Ein Déjà-vu kommt selten allein

Um ein paar Monate zurück versetzt. So ungefähr habe ich mich in den letzten Wochen gefühlt. Mein verworrenes Raumzeitkontinuum liegt aber nicht an der Zeitverschiebung von vier Stunden nach Deutschland oder dass mir die berühmte santiagueñische Hitze auf den Geist schlägt (die Einwohner sind hier schon stolz auf ihre sommerlichen 50° und – laut Regionalzeitung – in der Liste der zehn heißesten Städte der Welt aufgeführt zu sein).

…wenn auch der Eiswürfel nichts hilft

Nein, das Gefühl, sich wieder in der stressigen Abiturzeit von vor sechs Monaten zu befinden, liegt am allgegenwärtigen Prüfungsstress im Oratorio aufgrund der letzten Wochen des Schuljahres. Das neigt sich nämlich mit mündlichen Prüfungen (für alle Jahrgänge) zum Ende und bedeutet für die Jungs einen Haufen Arbeit.

Rauchende Köpfe

In den sogenannten „Coloquios“ wird eine ganze Klasse oder eine einzelne Gruppe von ca. sechs Schülern in mindestens zwei Fächern gleichzeitig geprüft. Und weil eine Prüfung selbst mit argentinischer Gemütlichkeit einen gewissen Stressfaktor mit sich bringt, herrscht seit vergangenem Montag eifriges Üben in der Lernzeit am Vormittag, wo uns vor ein paar Wochen noch Motivationslosigkeit entgegenschlug.

Chemie auf Spanisch. Juhu.

Zwar war es schon mal ganz gut, nicht immer auf den Beginn der Lernzeit bzw. Ende der Pause hinweisen zu müssen, da die Jungs am liebsten die zwei Stunden am Vormittag auf den ganzen Tag ausgeweitet hätten. Jedoch hatte die allgemeine Nervosität aufgrund der jährlichen Prüfungen den Vorteil, dass mein Mitvolontär Simon und ich in unserem Job als deutscher Volontär, der des großem Mysteriums der englischen Sprache mächtig ist und dieses Wissen den wissbegierigen Schülern weitergeben kann, aufgehen konnten.

„Du kannst doch Englisch?!“

Das war anfangs gar nicht so einfach, denn in den letzten paar Monaten hatte ich mich vor allem von Spanisch vereinnahmen lassen. Reggaeton (spanische Popmusik), argentinische Youtuber und natürlich auch mein Alltagsspanisch haben mich weit weg von grammatikalisch korrekten Englischsätzen oder geschweige denn einem großen Vokabelwortschatz gebracht. So war es für mich am Anfang eher ein holpriges Unterfangen. Jedoch kam mein Schulenglisch unter den skeptischen Blicken der Jungs (ich glaube, die waren sich auch nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt Englisch kann) immer mehr zum Vorschein. Worüber ich echt erleichtert war.

Das Horrorfach

Zwar haben wir neben Englisch die Jungs auch in Physik, Chemie, Geographie, Politik und Kultur ausgefragt, aber am meisten hat es den Jungs eben vor der einzigen Fremdsprache gegraust. Englisch ist hier in Argentinien generell das Problemfach vieler Schüler. Der Fremdsprachenunterricht findet erst in den letzten fünf Jahren statt, weshalb die Schüler auch nicht mehr als die Grundlagen beherrschen. Außerdem ist die Aussprache für Spanischsprechende nicht wirklich einfach, denn plötzlich wird das „h“ ausgesprochen und der Lehrer erzählt noch etwas von „th“ (Tiäjtsch).

Wer „richtig“ Englisch sprechen will, der geht auf eine private Sprachschule, die für die wenigsten Jugendlichen erschwinglich ist. Im nächsten Schuljahr wollen wir mal einen Englischworkshop für die Jungs aus der Residencia anbieten, bis dahin muss jedoch das Helfen am Vormittag reichen.

Also bestand unsere Aufgabe hauptsächlich darin den Jungs die richtige Aussprache für ihren Vortrag beizubringen und noch schnell ein paar Jahreszahlen zu wiederholen. Einfach möglichst viel in kurzer Zeit abzuarbeiten.

Wo bleibt die Gemütlichkeit?

Denn viel Vorbereitungszeit blieb wirklich nicht. Wie es halt manchmal so ist, werden die Aufgaben erst dann erledigt, wenn es wirklich brennt. Und bei vielen Jungs herrschte Großbrand. Denn es kann schon sein, dass der typische argentinische Schüler am Tag vor der Präsentation beginnt, seinen Text auf Englisch zu übersetzen. Alles ganz entspannt.

Mit der argentinischen Ruhe war es dann aber schließlich vorbei, als das Ende der Lernzeit angekündigt wurde. Und so wurde fleißig (und auch ein bisschen schneller, das Mittagessen war ja nicht mehr weit) weitergelernt, -übersetzt und mit-dem-Lernzettel-im-Hof-spazieren-gegangen.

