Puuh, jetzt bin ich schon (fast) einen Monat hier in Indien! In Deepa Nivas fühle ich mich schon richtig wohl, vor allem weil die Jungs mich jeden Tag aufs Neue überraschen -und bis weilen auch ziemliche Charmeure sein können… hier ein paar Erlebnisse aus dem Alltag mit 75 Jungen!

HEUHAUFEN SPRINGEN

Die Kinder führen mich auf das Flachdach des Hauses, von dem man eine wundervolle Aussicht auf das Umland hat. Ein Junge klettert freudig auf die Brüstung, alarmiert renne ich zu ihm und ziehe ihn runter. „What are you doing???“ Unschuldig zeigt der Junge auf den Heuhaufen neben dem Büffelstall der ca zwei Meter unter uns liegt und mehrere Meter hoch ist. „Are you allowed to do this?“ Schüchtern schaut der Junge auf seine Füße und spielt mit einem Kiesel. Na, wenigstens lügt mich der Kleine nicht an. Sanft nehme ich die wirklich noch sehr jungen Kinder mit nach unten und spiele mit ihnen.

Später komme ich am Büro vorbei, wo die älteren Jungs witzelnd um einem Bildschirm gedrängt auf dem Boden hocken. Einer winkt mich dazu. Sofort ist Platz und ein Stuhl gefunden (schon irgendwie ganz nett). Überall auf dem Gelände sind CCTV Kameras angebracht, um die Kinder und die Mitarbeiter vor einander zu schützen. Zum Beispiel ist im großen Klassenzimmer eine Kamera um sicher zu gehen dass die Kinder von der von außerhalb kommenden Lehrerin nicht geschlagen werden (ist hier durchaus auch normal- und bei uns war es das vor 60 Jahren auch noch). Ein paar kleine Kinder sind losgezogen und machen jetzt Schmarrn: sie tanzen vor den Kameras, wackeln mit dem Popo und einer ist sogar zur Kamera hoch geklettert. Auf dem Bildschirm kann man jetzt abwechselnd Nahaufnahmen von seinen Nasenlöchern, seinem Auge oder seiner Mundhöhle sehen. Man, die Jungs habe ich schon echt lieb.

Zwei ältere Jungs, beide taub-stumm, stoßen sich gegenseitig an, lachen. Der eine zeigt mit seinem Finger auf seine Augen, dann auf mich, dann auf den Bildschirm. Ein Zwinkern und die beiden sind fort ohne dass ich eine weitere Erklärung einfordern könnte. Kurze Zeit später sehe ich auf dem Dach die Jungs, wie sie über die Brüstung klettern und… sicher im Heuhaufen landen. Eine Spielverderberin will ich ja nicht sein, aber ein bisschen Sorge hatte ich schon. Die Jungs kommen nach vollbrachter Heldentat wieder ins Büro, grinsend. Ich lächele auch, habe aber eine Augenbraue mit einer Note von Vorwurf hochgezogen. Im Sinne, „Ich fand das ja auch lustig, aber gibt es da nicht ein Verbot?“. Der eine macht eine verwerfende Geste, zuckt die Schultern und sagt „D-O-N-T    T-E-L-L    A-M-M-A“. Solche frechen Lümmel! Am Abend rede ich mit einem Mitarbeiter des Projekts über die Angelegenheit. Der lacht und zwinkert. „Amma already knows!“

Noch ein bisschen mehr aus der Kategorie “schon irgendwie ganz nett”

Komme ich die Treppe von den Volo-Unterkünften hinab, stehen da meistens ein paar Jungen (im Alter von 10 Jahren) bereit. Sie schnappen sich meine Hand und führen -manchmal auch zerren-  mich kavaliersmäßig zur Dining Hall. Von meinen edlen Kumpanen befreit, stelle ich mich in der Schlange an und muss dafür kämpfen, mich hinten anstellen zu dürfen. Die Jungs bieten mir oft sehr hartnäckig an, dass sie mich gerne vorlassen würden. Gott sei Dank haben sie diese Eigenart nach den ersten Tagen abgelegt, da sie bemerkten, dass ich mich IMMER hinten anstellen werde. Ist das Essen geholt, klopfen die Kinder wild mit der freien Hand neben sich um mich auf die freien Plätze neben sich aufmerksam zu machen.

Mit dem Essen fertig, gehe ich raus auf den Innenhof zum Wasserhahn, um meinen Teller zu spülen. Auch hier ist eine Schlange von Wartenden, die mich nicht nur vorlassen, sondern sogar meinen Teller waschen wollen. Aus Protest, Trotz und auch weil ich keinen Bock habe so lange anzustehen, gehe ich dann manchmal zum zweiten Wasserhahn, der direkt neben dem Misthaufen der Büffel ist. Wo es richtig schön nach Stall riecht. Da fühl ich mich richtig wohl, hihihi. Beim Waschen rutscht ab und zu mein Chunni von meiner Schulter. Die Kinder hinter mir fangen ihn öfters auf, (bevor er in irgendeiner Pfütze oder Dreck landet) und halten ihn dann bis ich bereit bin den Chunni wieder ordnungsgemäß auf die Schulter zu legen.

