Nach dem Volunteers Meeting in Vizag und dem anschließenden zwei Tagestrip nach Araku kamen wir Dienstag wieder nach Vijayawada. Normalerweise fahren wir immer sonntags in der Früh raus ins Vimukthi, und donnertags nachmittags wieder in die Stadt. Da die Anfahrt jeweils immer zwei Stunden dauert, haben Tabea und ich uns freiwillig entschlossen einfach die acht Tage durchzuarbeiten. Ich präsentiere: die längste Woche. 8 Tage Vimukthi, non-stop.

Verhängnisvolle Ereignisse

Ich saß oben in meinem Zimmer und ruhte mich eine halbe Stunde vom Unterrichten aus, die Jungs haben Telugu Class. Letzte Woche habe ich „Jaws“ von Peter Benchley gelesen, so ist mein Schmöker diese Woche „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruiz Safón. Ich kuschele mich also in meinen Sessel, ziehe meine Beine hoch, zünde ein paar Räucherstäbchen an und verschwinde in meinem Buch. Der Ventilator in meinem Zimmer kühlt mich ab und trägt die seichten Schwaden der Räucherstäbchen in den Raum. Unten höre ich vereinzelt die Stimmen vom Unterricht. Ich schweife durch das Barcelona der 1940er und dann ein lautes PENG.

Mein Ventilator geht aus. Das ausklingende Surren der Ventilatorenflügel  hinterlässt eine dicke, warme Stille in meinem Raum, die mich deutlich den Aufruhr von Stimmen aus dem Klassenzimmer hören lässt. Ich werfe mir meinen Chunni um und schaue nach, um was es geht. Unten stehen alle Deckenventilatoren still. Ein paar Jungs sind im Klassenzimmer, Durgu (Mitarbeiter, der die Jungs unter anderem in Telugu unterrichtet) ist mit zweien im Power Room. Ein paar schnelle Worte Telugu klären mich über die Situation auf.

Ein Fan ist milde explodiert und hat einen Kurzschluss verursacht. Durgu hat schon den Hauptschalter aus und wieder an gemacht, aber nichts. Noch weitere Kniffs werden probiert, aber die Ventilatoren bleiben still. Durgu und wir Schwestern sind derzeit allein, da Ravi wohlverdienten Urlaub hat und seine Familie zuhause besucht. Es ist grade ein nationaler Holiday, das heißt der Elektriker kommt in zwei Tagen. Und bis dahin: kein Strom.

Es wird scho glei dumpa

Der Tag verläuft weiter wie ganz normal. Die Hitze wird zwar in der Bastelzeit nicht verscheucht, aber die Games Time findet statt wie gewohnt. Mein Handy hatte 6% als der Strom ausging, am Abend war es tot. Die Studytime fällt natürlich aus, wir haben nicht genug elektronische Geräte um  genug Licht zu machen. Die Jungs gehen Duschen, während Durgu noch nach der Taschenlampe sucht, aber das Dunkel ist schon schleichend angekommen. Die Jungs haben sich gewaschen und angezogen, und genießen nun ihre freie Zeit und laufen wild im Haus herum. Wir hatten unten im Haus gewartet, aber sie haben schon in dem Schlafsaal angefangen rumzualbern. Und dann war es schon zu spät.

Puder; dass man sich morgens ins Gesicht schmiert, um weniger zu schwitzen; wird von manchen Jungs nun massig im Gesicht verteilt. Mit kreideweißen Gesichtern warten sie in Türen und hinter Ecken und springen hervor wenn jemand vorbei kommt. In der Dunkelheit sieht man nur die verzogene weiße Fratze. Andere johlen und tanzen im Klassenzimmer. Bei Einem machen sich manche Jungs einen Spaß daraus, immer wieder auf seine Glatze zu tippen. Es ist eine entfesselte Atmosphäre.

Krisenmanagement

Tabea steht im Hauptraum mit ihrer Handytaschenlampe und probiert die Jungs zur Ordnung zu rufen, aber hat man mal ein Feuer ausgetreten, facht es woanders wieder hoch. Der Junge mit der Glatze weint leise, während die Jungs in der Dunkelheit immer wieder auf ihn drauf tippen, manche auch fester. Sie bemerken gar nicht dass das gar kein Spaß mehr ist.

Ich nehme den Jungen mit, unter die Arkaden im Seitenflügel des Hauses. Hier scheint die schwache Sichel des Mondes noch etwas silbriges Licht hin. Ich setzte mich neben ihn und beruhige ihn etwas, bis ich ein leises Schluchzen höre. Es kommt vom hinteren Teil der Arkaden. Zusammengerollt sitzt dort einer meiner jüngeren Burschen und macht sich ganz klein. „Adam?“ Erschrickt schaut mich der 15 Jährige an. „Sister, light please, naku ishtam ledhu Tshikathi…“ Er sagt er hat Angst vor der Dunkelheit, ich helfe ihm auf und führe ihn zum anderen Jungen. In jeder Hand eine kleine braune Hand, sitze ich dort eine Weile mit den beiden Jungs.

