiträge oder durch die Blogs der anderen Volontäre Bescheid. Aber frühzeitig das Jahr zu beenden, ist uns (damit kann ich sicher für alle Volontäre sprechen) alles andere als leichtgefallen. Hier also ein paar veranschaulichende Zeilen:

Wer hätte das gedacht? Wegen einer infektiösen organischen Struktur (laut Wikipedia, auch allgemein bekannt als Virus) steht die Welt Kopf. Auch wenn anfangs das Coronavirus keiner ernst genommen hat – oder ernst nehmen wollte-, zwingt es uns seit kurzem mehr auf, als die Erkrankung einfach nur wahrzunehmen oder in den Nachrichten darüber zu erfahren. Das gesamte aktuelle Leben richtet sich auf die Vermeidung neuer Infektionen und den daraus resultierenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems aus. Und das muss man sich mal geben: Das GESAMTE Leben. In Deutschland war das auf zumindest sehr schnell der Fall und noch immer gelten Ausgangsbeschränkungen und das Herunterfahren des öffentlichen Lebens.

It’s Corona-Time

In Santiago del Estero kam das ganze ehrlich gesagt schleppend an. Im Fernsehen flackerte schon immer mal wieder die Situation in Europa über die Bildschirme, aber Sorgen hatte sich niemand so wirklich gemacht. Über die üblichen Internethits wie Memes oder Coronasongs wurde gelächelt und genügend junge Leute gingen erst recht feiern.

Bis dann irgendwann die Worte „Ausgangsperre“ und „Grenzschließung“ fielen und erste „Krankheitsfälle“, die mehr auf Panikmache als auf Fakten beruhten, bekannt wurden. Da gingen auch die sonst so tiefenentspannten Santiagueños zur Nervosität über und deckten sich (eben genau wie die Deutschen) mit haufenweise Klopapier, Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken und anderen Hamsterkäufen ein. Außerdem wurden die Schulen und Universitäten nacheinander geschlossen (zu dieser Zeit für zwei Wochen geplant, danach bis Ostern verlängert), was für die Jungs die Rückkehr zu ihren Familien bedeutete. Und das erst nach zwei Wochen Schule und Oratorio. Einige Tage später wurden auch die Gottesdienste und die Aktivitäten der Jugendbewegungen bis auf weiteres ausgesetzt, was zur Folge hatte, dass im Oratorio gar nichts mehr los war und selbst die Benutzung der Sportanlagen für Nachbarn oder Jugendliche untersagt wurde.

Zu diesem Zeitpunkt stellten Simon und ich uns darauf ein, die nächste Zeit entspannt im Oratorio zu verbringen. Und es war – trotz der Einschränkungen – schon einiges geplant: Das dritte Zimmer in unsrer Wohnung war noch immer nicht ganz fertig (Wandstreichen braucht viel Zeit, unsere eigenen Zimmer zu gestalten hatte ja schließlich auch einige Wochen gedauert), einige Serien auf einer namhaften Streamingplattform sollten beendet werden, wir wollten wieder mehr für die Salesianer kochen (in der Colonia waren wir kaum dazu gekommen), ich wollte die Zeit so viel wie möglich mit Backen verbringen, mich für um mein Studium kümmern und und und. Wir rechneten also mit zwei Wochen, die wir einfach absitzen mussten, um danach wieder motiviert und mit einer Menge Energie in die Arbeit starten zu können.

Verspekuliert

Einschließlich dem 15. März, einem Sonntag, verlief alles vollkommen normal. Zwar wurde nach dem Abendessen am runden Holztischchen der Salesianer die Schließung des Oratorios beschlossen und festgelegt, was in den kommenden Tagen zu anstehen würde, aber alles ging wieder mit der altbekannten Ruhe über die Bühne. Als dann am Montag, einen Tag, später das Gerücht unter den Volontären umging, dass alle „weltwärts“-Freiwilligen nach Hause geschickt werden sollten, wollte ich es erst nicht glauben. Ja klar, zurück nach Deutschland, mitten im Freiwilligenjahr. Sicher nicht. Ungläubig hörten wir von anderen Freiwilligen, die angeblich schon ihre Flüge gebucht hatten.

