Gott sei Dank, war diese Woche wieder ein bisschen gechillter als die letzte. Aber natürlich nicht langweilig! Hier meine Erlebnisse der Woche aus Vimukthi:

Klein und Flauschig

Ashish, der salesianische Bruder der zurzeit zu Besuch ist, hat ein ganz besonderes Hobby. Ich habe im Gang des Volontärtrakts grade meine Wäsche auf gehangen, und sehe den Brother am Ende des Flures bei seinem Zimmer selig lächeln. Er blickt auf. „Oh, Lilli, i didn`t see you there. Do you want to meet my pet?“ Ich komme näher und sehe nichts- bis ein kleines Köpfchen mit schwarzen Knopfaugen mich anblinzelt. Ein Streifenhörnchen! Wir haben hier keine Eichhörnchen, sondern nur die etwas kleineren Streifenhörnchen mit ihren schwarzen Streifen auf dem Rücken.

Sanft krault der Salesianer das Hörnchen hinter seinen Ohren, während er mir erzählt, wie das kleine Tierchen in einem Park als Baby zu ihm gelaufen ist; ein Verhalten was auch hilfsbedürftige Eichhörnchen bei uns zeigen. Der Brother hat es mit einer Pipette und Wasserbüffelmilch großgezogen. Jetzt ist „Don“, benannt nach Don Bosco, 2 Monate alt und ist zutraulich und total verschmust. Der Brother lässt es über seinen Rücken, Kopf und Schultern klettern; und wenn es gekrault werden will, setzt es sich in seine Hand. Ich darf den kleinen Nager auch mal halten: ruhig sitzt er in meiner Hand, dann setzt er seine kleine knochige Hand an meinen Zeigefinger und wupps, ist es wieder rüber gesprungen zu seinem Papa.

 Pain no coming

Es ist hier nicht selten einen Menschen mit Annomalien zu sehen. Pigmentstörungen, Blindheit, fehlende Körperteile- oder ein paar zu viel- sind hier vollkommen normal. So hat auch Kilian, einer meiner Jungen, an einem Fuß einen extra Zeh neben seinem kleinen Zeh. Wir sitzen im Unterricht, alle arbeiten an ihren Aufgaben. Ich laufe grade wieder nach vorne zur Tafel und stupse versehentlich leicht Kilians Fuß an. Ich entschuldige mich sofort bei ihm. Kilian zuckt mit den Achseln und sagt: „This Toe, no pain, Sister.“  Ach komm, von wegen „kein“ Schmerz. „Yes Sister, this extra Toe, no pain coming. See.“ Und bevor ich was tun kann, nimmt er sein Holzbrett und schlägt es mit der Kante mit Kraft auf seinen sechsten, leicht abstehenden Zeh. Ein dumpfer Schlag, phump. Ich schaue ihn erschrocken an und er kichert. „No pain, sister.“

Ich bin immer noch geschockt, das ist doch ein Köper, mit dem man ganz  liebevoll umgehen muss und um den man sich kümmern muss! Ich probiere nach der Stunde kurz diesen Aspekt vorzustellen, und er nickt. „Okay, okay, sister. But toe accident coming, pain is no coming.“ Und mit einem grinsen spaziert er davon.

Familienangelegenheiten

Ab und zu bekommen die Jungs Besuch von ihrer Familie, aber irgendwie ausschließlich von weiblichen Familienmitgliedern. Immer wieder süß zu sehen wie die Jungs sich verändern wenn sie vor ihren Müttern, Schwestern oder Tanten stehen. Plötzlich sind sie ganz vorbildlich, still und schüchtern…

Der kleine Phillip bekommt am häufigsten Besuch von seiner Familie. Seine Oma und seine Tante unterstützen ihn viel. Der kleine Phillip scheint früher echt ein Anderer gewesen zu sein. Seine Oma erzählte mir traurig -auf Telugu und gebrochenem Englisch- wie er war. Gefühlt lag in ihrer Stimme keine Anklage oder Vorwurf, sondern einfach nur Traurigkeit. Er hätte immer Schimpfwörter gesagt, rumgeschrien, Solution genommen (Weichspüler), hat alle beleidigt und sich oft mit Anderen geschlagen. Phillip steht daneben und schaut auf seine Füße. Ein paar der Sachen die seine Oma aufzählt macht er immer noch(die Geschichte mit Felix), aber nur vereinzelt. Er scheint seit damals wirklich ruhiger geworden zu sein.

Aber als seine Oma angefangen hat, über ihn zu reden, wie er jetzt ist… da war sie so gerührt, dass sie anfing zu weinen. „Er ist jetzt ein anderer Junge.“ sagte sie. Er sieht viel besser aus, sie hat den kleinen lieben Jungen von früher wieder. Sie fragt mich auch was Phillip hier so tut, wie er sich so macht. Phillip schaut mich erschrocken an, aber ich achte darauf, nur die guten Seiten aufzuzählen- und die Sachen auszulassen, an denen wir noch feilen könnten Ich erzähle dass er sehr aufgeweckt ist und, von Telugu wortwörtlich übersetzt, „die Freude in seinem Herzen wohnt“. Dass er seine Aufgaben in Mathe fleißig beendet und gerne seine Kleidung repariert. Der Kleine strahlt, und in den nächsten Tagen ist er extra brav.