Warum ich nie wieder Scharade spielen kann ohne rot zu werden

Die Ehefrau des Kochs spricht nur Telugu. Und bevor ich das Wort für „genug“ kannte (chaalu), musste ich immer ein bisschen Scharade mit ihr spielen. Sie fragt mich ob ich genug gegessen habe, in dem sie rechte Hand an ihre Lippen führt, während sie versucht mir eine zweite Monsterportion Reis aufzudrücken. Ich stehe also vor dieser echt netten Frau und probiere ihr mit meinen Händen- die zu diesem Zeitpunkt einen großen Bauch zeigen- klar zu machen, dass ich voll bin aber es gut geschmeckt hat. Ein Junge stellt sich dazu und beobachtet amüsiert meinen lächerlichen Scharadeversuch. Er schaut zu, legt verdutzt seinen Kopf schief und fragt dann „Baby?“ –Ich bin kurz verwirrt und schaue ihn fassungslos an, es dämmert mir…

„NO! Nope, no, no, no, I am NOT pregnant!!! No babys!” sage ich panisch, während ich mit den Armen wie eine Irre rumfuchtele. Nicht dass da komische Gerüchte entstehen! Plötzlich fängt meine Mitfrau herzlich und laut an zu lachen. Das Wort Baby in Kombination eines angedeuteten dicken Bauches hat sie wohl verstanden- und ist nun herrlich von meiner überrumpelten Reaktion erheitert. Der Koch steht übrigens auch mit dabei und lacht. So ein bisschen lache ich auch mit. Mütterlich-sanft legt sie mir kichernd einen Arm um die Schultern und führt mich etwas abseits. Ich schicke ein Stoßgebet an den lieben Gott und bitte darum dass jetzt kein Aufklärungsgespräch auf Telugu kommt. Aber sie kichert weiter, drückt mir verstohlen eine lila Süßkartoffel in die Hand- obwohl ich wirklich satt bin. Sie tippt sich an die Schläfen und lächelt- sie hat meine ursprüngliche Botschaft auch verstanden.

Dennoch ignoriert sie noch bis heute meine verzweifelten Chaluu-Proteste, wenn sie mir eine Riesenportion Reis aufgibt.

Kokosnüsse in der Sonne

Ich gönne mir eine kleine Verschnaufpause von der Games Time. Die Nachmittagssonne wärmt golden die steinerne Treppe bei der Küche, auf deren unteren Stufen ich mir  gemütlich ein Plätzchen suche und mich hinzusetzen. In meinen Händen halte ich eine kleine Porzellantasse, die bis oben hin mit kochend heißen, würzigen Chai gefüllt ist. Den Chai habe ich von der Frau des Kochs bekommen. Doch die Ruhe weilt nicht lang, ein kleiner Junge kommt über den sandigen Boden des Innenhofs zu mir hergerannt. „Sister, you want coconut?“ fragt er erwartend. Unverarbeitetes Gemüse und Obst gibt es im Projekt nur selten zu essen, also lächele ich den Jungen freudig an und sage „Yes, I want a coconut!“. Der Junge lächelt noch breiter.

Er zieht hinter seinem Rücken eine kleinen braune Kokosnuss und einen Metallbecher hervor. Dann kniet er sich neben mich auf die Stufen, setzt denn Becher neben uns, hebt die Kokosnuss mit beiden Händen weit über seinen Kopf und schlägt dann mit aller Kraft die Kokosnuss auf die Treppe. Ein lautes Knacken und ein kleines Rinnsal Kokosnussmilch fließt über die Stufen. Doch mehr wird nicht verschüttet denn die Kokosnuss wird sofort über den Becher gehalten. Als die Kokosnuss nichts mehr an Flüssigkeit abgibt, ist der Becher halb voll (oder halb leer?). Ich biete meinem Gönner den Becher an, aber er überlässt mir alles. Die Kokosnussmilch ist reif, süß und vom sonnigen Tag leicht angewärmt- so gute und frische Kokosnussmilch habe ich in meinem Leben noch nicht getrunken!

Mit ein paar weiteren kräftigen Schlägen bricht die Kokosnuss endgültig auf und der Junge macht sich daran das Fleisch vom Rest der Nuss zu schälen. Jetzt kommen auch ein paar weitere Kinder an und gesellen sich um uns dazu. Die nächsten Minuten sitze ich von Kindern umringt da und wir essen alle zusammen die Kokosnuss.

Drachen töten- die Disziplin von EDELMÄNNERN

Ich habe grade die Kinder in die Schule verabschiedet und gehe mit Johnny gemütlich noch etwas im Innenhof rum. Ein paar Jungen, die heute krank sind, streunen auch um uns herum. Ein Junge kommt auf uns zugerannt. „Snake! Snake!“ Wie aufregend! Ich folge dem Jungen neugierig zu einem Busch. Da ist keine Schlange. Der Junge beteuert dass da doch eine sei. Also lass ich mich weiter veräppeln, von wegen Schlange. Da ist doch keine, nicht auf den Steinen, nicht im Busch, nicht an der Treppe, nicht an- oh, da ist ja doch eine. Eine unspektakuläre, grün-braune, süße, kleine Schlange liegt an der Hauswand und schaut mich aus ihren schönen, schwarzen Augen an und züngelt mit ihrer lila Zunge in meine Richtung.

Johnny schaut nicht so freudig wie ich. Ein Junge wühlt im Unterholz und kommt mit einem großen Stock zurück. Mir wird mulmig. „Was hat der mit dem Stock vor …?“ So eine kleine Schlange, die tut doch nichts. Die ist ja wahrscheinlich nicht mal richtig giftig. Die stört doch niemanden. Johnny erklärt mir dass man hier mit Schlangen kurzen Prozess macht. Und das wenn ich das nicht sehen will, jetzt der Zeitpunkt zum Gehen ist. Ich drehe auf den Fersen um, sehen will ich das sicher nicht. Ich verstehe wieso, aber sehen will ich das nicht. So ein schönes Tier… beim fortgehen höre ich die dumpfen Schläge von Holz auf Stein. Später glaube ich die Schlange als Buff-striped Keelback zu identifizieren, eine Schlange die sich von Larven, Fliegen, etc. ernährt und sich im Reisfeld wohlfühlt. Um Deepa Nivas herum gibt es davon viele.

Liebe Grüße an alle,

Eure Lilli