Mandalas ausmalen. Kreuzworträtsel ausfüllen. Ein Buch vorgelesen bekommen. Karten spielen. Dinge, die mir als Kind geschenkt wurden. Dinge, die für viele Kinder in Deutschland selbstverständlich sind. Doch leider ist das nicht überall so.

Kumar* ist einer der Jungs, den wir in Englisch unterrichten. Er ist der Beste aus unserer Klasse, 10 Jahre alt. Doch jetzt sitzt er den ganzen Tag in der infirmary (Krankenzimmer in unserem Projekt), weil er eine tiefe Brandwunde am Bein hat. Wie das passiert ist, wusste ich zuerst nicht. Als Sara und ich ihn das erste Mal besucht haben, hat er noch nicht viel geredet. Dann haben wir gemerkt, dass er den ganzen Tag einfach nur auf dem Bett sitzt und die Wand anstarrt und so wussten wir, dass wir ihn beschäftigen müssen. So kam es, dass wir jetzt immer abwechselnd zu ihm gehen, ihm Mandalas und Kreuzworträtsel bringen. Wir bringen ihm die Übungen aus unserem Unterricht, damit er nichts verpasst und etwas hat, womit er sich beschäftigen kann.  Wir schauen Filme auf dem Handy und spielen Karten mit ihm.

Ich merke, wie er sich immer mehr öffnet. Wie er beginnt, Gespräche mit mir zu führen, wie er mich anlächelt. Vielleicht ist es, weil er mittlerweile nicht mehr solche Schmerzen hat. Oder vielleicht, weil er merkt, dass wir wirklich für ihn da sind. Dass wir immer wieder zu ihm gehen und uns um ihn kümmern. Vielleicht ist es das, was ein Kind braucht, wenn es krank ist.

Nachdem ich ein paar mal bei ihm war, erzählt er mir wie er die Wunde bekommen hat. Er hat den Müll von Diwali aufgesammelt. Unser Müll wird hinter dem Haus in einem Loch verbrannt. Er hat seinen aufgesammelten Müll in das bereits brennende Loch geschüttet. Es gab wohl Feuerwerkskörper, die noch nicht angezündet waren und so ist irgendwas explodiert. Davon hat er die große Brandwunde an seinem Bein. Er muss wirklich Schmerzen haben, er kann kaum laufen.

Ich sitze mit ihm im Gang, während die anderen Kinder draußen auf dem Sportplatz games time haben. Wir spielen Karten. Ich zeige ihm ein neues Spiel, dass er noch nicht kennt. „Neinerln“ wird es bei mir daheim genannt. Ich muss daran denken, wie ich als Kind oft Karten mit meinem Papa gespielt habe. Ich habe es als selbstverständlich angesehen. Von meiner Mama wurden mir Geschichten vorgelesen, ich habe CD’s oder Kassetten angehört. Es hat sich immer jemand um mich gekümmert, wenn ich krank war.

Ich muss mich an eine Situation meiner Kindheit erinnern: Ich habe Fieber, liege auf dem Sofa und wache gerade auf. Ich rufe nach meiner Mama, sie kommt nicht. Ich renne durch unser Haus, schaue in jedes Zimmer und fange zu weinen an, weil meine Mama nicht da ist. Oh, wie gut ich mich noch an dieses Gefühl erinnern kann. Alleine zu sein, obwohl ich jemanden gebraucht habe. Sie war jedoch nur kurz beim einkaufen und als sie wieder kam und mich weinen sah, konnte sie mich schnell wieder beruhigen. Für mich war immer jemand da und das ist so verdammt viel wert.

Kumar freut sich, das neue Kartenspiel zu spielen und lacht. Ich bin sehr glücklich, dass es ihm besser geht und dass ich für ihn da sein kann. Denn seine Eltern sind nicht hier, ich weiß nicht ob sie überhaupt noch leben. Die Krankenschwester unseres Projekts versorgt zwar seine Wunden, hat aber sonst keine Beschäftigung für ihn. Obwohl es nur Kleinigkeiten sind, die Sara und ich mit ihm machen, sind sie vielleicht doch sehr wertvoll. Es hilft mir, so unendlich dankbar zu sein. Dankbar, für meine wundervollen Eltern und Geschwister, die immer für mich da waren und da sind. Ein schützender Rahmen. Meine Wurzeln. Ich würde mir so sehr wünschen, dass sich niemand so alleine fühlen muss. Dass jeder so eine Liebe und Geborgenheit erfahren dürfte. Denn hier habe ich gelernt, wie sehr ich dies schätzen sollte, da es wirklich nicht selbstverständlich ist.

*Der Name wurde aus Datenschutzgründen geändert.