Andere Familienangelegenheiten: Ein paar meiner Jungs sind sogar schon richtige Onkels. Ein Junge, der normalerweise eher schroff und ein bisschen abweisend ist, ist richtig aufgetaut, als er das Baby seiner Schwester zum ersten Mal in den Armen hielt. Mit dem eingewickelten Kindchen eilte er vorsichtig unter den Mangobäumen auf mich zu. Vorsichtig strich er das Wickeltuch vom Köpflein seines Neffen und zeigte mir stolz das Kind. „This is my sister child. I am oka babai (ein Onkel) now.“ sagt er leise, während er grimmig-zärtlich auf das schlafende Baby lächelt.

Grundausbildung

Die Jungs sind dazu angehalten sich ordentlich zu kleiden. Sie duschen zweimal am Tag und man wechselt zweimal pro Tag das Hemd. Die Hemden und Hosen sind aber alle schon ziemlich alt, und viele der Jungs haben kein Geld um sich neue Klamotten zu kaufen. Hosen reißen an der Naht, Knöpfe fallen ab, kleine Löcher hier und da. Und dann werden sie ermahnt dass sie nicht ordentlich rumlaufen.

Tabea und ich haben uns schon länger an diesem Missstand gestört. Vormittags geben wir Mathe und Englisch Unterricht, auch generelles Grundwissen ist mit dabei; wie etwa Astronomie, Biologie, Physik, Sozialkunde, Wirtschaft, etc. Aber könnten wir nicht auch praktisches Wissen vermitteln? Wie das Nähen? Gedacht, gesagt, getan. In der Studytime haben wir immer Zeit, die Jungs auch anders und spielerisch sinnvoll zu beschäftigen. So gibt es jeden Abend zahlreiche Partien Schach- und jetzt auch ein komplettes Nähset mit Nadeln, Garn, Knöpfen, Stecknadeln usw. Viele Jungs bringen jetzt jeden Abend ihre zerschlissenen T-Shirts mit, deren Fetzen ich ordentlich zusammenstecke, und die Jungs dann zusammennähen dürfen. Auch Hosen, die besonders beim Volleyballspielen oft zwischen den Beinen reißen, werden von den Jungs selber genäht und geflickt. Und ENDLOSE Hemden mit fehlenden Knöpfen sind auch mit dabei.

Dem kleinen Phillip musste ich das Knöpfe-Annähen erst noch beibringen; viermal vernähen, Knopf einfädeln, dreimal durch jedes Knopfloch, prüfen, vernähen, fertig. Er hat so eine unglaubliche Freude bei jedem neu angenähten Knopf. Es ist so schön zu sehen, wie die sich die Jungs hinsetzen, winzige Nadeln durch ihre Kleidung führen. Wie sie währenddessen quatschen und sich am Ende freuen dass sie etwas fertig gemacht haben- und wieder heile Kleidung haben!

Nationalhymne

Jeden Morgen um Punkt 9 Uhr versammeln sich alle Leute in Vimukthi zum Morgenappell. Es wird der National Pledge (Schwur der Nation)aufgesagt und die Nationalhymne gesungen. Ich habe natürlich ab und zu Ohrwürmer von der Nationalhymne, manchmal singe ich sie sogar leise bei einseitigen Aufgaben vor mir her. Das einzige Problem: ich kann den Text nicht.

Es ist Hindi, und für mich zudem eine lose Ansammlung von Silben. Manchmal weiß ich eine Passage oder einen Laut, der bei bestimmten Melodien gesungen wird. Ich singe also die Nationalhymne eher „ Janna ganama jakka dsha jakka jayahe“ (richtig: Jeherana Gaaa Mana Adhinayaka, jaya he’), “dschajaka dadilitata“( bhArata-bhAgya-vidhAtA). Ich habe grade zum ersten Mal den Text gegoogelt, aber dass ich mit meiner Version ziemlich weit ab von Schuss bin, sagen mir die Jungs schon immer wenn sie mich beim Singen ertappen. Meistens lachen sie sich dann zu Tode und lassen mich das ganze Lied Stück für Stück nach singen. Ich werde mich wohl mal dran setzen und das lernen.

Nationalhymne lernen ist dann mein Plan für die nächste Woche. Diese Woche war wirklich eine schöne Abwechslung im Vergleich zu den Anstrengungen der letzten Woche, so dass ich mich nun gut und gerne auf das indische Ostern einlassen kann. Mehr dazu im nächsten Beitrag! 🙂

Liebe Grüße an alle,

Eure Lilli