„Kann sicher nicht sein…“

…auf uns trifft das sicher nicht zu. Das stand für uns zu 100% fest. Als dann am nächsten Tag die offizielle Bestätigung eintraf, dass alle Freiwilligen die Rückreise nach Deutschland antreten sollten, verstand ich zum ersten Mal in meinem Leben was es bedeutet, wenn die Welt aus den Angeln gehoben wird. Gerissen fände ich fast passender. Denn ich konnte es einfach nicht glauben, nicht verarbeiten. Einfach so gehen zu müssen. Alles stehen und liegen zu lassen. Und dabei stellte ich mir immer wieder die Frage: Warum zurück? Warum, wenn es im Umkreis von mehreren hunderten Kilometern keinen einzigen Fall gibt? Warum zurück, wenn der Flugverkehr nach Europa schon eingestellt ist? Mittlerweile macht es für mich schon ein wenig Sinn, die weltweite Lage eskaliert einfach. Aber in diesem Moment, in diesen Stunden war es einfach weit mehr als Unverständnis.

Das half aber alles nichts, es wurde viel telefoniert, geschrieben, im Internet nach Möglichkeiten recherchiert nach Deutschland zu kommen. Nach einem Hin und Her, dass auch der angespannten Lage der öffentlichen Verkehrsmittel geschuldet war, stand die Entscheidung am Donnerstagmorgen: Simon und ich sollten am Abend den letzten Bus nach Buenos Aires nehmen und auf einen Rückholflug der Bundesregierung warten.

Das allerschwerste an diesem Tag war gar nicht die Koffer zu packen, das ging recht schnell. Für ein Jahr hat man gar nicht so viele Sachen dabei und da mein Zimmer auch übersichtlich war, hatte ich mein Zeug innerhalb von eineinhalb Stunden zusammengesucht und verstaut. Was mir wirklich unglaublich schwerfiel: Alles zurückzulassen.

Home sweet home

Das Oratorio selbst, dieses Haus, das für mich schon vom ersten Moment an „Zuhause“ bedeutet hat. Mit den roten Backsteinen und Metalljalousien, dem großen dunkelgrün gestrichenen Tor, dem überdachten Sportplatz, die kleine Kirche, die durch ihre Schlichtheit für mich die Allerschönste war, die ich hier in Argentinien gesehen hatte. All das war für mich alltäglich geworden. Es fühlte sich so an, als wäre ich schon immer hier gewesen. Als wäre ich schon immer unter den riesigen Blätterdächern der Bäume im Innenhof gesessen und hätte mit unserm Hausmeister und ein paar Jungs Mate getrunken. Hier hatten wir schon so viel erlebt: Die Ferienfreizeit mit allen Höhen und Tiefen, die Abende mit den Jugendlichen von Tejiendo Lazos, Basket- und Volleyballpartien mit den Jungs und den Leuten der MJS, Feiertage mit den Salesianern. Wie kann man nur so schnell einen Ort in sein Herz schließen?

Unsere Jungs

Wenn ich am vorangegangenen Freitag vor der ganzen Schulpausierung gewusst hätte, dass das der letzte Moment ist, in dem wir unsere Jungs sehen, hätte ich mich von jedem mindestens dreimal verabschiedet und genauso oft ganz fest gedrückt. Auch wenn die Anfangszeit mit den Jungs echt nicht immer einfach war und ein Frühstück schon mal sehr still und mit nicht mehr als „Buenos días, como estás?“ verlief, habe ich sie ins Herz geschlossen.

Besonders in den ersten zwei Schulwochen jetzt nach den Ferien lief es super gut: Wir waren für die Jungs genau das, was ich mir immer gewünscht hatte. Wir bekamen die Gratwanderung zwischen Kumpel, große/r Bruder/Schwester und Erzieher super hin und waren ein eingespieltes Team.

Und ich werde sie alle vermissen: Die Scherzkekse, genauso wie die Stillen. Ihre überlaute Wasch- und Putzmusik, die am Vormittag durch das ganze Projekt schalt. Ihr „Ayy Changooo“ und „Como estás paisa“ (Verlgeichbar mit: Was geht, Alter). Ihr Mitfiebern beim Fußballschauen, ihre Ausgelassenheit und Ehrgeiz beim Fußballspielen. Auch das typische Herausreden („Was, ich hab ihn gefoult? Nein, nein, nein, der ist von alleine gefallen“). Und die kleinen Momente: Ein Lächeln, ein Zuzwinkern, ein Blick.

Das schlimmste dabei ist, dass wir uns ausgerechnet von den Jungs gar nicht verabschieden konnten. Als die Nachricht von der Rückkehr nach Deutschland eintraf, waren sie schon in ihren mehreren Stunden entfernten Häusern bei ihren Familien. Simon und ich sind aber schon am Suchen nach einem kleinen Ersatz.