Normalität kehrt ein

Tabea hat die Lage drinnen soweit wieder beruhigt, Durgu ist nun auch mit der riesigen Taschenlampe da, und setzt sich mit seiner lauten Stimme und Strenge  durch. Wer Schmarrn macht, darf morgen Büffelstall ausmisten- das zieht.Wir versammeln uns in der Auffahrt und beginnen mit der Feelingsround. Während jeder von seinem Tag berichtet; was er mochte, was er nicht mochte; teilen wir zusammen etwas ganz Besonderes: Die ersten Mangos der Saison. Mit Schale, essen wir die unreifen, knackig-sauren Mangos mit Chili und Salz. Danach essen wir im Schein der großen Taschenlampe Abendessen. Normalerweise schauen wir nach dem Abendessen ein bisschen Fernsehen , aber ohne Strom legen wir uns zurück auf die Auffahrt und schauen hoch zu den Sternen. „Sister, can you tell story?“ Ich erzähle eine Abenteuergeschichte, Tabea erzählt eine Geschichte über Freundschaft, und auch ein paar Jungs erzählen Geschichten.

Wie intensiver kommt einem das Tageslicht vor, wenn man Stunden davor gar keines hatte? Die restlichen Tage ohne Elektrizität sind besser gelaufen, und der Elektriker ist wirklich nach zwei Tagen gekommen und hat ein bissl geschimpft, zwei Stunden am Ventilator und im Powerroom rumgetüftelt und dann- das Surren der Ventilatoren.

Der schlimmste Tag der längsten Woche

Der Rest der Tage war dann wieder relativ ruhig. Aber 8 Tage am Stück mit ordentlicher Stundenzahl am Tag, das zerrt auch an den Kräften. Jedoch gab es auch eine Entlastung: Uns ist ein salesianischer Bruder besuchen gekommen, der die Einrichtung besser kennen lernen wollte. Er wurde im Gästezimmer im Volontärstrakt untergebracht. Wir haben nur zwei Schlüssel für das Schloss, so dass wir ein bisschen Probleme mit dem zusperren hatten. Und das hat dazu geführt dass wir an unserem letzten vollen Arbeitstag wirklich viel zu viele Ereignisse hatten, was uns dann wirklich den gar ausgemacht hat…

Tabea bekam morgens eine Nachricht von ihrer Mutter, dass ihr Opa ins Krankenhaus eingeliefert wurde(gottseidank keine Lebensgefahr). Das hat sie natürlich ordentlich mitgenommen. Trotzdem hat sie Unterricht gemacht, aber die Jungs waren an dem Tag komisch aufgelegt und waren super anstrengend. Nachmittags war die Games Time und es schien alles okay zu sein, bis… „Benny drop out!“ Benny ist fortgelaufen, er hätte in einem Monat mit seiner Ausbildung im RVTC beginnen sollen. Mir tut es wirklich weh dass er jetzt sonst wo ist. Und ich bin noch mehr verletzt dass mein Benny davor in den Volontärstrakt eingebrochen ist und mir aus meinem Zimmer Geld geklaut hat. Der Trakt war nicht abgeschlossen. Diesen Vorfall habe ich aber vor den Jungs geheim gehalten. Und die quälende Frage, das Warum, bleibt unbeantwortet.  Durgu schwingt sich auf sein Motorrad und sucht zwei Stunden die Gegend nach ihm ab, Tabea und ich bleiben alleine mit den Jungs. Diesmal bleibt aber alles ganz zivil, wir haben ja gottseidank den Strom wieder.

Feelingsround

Wir machen wie normal die Studytime, ich übernehme in der Feelingsround. Sehr ordentlich zähle ich die Jungs, sind auch wirklich alle da? Ist vielleicht nicht noch einer weg? Alle da? Ich bin richtig paranoid. Ich leite die Feelingsround mit einer Atemübung ein. In jeder Erzählung kommt Bennys Name vor, wo sie ihn das letzte Mal gesehen haben, was er als letztes zu ihnen gesagt hat,…Tabea ist komplett fertig und gibt das Wort sofort weiter, was soll man an so einem Tag über seine Feelings sagen? Als letztes spricht immer die Person die angeleitet hat. „Good evening, everyone.“ Ein Chor erwidert  „Good evening, sister.“ „Today a lot of things happened, also for us, the sisters. I am hurt and sad, to say the least, that Benny dropped out. He was a very nice boy, I enjoyed to play volleyball with him and he was always laughing. I really hope he is okay and that he finds his way. But I also hope that if you boys have problems, if you need someone to talk to, that you know can come to us. We won`t send you away, we will listen to you. So please, come to us, okay?” Die Jungs nicken ernst, ein Älterer hat alles übersetzt. Wir sitzen noch einen Moment in Stille, bis wir das Knattern von Durgus Maschine hören. Er hat Benny nicht gefunden, aber die Jungs hier sind alle da.

Komplett fertig steigen wir am Donnerstag in den Bus nach Vijayawada. Ich bin grade so durch, acht Tage durcharbeiten ist wirklich anstrengend. Vor allem hatte ich nun am Wochenende auch ordentlich was zu tun; mit der Bank, meiner Mentorin, meiner Zukunft(Uni)… Außerdem mussten wir Saree shoppen, denn nächste Woche ist Ostern! Die Woche wird hoffentlich etwas weniger turbulent.

Liebe Grüße an alle zuhause,

die Lilli