Der Countdown läuft!!!
Inzwischen ist er im zweistelligen Bereich. Nur noch 95 Tage, dann werde ich mich wieder auf deutschem Boden befinden. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht.
Ich stehe diesen 95 Tagen jedoch mit gemischten Gefühlen gegenüber:
Einerseits freue mich enorm auf mein “richtiges“ Zuhause in Deutschland – v.a. auf meine Familie, Freunde und meinen Freund. Aber auch das typisch deutsche Essen (Körnerbrot, Wurst, Käse usw.), die meist angenehme Temperatur in Bayern, das Alpenvorland mit unzähligen Wiesen, Wäldern, Seen, Flüssen und Bächen und die „deutschen Bequemlichkeiten“ fehlen mir sehr. Unter Letzteres fallen kluge Erfindungen wie die Waschmaschine, Spülmaschine und Mikrowelle, der Staubsauger, Ofen, Trockner und Stromherd und u.a. ein Stiel am Wischmopp. Obwohl mich die anderen Umstände hier nicht arg stören, muss ich doch zugeben, dass ich mich auf – im Normalfall – 24 Stunden Strom und fließendes, warmes Wasser sowie mein Zimmer mit meinen eigenen Klamotten freue. Was mir mit am meisten abgeht sind meine „deutschen Freiheiten“. Dazu zähle ich Sachen wie nachts allein rausgehen zu dürfen, mit Freundinnen weg zu gehen, wild zu tanzen, laut zu singen und ja, auch ab und zu mal Alkohol zu trinken. Aber alleine die Tatsache, dass ich anziehen darf, was ich möchte, ohne auf der Straße komisch angeschaut zu werden. Dass es keine Tabu-Themen gibt und ich ungehindert alles aussprechen darf, was mir in den Sinn kommt. Dass ich mich – sogar in der Öffentlichkeit – kritisch gegenüber Religion äußern darf und es dann sicher gute Diskussionen gibt, die mich gedanklich wieder ein Stückchen weiterbringen. Auch, dass ich meine Muttersprache – Boarisch – reden kann und mir nicht vor dem Sprechen im Kopf einen Satz auf Englisch zurechtlegen muss. Dass ich (ohne wegen jedem Kleinkram um Erlaubnis zu fragen) dahin gehen darf, wo ich hin möchte und dann das machen darf, was ich machen möchte – ungehindert von Verboten. Alles in allem denke ich, dass ich wieder ein bisschen mehr ICH sein kann und mich nicht verstellen muss (was ich hier – bedingt durch die andere Kultur – leider ab und zu mache). Dass ich keine Angst haben muss, etwas falsch zu machen; mal falsch zu handeln, falsch zu reagieren und dass ich – zu guter Letzt – nicht permanent Deutschland in einem anderen Land repräsentiere und immer als perfektes Vorbild fungieren sollte.
Auch wenn das verdammt viele Sachen sind, worauf ich mich freue, so bin ich andererseits gerade an einem Punkt angelangt, wo ich eigentlich sage: „Ich möchte hier gar nicht mehr weg.“ So komisch es sich nach dem obigen Absatz auch anhört – es ist wahr. 95 Tage hören sich auf einmal unglaublich kurz an: Es gibt unzählige Sachen, die ich noch gerne mit den Mädels machen möchte. Aktionen, die schon in meinem Kopf rumschwirren, aber die ich noch nicht in die Tat umgesetzt habe. Spiele, die ich kein einziges Mal angeleitet habe und andere, die wir viel zu selten gespielt haben. Themen, die ich gerne ansprechen würde, aber bis jetzt der Rahmen gefehlt hat. Methoden, die ich während meines Jugendleiterdaseins oder bei der Vorbereitung für Indien gelernt, aber noch nicht ausprobiert habe. Projekte, die ich gerne in die Wege leiten würde, mir aber schlicht und ergreifend die Zeit fehlt. – Ich sehe sie nur davonrennen und lachen. Letztendlich sollte ich das auch: Lachen. 😀 Denn ist es nicht immer ein gutes Zeichen, wenn die Zeit schnell vergeht?
