Hat sich nicht jeder von uns schon einmal gewünscht in die Zukunft schauen zu können? Um die Zukunft zu verstehen, die Zukunft planen zu können und sich selber auf das was kommt vorzubereiten?

Genau daran erinnern wann ich diesen Wunsch vor Indien zuletzt hatte, kann ich mich nicht. Auf jeden Fall wollte ich gerne wissen, wenn auch unbewusst, was das Jahr nach dem Abitur so bringt. Vielleicht ist es auch gut so, dass ich nicht wusste was dieses Jahr so passieren wird. Denn hätte ich gewusst nach sieben Monaten zurück nach Deutschland zu müssen und fünf Monate Indien zu „verpassen“, wäre ich ganz anders in diese Zeit gestartet. Meine Planung für dieses Jahr hätte ganz anders ausgesehen. Der Unterricht für die Schulkinder wäre anders strukturiert gewesen, ich hätte sicherlich auch versucht die letzten Wochen anders zu gestalten, ich hätte mich verabschieden können, ich hätte… Wie oft ich in den letzten Wochen und Tagen genau an diesem Punkt angelangt bin, kann ich nicht sagen. Meistens endete es mit „hätte, hätte Fahrradkette, jetzt ist eh alles anders gekommen.“

Ein Virus kleiner als Blütenstaub

Hibiskus in Mysore

Ja, alles ist anders. Das ganze Jahr ist anders verlaufen als wir es uns alle vorgestellt haben. Wir Menschen brauchen Planung, wir brauchen Sicherheit. Und genau das fehlt gerade an so vielen Stellen. Ich muss zugeben, anfangs habe ich den Virus nicht gerade sehr ernst genommen, wie du vielleicht auch. Es war so wie mit Naturkatastrophen am anderen Ende der Welt. Es ist zu weit weg, man weiß zu wenig darüber und es betrifft einen in keinster Weise. Aber je mehr sich der Virus über der Welt ausbreitete und die Infektionszahlen in die Höhe schossen, desto realer und  beeinflussender wurde dieser Virus. Dieser Virus, welcher nicht einmal so groß ist wie Blütenstaub.

Ich saß mit Monika und den anderen Leuten aus unserem Projekt in Pallithammam und immer häufiger wurde dieses weltweit stärker aufkommende Thema auch bei uns besprochen. Wenn ich mich richtig erinnere hat es damit angefangen, dass beim Rosenkranzgebet ein Junge für die, an Corona erkrankten Menschen, betete. Erst einmal die Woche und dann jeden Tag. Dazu kamen die allgemein bekannten Hygiene Hinweise auch in der Schule und im Hostel an: Mindestens drei Mal am Tag Hände waschen (wofür extra Seife eingekauft wurde), sich nicht mehr die Hand zu geben und bei einem Nies- oder Hustenanfall die Armbeuge als Abschirmung zu benutzen. Witziger Weise wurde nach dieser Warnung trotzdem das traditionelle Händeschütteln, gegenüber dem Geburtstagskind von jedem Schüler, nicht untersagt.

So ging es ungefähr zwei Wochen. Zwei Wochen in denen das Thema immer präsenter wurde. Monika und ich verstanden auf einmal worüber die Priester beim Essen auf Tamil sprachen. Immerhin gab es noch kein für uns unverständliches Wort auf Tamil für Corona. Ich weiß noch, wie ich mich mit meiner Schwester im ersten Moment gefreut habe, dass sie jetzt „Ferien“ hat. Doch mit dem Gedanke, dass diese Schulschließungswelle vielleicht auch bei uns ankommt, konnte ich nicht mehr lachen. Und es wurde immer wahrscheinlicher, dass dies passiert.

Weg. So schnell wie möglich.

Freitag der 13.3. Ein ganz normaler Freitag. Morgen Gottesdienst, Schulbusabholdienst, Schulstart, Unterricht, Schulschluss, Gamestime und Schlafenszeit.

