Henriette in Benin

Komm mit mir ins Abenteuerland

Ein Fass voller Emotionen

Die Baraque SOS auf dem Markt Dantokpa

2001 gründeten die Schwestern Don Boscos die Baracke auf dem größten Markt Westafrikas. Es handelt sich um ihr erstes Projekt in Benin.

Lea und ich vor der Baracke der Mädels. Links von uns befindet sich die Baracke der Jungs, die von der Don Bosco Brüdern geleitet wird.

Wenn ich an die Baracke denke, denke ich zunächst einmal an eine zweimal 15 Quadratmeter große Containerfläche, die vor Energie, Spannung, Frust und Freude kurz vor dem Explodieren steht.
Täglich kommen hier zwischen 10 und 35 Mädchen vorbei, die auf dem Markt Schwerstarbeit leisten müssen. Sie tragen Waren auf dem Kopf, die sie bis zum Abend verkauft haben sollten: Tomaten, Igname, Fisch, Klamotten, Wasser, Zwiebeln, Schwämme, Waschpulver, Piment, Bananen, Teigbällchen, Schuhe, Orangen, Medikamente.
Schon im jüngsten Alter dreht sich das Leben der Mädels um Geld, Kaufen und Verkaufen.

Fifamé, zwölf, war in der Schule. Dann ist ihre Mutter gestorben und das Geld in der Familienkasse hat nicht mehr gelangt. Der Vater sieht keinen anderen Weg, als seine Tochter in das Verkaufsgewimmel nach Dantokpa zu schicken.

Adoula ist 18 Jahre alt und hat die Schule abgebrochen um Geld zu verdienen, von dem sie dann eine Schneiderausbildung machen will. „Zwei Jahre Markt, dann beginnt mein Traum“, sagt sie.

Sidonie, neun Jahre jung, verkauft Fisch. Sie begleitet ihre Mama auf den Markt, so wie ihre Mama auch schon ihre Mama auf den Markt begleitet hat. Einige Familien verstehen nicht, warum sie ihr Kind in eine Schule schicken sollen, die zusätzlich noch verdammt viel (15 Euro pro Jahr) für ihre Verhältnisse kostet.

Das sind nur wenige Schicksale, die ich hier aufgelistet habe. Es gibt noch weit aus schlimmere. Mädchen, die von ihren Eltern verkauft wurden, um eigentlich Bildung zu erlangen und dann gnadenlos ausgebeutet werden. Mädchen, die keinen Schlafplatz haben und Opfer von Sexualverbrechen werden.

So wundert es niemanden, dass es in der Baracke wild und rau zugeht. Die Mädchen kommen mit ihren kiloschweren Körben (manchmal müssen wir zu dritt den Korb anheben, um ihn zu verschieben) in die Baracke, stellen ihn auf einen Hocker ab, begrüßen mich mit dem üblichen Handschlag und dann wird das gemacht, auf was sie Lust haben.
Jetzt können sie für einige Minuten bis Stunden ihre Kinderseele baumeln lassen. Entweder stürzen sie sich in das nächste UNO-Duell, bei dem die Karten nur so in der Gegend rumfliegen und Regeln vom Himmel fallen. Kurzum: die Mädels schummeln, was das Zeug hält, und wenn ich dann auch mal unauffällig eine grüne Karte auf eine gelbe lege, funktioniert das nie.

Auf in die nächste Zockerrunde


Wenn nicht UNO dann gibt es auch noch Ludo (ähnelt Mensch ärgere dich nicht) oder das Steinchenspiel Awalé.

Awalé lieben nicht nur die Mädels, sondern auch ich habe es sehr schätzen gelernt und eine kleine Sucht entwickelt. Anfangs wurde mir das Spiel noch nicht ganz zugetraut, inzwischen kann ich aber voller Stolz behaupten, dass ich die ein oder andere Beninerin schlagen kann 😉

Einige holen sich auch Essen auf der Straße und schaufeln es in sich rein. Denn wer nicht schnell und aufmerksam isst, braucht sich nicht wundern, wenn beim nächsten Blick in den Teller nur noch halb so viel daliegt.

Die älteren Mädels zwischen 14 und 18 Jahren legen sich meist auf eine Matte im hinteren Teil des Containers und fallen in einen tiefen Mittagschlaf. Kaum vorstellbar, bei dem Marktgeschrei um die Baracke herum, aber auch beim Trubel, der in der Baracke selbst herrscht.