Meine „zweite Heimat“ hier in Indien, der Dschungel, meine Schülerlein und natürlich die Mädels sind mir inzwischen sehr ans Herz gewachsen. Wenn ich daran denke, einige meiner geliebten Sachen hier lassen zu müssen, das letzte Mal meine Lieblingsroute durch den Urwald zu gehen, das letzte Mal beim Tee trinken die Sonne hinter den Palmen untergehen zu sehen, das letzte Mal eine Banane, Papaya oder Ananas aus dem Garten zu genießen, das letzte Mal Reis mit den Händen zu essen, das letzte Mal in meinem Khasi-Kleid in die Schule zu gehen, das letzte Mal ein Mädchen auszufragen, Wörter auf Englisch zu buchstabieren und vorzusprechen, das letzte Mal eine Geschichte vorzulesen, das letzte Mal durch dieses Haus – das wie mein eigenes Haus geworden ist – zu schlendern und die Bilder an der Wand zu betrachten, die ich inzwischen schon nicht mehr sehen kann, die letzte Messe zu besuchen, den letzten Rosenkranz zu beten, das letzte Mal mit einem Eimer zu Duschen und den Boden mit einem Tuch zu Wischen, das letzte Mal unter meinem Moskitonetz aufzuwachen und die Mädels im Gang singen zu hören, DANN wird mir ganz weh ums Herz. (Und jetzt habe ich noch nicht ansatzweise alle Dinge aufgezählt, die ich vermissen werde.) Auch wenn ich noch 95 Tage Zeit habe und das über drei Monate sind, so denke ich, dass es nie zu früh ist, Abschied zu nehmen. Denn die Zeit wird verfliegen und dann ist es plötzlich soweit. Wer weiß, wann bzw. ob ich nochmal nach Indien kommen werde? Und ich bin sicher, ich werde es nicht mehr so wahrnehmen wie jetzt gerade.
Jetzt gerade bin ich glücklich. Glücklich mit den indischen Umständen. Glücklich mit den Mädels. Glücklich mit meiner Arbeit und glücklich ohne all die deutschen Sachen.
Trotzdem habe ich ab und zu Angst, dass die Zeit zu schnell vergeht und ich nicht alles schaffe, was ich mir vorgenommen habe.
Jeden Abend, wenn ich eine Zahl auf dem Countdown durchstreiche, denke ich mir einerseits „Oh nein, schon wieder ein Tag weniger“, andererseits „Nur noch 95 Tage, dann sehe ich all meine Lieben wieder“. Es ist schön, die Tatsachen mit unterschiedlichen Augen betrachten zu können.
Noch kurz zum vergangenen Monat:
Die Tage war ich viel mit Bewerbungskram für die Unis beschäftigt. Leider steht der jetzt an. Und ich bin noch lange nicht fertig. 🙁 – Aber ich freue mich schon auf’s Studieren. 😉
Spontan sind bis morgen Früh zwei Freundinnen aus Deutschland zu Besuch. 🙂 Sie geben mir neue Energie und Kraft und haben mich letzte Woche tatkräftig beim Unterrichten unterstützt. Zu dritt ist es gleich soooo viel einfacher und macht viel mehr Spaß!
Außerdem war meine Familie über Ostern da – aber das ist ein anderes Kapitel. Bald werde ich einen Blogartikel über dieses einschneidende Ereignis veröffentlichen. Bis jetzt habe ich es leider nicht geschafft…
Vielen Dank für’s fleißige Lesen und Mitverfolgen!
Eure Anita
Johanna Woisetschläger
Du sprichst mir aus der Seele <3
Anita Krammer
Es ist schön zu hören, dass es dir genau so geht!
Alles Gute für dich und deine Jungs nach Tamil Nadu 🙂
Franziska K.
Immer wieder schee etwas ausm fernen Indien von dir zu hören liebe Anita 😉 Grüße ausm (kalten!!) Bayern 🙂