Diese Schulbussfahrten

Der ganz normale Alltag und doch irgendwie nicht normal. Denn unbewusst war es der  letzte Alltag welchen wir in Indien erleben sollten. Über das Wochenende stieg die Wahrscheinlichkeit, dass am Montag die Schließungswelle auch uns trifft. Aber wenn, dann nur bis zur 6. Klasse. Und so war es auch. Erst einmal für die nächsten zwei Wochen. Aber wer der Realität ins Auge schaute, wusste, dass dies unmöglich war. Bis jetzt ist der Schulstart auf voraussichtlich  Anfang Juni verschoben worden. Aus den nächsten zwei Wochen wurde nur ein Montag.  Am Dienstag, als Monika und ich rüber zu den Gebäuden der englischen Schule liefen, wussten wir schon durch die geschlossenen Türen und die Stille die uns begrüßte, dass jetzt auch die anderen Kinder nicht mehr kommen durften. Alle Kinder bis zur 10. Klasse mussten zu Hause bleiben. Da unsere Schule aber nur bis zur Klassenstufe 8 ging, konnte man unserer Schule mit einer Geisterstadt vergleichen. Alle Kinder aus unserer Schule waren weg und die Hälfte der Hosteljungen. Ohne ein Wort des Abschieds!

Monika sprach zuerst den Gedanken der Rückreise nach Deutschland an. Am selben Tag (Dienstag) fuhren wir noch schnell in das nächste Dorf und kauften noch ein paar kleine Sachen mit dem Hintergrund, dass dies vielleicht die letzte Möglichkeit ist irgendetwas einzukaufen. So sollte es sein. Die Nachricht, dass wir zurückkommen müssen begrüßte uns mitten auf der Straße mit einem Pling zwischen Motorad-, Auto- und Rikschahupen. Weg. So schnell wie möglich. Ab da begann ich irgendwie nur noch zu funktionieren.

Vom letzten zum ersten Mal

Der Satz „ein letzte Mal…“ sollte eigentlich frühestens Ende Juni  in meinem Sprachgebraucht und auch hier auf meiner Blogseite auftauchen. Aber wir hatten erst Anfang März! Trotzdem war er da:

Die beste Köchin der Welt
  • Ein letztes Mal Gottesdienst mit Sonnenuntergang unter getrockneten Bananenblättern.
  • Ein letztes Mal Sternschnuppen suchen auf unserer Dachterasse.
  • Ein letztes Mal der Köchin sagen wie gut sie doch kocht.
  • Ein letztes Mal durch die leeren Klassenzimmer laufen.
  • Ein letztes Mal…

Aber auch jetzt gab es immer noch diese vielen ersten Male.

  • Das erste Mal eine Abschiedsrede vor der Kirche halten.
  • Das erste Mal mit Tränen in den Augen von indischen Freund*innen und Kindern Abschied nehmen.
  • Das erste Mal ein Abschiedsessen bekommen.
  • Das erste Mal…

Und genauso bin ich doch auch in Indien angekommen.

  • Das erste Mal auf indiens Straßen fahren.
  • Das erste Mal mit der Hand essen.
  • Das erste Mal alleine vor einer Schulklasse stehen.
  • Das erste Mal aus einer offenen Zugtür einen Fuß hinaus strecken.

So habe ich Indien zum ersten Mal kennen gelernt und so werde ich Indien auch verlassen. Jeden Tag Neues erleben zu dürfen, bis zum letzten Moment.

Vermissen

Bis jetzt habe ich mich davor gedrückt wirklich über die Kinder zu schreiben. Sie sind glaube ich das, was ich am meisten vermisse und was es auch am schwersten macht darüber zu schreiben. Sieben Monate fast jeden Tag mit ihnen verbracht zu haben, die unterschiedlichsten Charaktere kennenzulernen und irgendwann zu wissen, wer welchen Handschlag am meisten mag, wer am lautesten lachen kann, wer am wildesten ist und wer lieber still daneben sitzt.

Der erste Verabschiedungsfruchtsaft

Wir konnten uns ungefähr von 20 der 500 Kinder, welche wir jeden Tag um uns hatten, verabschieden… Unverabschiedet blieb auch unsere Freundinnengruppe aus dem Nachbardorf, manche Lehrer*innen oder einfach Menschen, die unsere Freunde geworden sind in diesen sieben Monaten. Ich glaube bis jetzt wissen nicht alle, dass wir zurück nach Deutschland geflogen sind. Ich lasse das bewusst so stehen, denn hier viel über Gefühle zu schreiben ist nicht sonderlich hilfreich.

Ein halbes D4 Blatt

In Mumbai- am Tag des geplanten Abflugs nach München

Am 20.3 flogen wir dann, nach zu vielen Verabschiedungen, von Madurai nach Mumbai. Was kann noch alles kommen? Ich kann mir vorstellen, dass niemand das Gefühl liebt, am Check-in auf dem Weg von Mumbai nach München, zurück gewiesen zu werden. Vor allem nicht nach dieser Woche und nicht wenn deine ganze Familie sich auf deine Rückkehr vorbereitet hat. Der Grund: ein fehlendes Dokument von der Größe eines halben D4 Blattes!