Funkstille

Damit ein halbwegs erfolgreiches Lernklima für den Rest dieses Schuljahres erhalten bleibt, gabs ab Mittwoch eine Maßnahme, auf die die Jungs gerne verzichtet hätten. Die Handys würden ab diesem Tag nicht nur für die zwei Stunden am Vormittag, sondern für den ganzen Tag eingesammelt werden. Nach dem Abendessen gäbe es dann für eine Stunde die Möglichkeit, das Handy abzuholen und an Mama oder Freundin (bevorzugt von den Jungs: Letztere 😉) eine Nachricht zu tippen, bevor die elektronischen Begleiter dann wieder eingesammelt werden würden.

Soweit so gut. Nach dem erwarteten Murren und einigen Verhandlungsversuchen („wenn wirs schon vor den Abendessen bekommen würden…“), sahen die Jungs ein, dass Widerstand mehr als zwecklos war. Mehr oder weniger verständnisvoll fügten sie sich also der neuen Regel. Für das Oratorio bedeutete dieses einstweilige Handyverbot eine ziemliche Aufwertung: Da die Jungs nicht vom Handy eingenommen wurden, erledigten sie die Aufgaben schneller und hatten daher am Abend Zeit (und Lust, denn ohne Unterhaltung via Youtube und sozialen Netzwerken ist es schon etwas langweiliger als sonst), bei den Workshops und Sportangeboten teilzunehmen.

Zwischen Knüpfanleitung…

Die erhöhte Anzahl an Jungs, die bei den Talleres (Workshops) nun also mitmachen konnten, kam uns gerade recht. Denn Simon und ich betreuen seit ca. vier Wochen einen eigenen Taller. Die ursprüngliche Idee war, etwas für Mädels im Oratorio anzubieten, da sich die Angebote größtenteils an Jungs orientieren und fast keine „Chicas“ für die Abendveranstaltungen kommen. Daher sitzen wir jetzt jeden Dienstagabend mit etwa zehn bis fünfzehn Jugendlichen unterschiedlichen Alters (erstaunlicherweise viele Jungs) beim Armbänderknüpfen und unterhalten uns über Gott und die Welt. Dabei wollen einige auch etwas Deutsch lernen, weshalb wir schon mit „Hallo, wie geht es dir?“ begrüßt werden. Ausweiten wollen wir die Sprachkenntnisse demnächst auf bayerischen Dialekt und Deutschrapphrasen.

Volo-Taller
…mit unseren Ergebnissen

…und Backofen

Zusätzlich durften wir uns im letzten Backworkshop in der Panadería als „Profes“ (Lehrer) aufschwingen. Schon oft wurden wir nach deutschem Essen und auch unterschiedlichen Backprodukten aus unserer Heimat gefragt. Bei zwei Bayern ist die Antwort natürlich klar: Bier und Brezen. Und weil die Argentinier ersteres natürlich kennen (auch wenn das lokale nicht ans deutsche Originalprodukt herankommt), bei zweiterem aber eine Verbindung mit den Simpsons und einer Süßspeise, die bei uns als Schweineohren bekannt ist, herstellen, war es für uns höchste Zeit, die Breze in Argentinien zu etablieren.

Brezenbackworkshop mit den „Alemanes“
Und fertig… Auch wenns halbgebacken ausschauen, zum Obazdn ein Genuss 😉

Auch wenn das Äußere der fertigen Brezen nicht wirklich unserer Vorstellung entsprach, den Argentiniern hat‘s geschmeckt. Noch besser sogar mit unserem Obazdn (von uns als „Salsa de queso y cebolla“, also als Käse-Zwiebel-Soße, vorgestellt) und später mit der Karamellcreme Dulce de Leche. Die wird hier den ganzen Tag über gegessen und dank der Probierfreudigkeit von Simon nun auch mit den salzigen Brezen. Also auch mit den Brezen und Obazdn eine kleine Zeitreise zurück in die bayerische Heimat.

Kulturmix Dulce-Breze
Glückliche Brezenbäcker und Obazdaesser

Belgien lässt grüßen

Am Rande: Die Brezen haben sogar so gut geschmeckt, dass wir es in diverse Stories auf Instagram und Whatsapp geschafft haben. Und so haben die Follower der Mitarbeiter aus dem Oratorio auch eine kleine Reise nach Belgien unternommen: Vor lauter Freude über das fremde Essen aus dem Ausland, hats für die deutsche Fahne nicht mehr gereicht.

Wenigstens die Farben stimmen

Ich hoffe also, dass ich euch jetzt auf eine kleine (Zeit-)Reise nach Argentinien (ja, der Eintrag ist ein bisschen länger geworden) mitnehmen konnte und dass ihr auch das nächste Mal wieder dabei seid. Wer noch ein bisschen auf dem südamerikanischen Kontinent verweilen will, dem empfehle ich den Blog meines Mitvolontärs Simon, bei ihm geht die Reise ins tiefste Landesinnere, ins Campo.

Gute Reise und bis zum nächsten Mal,

Eure Martha