Die Menschen

Home is where your heart is – El hogar es donde reside el corazón – Dahoam is do, wo s’Herz is

Die letzten Stunden vor unserer Abfahrt haben wir noch genutzt, um mit einigen der wichtigsten Menschen, die uns in diesem Jahr begegnet sind und so viel mit uns geteilt haben, ein wenig Zeit zu verbringen. Wäre nicht der Hauch von Abschiedsstimmung in der Luft gelegen, wäre es ein ganz normaler Nachmittag mit Mate trinken und Philosophieren über Gott und und die Welt geworden. Als dann Simon seine Gitarre rausgeholt hat und wir alle miteinander das Don-Bosco-Lied auf Deutsch und Spanisch gesungen haben, kam mir der Gedanke, dass mir auch ohne Corona der Abschied schwergefallen wäre.

Hört sich jetzt sehr dramatisch an, aber mir tats echt weh, zu realisieren, dass mit der Fahrt nach Buenos Aires alles vorbei sein wird. Die Salesianer, unsere Freunde von der MJS, die Mitarbeiter im Projekt, sie alle werde ich jetzt für eine lange Zeit nicht mehr sehen. Es fühlte sich an, als würde ich einen Teil von mir in Santiago lassen. Als würde mir etwas fehlen, ganz tief drin. Ein Baustein, der mein Leben in den letzten Monaten definiert hat.

Nennt mich Wahrsagerin…

Interessanterweise habe ich einige Wochen vor der ganzen Coronakrise mal überlegt, wie es denn wäre, jetzt einfach heimzumüssen. Nicht weil ich heimwollte, sondern da uns beim Zwischenseminar gesagt wurde, dass die Freiwilligen sich frühzeitig über den Abschied Gedanken machen und sich gut drauf vorbereiten sollten. Mein Gedankengang reichte gerade so bis „Abschiedsfeiern“ und „Kofferpacken“, denn an alles andere, was danach kommen sollte, daran wollte ich echt nicht denken.

Dementsprechend schlecht fühlte ich mich, als wir mit unserem ganzen Zeug aus der Wohnung stolperten und das Oratorio zum letzten Mal durch das große Eingangstor verließen. Zum letzten Mal machten wir uns auf den Weg zum Terminal, im weißen Pick-up an der Costa Nera, dem „Strand“ Santiagos, vorbei bei Sonnenuntergang. Das letzte nervige Cumbia-Lied, der rote Himmel, die untergehende Sonne, die das restliche Tageslicht auf die Häuserfassaden wirft. Einmal noch an der gewohnten Straßenkreuzung halten. Dann sitzen wir auch schon im Bus und erhaschen einen letzten Blick auf Santiago, bevor alles in der Dunkelheit verschwindet.

Ein letztes Mal Santiago…
…ein letztes Mal Sonnenuntergang

Willkommen in Buenos Aires, willkommen in der Quarantäne

Das alles ist jetzt schon fast zwei Wochen her und eigentlich sollte ich schon lange in Deutschland sein. Da aber auch ca. 1 000 andere deutsche Staatsbürger die Reise zurück antreten müssen und der Luftverkehr nach Europa, genauso wie die Grenzen zu allen Nachbarländern, gesperrt ist, sind wir von der Rückholaktion der Bundesregierung abhängig, die zurzeit weltweit am Laufen ist.

Simon hat heute (1.4.2020, hoffentlich kein Aprilscherz) einen Platz im Flugzeug mit Maria Bauer, einer anderen Volontärin, bekommen. Der Rest, also wir (die zwei Volos aus San Juan, Jakob und Luis, und ich), wurde zum Weiterwarten verdammt. Das heißt bis auf weiteres sitzen wir in einem Don-Bosco-Haus in Buenos Aires und warten auf bessere Zeiten. Aufgrund der auch hier herrschenden Ausgangssperre ist auch unsere Zeit durch Filme schauen, Lesen und Kochen definiert. Deshalb auch der längere Blogeintrag, ihr mögt es mir verzeihen.

Mein Abschiedsblog war das aber noch lange nicht. Denn auch wenn meine Zeit hier in Argentinien schon in wenigen Tagen vorbei ist, bleibt noch so viel, was ich euch erzählen will. Außerdem werden die paar Zeilen Santiago und dem Oratorio wirklich nicht gerecht und die meisten von euch klagen gerade wahrscheinlich nicht über ein Zeitproblem. 😉 Also bleibt gespannt und gesund,

Eure Martha