Ich muss gestehen, wir hätten uns keinen besseren Platz aussuchen können um in Mumbai festzustecken. Das Provincial Hous in Mumbai hatte alles, was zwei Wochen Ausgangssperre unter den Umständen nicht hätte angenehmer machen können. Super nette und hilfsbereite Priester, riesige Sportplätze, tolles Essen und immer Abends um Acht Scharen von Flughunden. Ich glaube noch nie haben die Menschen in Mumbai diese Stadt so still und mit verlasseneren Straßen erlebt. Man konnte die Vögel hören und es wurden nach vielen Jahren endlich wieder Delfine im Hafen gesichtet. Es ist schön zu wissen, dass wenigsten die Natur aufatmen kann.

Mumbai die „stille“ Stadt

Nach zwei Wochen, Stress, Telefonaten über ganz Indien und nach Deutschland, unendlich vielen helfenden Händen von unserer Organisation Don Bosco, schlaflosen Nächten und zu viel Bürokratie, bekamen Monika und ich eine Platz in einem der Rückholflieger aus Deutschland. Nach weiteren Stressstunden am komplett leeren Flughafen, hingen wir dann noch am Bureau of Immigration fest. Wegen Monika und mir konnte das Flugzeug erst zehn Minuten später abheben als geplant. Aber wir hatte es geschafft. Es ist ein komisches Gefühl  nicht weg zu wollen und doch glücklich zu sein es endlich im Flugzeug zu sitzen.

Was bringt die Zukunft?

Es macht mich traurig ein Land zurück zu lassen, welches ich lieb gewonnen habe und kennenlernen durfte. Auch wenn ich Indien niemals ganz verstehen werde. Zurück zu lassen und ein Stück weit auch alleine zu lassen. Zu gehen wenn es ernst wird und genau dann nicht bei den Kindern, bei den Familien und Freunden zu sein und diese zu unterstützen, ist schwer.

Was bringt die Zukunft?

Vor allem in letzter Zeit hätte ich gerne eine Antwort drauf und ich weiß ich bin nicht allein. Überall auf der Welt geht es Menschen so. Und ich beklage mich auf hohem Niveau. Auch das habe ich in Indien gelernt. Die Situation in den ärmeren Ländern ist viel schlimmer.

Am 24. März erklärte Modi um 20 Uhr, dass ab Mitternacht ein Lockdown (totale Ausgangssperre) für ganz Indien gelte. Über eine Milliarde Menschen sollten innerhalb von vier Stunden, ohne jegliche Vorbereitung, in den Lockdown gehen. Das Gesundheitssystem in Indien ist katastrophal. „Die staatlichen Krankenhäuser Indiens sind schon mit den fast eine Millionen Kindern überfordert, die jedes Jahr an Durchfall und Mangelernährung sterben […]“ so Arundhati Roys in „die Zeit“ *1.

Rikschafahrer*innen, Obstverkäufer*innen, Putzkräfte, Bettler*innen,… all diese Menschen welche eh nie viel besaßen, haben jetzt noch weniger. Ich habe in Mumbai 20 Minuten entfernt vom größten Slum der Welt gewohnt und auf dem Weg zum Flughafen nur aus dem Auto springen müssen um einen Fuß hineinzusetzten. Ich kann und will mir nicht vorstellen, wie die Situation in diesen Gebieten auf der ganzen Welt aussieht. Um die 600.000 Menschen leben dort in großer Armut und Hoffnungslosigkeit. Vor allem jetzt.

Und jetzt sitze ich hier. Im reichen Deutschland und kann nichts bzw. nur begrenzt etwas tun. Trotzdem ist es schön an Indien zu denken und trotzdem tut es immer noch weh. Ich kann noch nicht sagen, ob ich (auch nach fast drei Wochen) wieder in Deutschland angekommen bin. Mit meinem Körper sicherlich, aber die Gedanken fliegen immer noch mindestens jede Stunde zurück nach Indien. So wie jetzt.

Indien. Ich komme auf jeden Fall wieder.

*1 Der Artikel von Arundhati Roy: https://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-international/3845-arundhati-roy-durch-das-tor-des-schreckens