Wieder andere präparieren ihre Ware auf den Körben, zählen ihr Geld und machen sich für die zweite Verkaufsrunde des Tages bereit.



Die Jüngeren sehnen sich auch manchmal nach Liebe und Geborgenheit und klettern auf meinen Schoss, geben mir Bissous auf die Wange und dann wird gekuschelt. So entstehen nicht selten Kuschelkreise in denen wir eine Menschentraube von zehn Mädels bilden.

So europäisches Haar bietet natürlich auch viel Beschäftigung und so wurden mir in den ersten Wochen fleißig die Haare frisiert, bis ich es nicht mehr aushalten konnte und nur noch mit Turban in die Baracke kam. Auch als Kletterbaum scheine ich gut herzuhalten, auch wenn es nicht ganz so hoch hinausgeht 😉

Lea und ich haben versucht auch jeden Tag eine Bastelidee mitzubringen, um den Nachmittag etwas kreativer zu gestalten. Zusätzlich gibt es auch einen Alphabetisierungskurs für die Mädels.

Heute wird gefilzt.
Die Filzschnüre werden gleich zu einer Girlande verarbeitet.

Oft gibt es auch Streit zwischen den Mädels, die sich nicht nur gegenseitig beschimpfen, sondern auch schnell handgreiflich werden. Und selbst die siebenjährigen Mädels sind teilweise stärker als ich, sodass das Dazwischengehen manchmal mehr, manchmal weniger gelingt. Nicht selten fangen hier auch die Mädchen an zu weinen. Manchmal weil sie beklaut wurden und das leider auch manchmal von anderen Mädels in der Baracke. Manchmal, weil sie einfach völlig fertig sind von allem.

Hermine hat gerade bemerkt, dass ihr 400 Franc (nicht mal ein Euro) geklaut wurden. Sie ist fertig mit den Nerven, schlägt um sich, will die Diebin entlarven. Sie ist sauer, sie hat Angst. Sie steht in der Ecke, die Tränen laufen über ihre Wange. Marie erklärt mir, was vorgefallen ist und meint, dass Hermine, wenn sie ohne das Geld nach Hause kommt, von ihrer Mutter geschlagen wird. „Aber nicht so“ – sie deutet eine Backpfeife an – „sondern so“: Sie nimmt einen Hocker in die Hand und ahmt eine Schlagbewegung mit ihm nach. Ich kann es nicht fassen. Ein Euro, nicht mal eine Kugel Eis in Deutschland, aber hier in Benin eben schon vier ganze Ananas. Ich gehe zu Hermine und sage ihr, sie soll bis um 17 Uhr in der Baracke bleiben, bis sie schließt. Schließlich ist es so weit, ich gebe ihr 500 Franc so dass es kein anderes Mädchen sieht. Ich spüre das innere Aufatmen in ihr, die Angst vor den Schlägen fällt von ihr ab.

In der Baracke habe ich das Gefühl, dem harten und rauen Leben Benins am nächsten zu sein. Das Leben so kennenzulernen, wie es hier eben ist. Hart und gnadenlos.  Aber anstatt in Selbstmitleid zu verfallen, strahlen diese Mädels hier eine Lebensmut und Lebensfreude aus, die ich sonst selten wo gesehen habe. Hier treffen Emotionen in voller Wucht aufeinander: Wut, Freude, Hass, Liebe, Misstrauen, Spaß, Trauer, Neid, Angst und Ausgelassenheit. Ein Fass voller Emotionen also, kurz vor der Explosion.

Vorheriger Beitrag

Meine täglichen Wege durch Cotonou

Nächster Beitrag

Hauptpostamt in Cotonou

  1. Ulla Fricke

    Hallo Henriette, ein toller Text und super Fotos! Kurz mal nicht an Corona denken….

    Wir denken in Bonn sehr an Euch Don Bosco Volunteers und den ganzen Murks. Komm gut an in deinem alten neuen Leben.
    Viele Grüße
    Ulla Fricke

    http://www.donboscomission.de

Schreibe einen Kommentar

Ich stimme zu, dass meine Angaben aus dem Kommentarformular zur Beantwortung meiner Anfrage erhoben und verarbeitet werden. Hinweis: Sie können Ihre Einwilligung jederzeit für die Zukunft per E-Mail an info@donboscomission.de widerrufen. Detaillierte Informationen zum Umgang mit Nutzerdaten finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Läuft mit WordPress & Theme erstellt von Anders Norén