Ich wache morgens mit den ersten Sonnenstrahlen und der Musik von umliegenden Tempeln auf der Dachterrasse auf (im Zimmer hält man es bei rund 37 Grad einfach nicht aus) und habe gleich zu Beginn des Tages eine tolle Aussicht über die Weite rund um Vilathikulam. Auf meinem Weg nach unten werf‘ ich einen Blick in den Innenhof des Geländes und sehe von oben all die liebgewonnenen Menschen, die mich den ganzen Tag umgeben, wie sie ihre Morning-Jobs erledigen. Jeder Tag hier ist ein Geschenk.
Einen Monat ist es jetzt her, dass ich ein letztes Mal auf der Dachterrasse aufgewacht bin und diesen Moment genießen konnte. Viel zu schnell sind die letzten Monate, Wochen, Tage dahin geflogen, bis ich irgendwann im Zimmer stand und völlig fassungslos zu Lydia gesagt habe: „ Wir fliegen in 13 Stunden“. Vor uns noch halbfertig gepackte Koffer, Reste an Geschenken und ganz viele Sachen, die wir so gern mitgenommen hätten, aber die zu groß oder zu schwer für unsere sowieso schon viel zu vollen Koffer waren.
Jeden Tag haben wir auf unserem Kalender einen Tag durchgestrichen und ich hab in meinem Tagebuch eine kleine Zahl vermerkt wie viele Tage wir noch haben. Nicht weil wir uns so auf Deutschland gefreut haben… Sondern, weil wir versucht haben die Zeit so gut es geht zu nutzen, Zeit mit unseren Freunden zu verbringen, Abschiedsgeschenke herzurichten, zu packen, Sachen zu verschenken, alle Dinge bewusst ein letztes Mal zu machen und bloß nichts und niemanden zu vergessen. Wir haben uns für die letzten Tage viel vorgenommen, weil es so einfacher war den Abschiedsschmerz klein zu halten. Denn wenn zu viel Zeit war, um darüber nachzudenken wie es sein wird diesen wunderbaren Ort zu verlassen, dann hat es nicht lange gedauert und wir hatten Tränen in den Augen.
So gab es vor dem Abschiedstag noch Geschenke für unsere Freunde und die Staffs, ein von uns gekochtes „German-Dinner“ für die Community, eine Wandbemalung mit den Grundschul-Kids, ein letztes Mittagessen mit den Sisters und eine wunderschöne Abschiedsfeier mit den Kindern, Jugendlichen und allen, die uns wichtig waren, mit rührenden Reden, Geschenken und Tänzen. Und schwubdiwup stand in meinem Tagebuch 0.
Hätte mir Anfang des Jahres jemand gesagt, wie sehr ich mich vor dem Abschied aus Indien sträube, hätte ich gelacht, denn da habe ich noch Tage rückwärts gezählt, weil ich am liebsten sofort wieder weg wollte. Aber schon nach ein paar Wochen ist dieser Ort ein Zuhause geworden und ich habe das Gefühl gehabt jede Menge Geschwister und wirklich gute Freunde gefunden zu haben. Für mich ist Vilathikulam zu einer Goldgrube an schönen Menschen und wichtigen Erfahrungen geworden, dass ich im Auto zum Flughafen saß und geweint habe, wie ein kleines Baby. Zum Glück ging es Lydia ähnlich und wir konnten uns gegenseitig Kraft geben und über die schönen Erinnerungen der letzten Monate die Tränen weg lachen.
Gemeinsam mit den Jungs aus Keela Eral ging es dann mit dem Flieger über Chennai und mit 10Stunden Aufenthalt in Mumbai zurück nach Frankfurt. Das Warten in Mumbai haben wir uns mit Tagebuch oder Abschlussbericht schreiben, Karten spielen und ein letztes Mal Chappati von unserer geliebten Köchin essen, vertrieben.
Und jetzt in Deutschland, wo eigentlich alles ganz gewöhnlich sein sollte, denn das war ja 18 Jahre unser Zuhause, fühlt sich alles fremd und komisch an. Schon am Flughafen in Frankfurt waren plötzlich nur noch so wenig Menschen unterwegs, die Züge kamen pünktlich und Zuhause angekommen, war es als wäre ich nie weg gewesen. Ich stand in meinem Zimmer und alles war als wäre ich erst gestern hier weg – nur lag da ein ganzes Jahr mit unglaublich vielen Erfahrungen dazwischen und ich hatte tausend andere Dinge im Kopf, die ich gern mit Lydia geteilt hätte, doch auch von ihr habe ich mich ja schon in Frankfurt verabschiedet.
Natürlich war es wunderschön Familie und Freunde wieder zu sehen und ja auch das deutsche Essen schmeckt, aber das alles mit dem Beigeschmack, dass es doch schwerer ist als erwartet nach Vilathikulam richtigen Kontakt zu halten und man somit von vielen Freunde nur noch schwer etwas hören wird. Denn was sich Face-to-Face an Kommunikationsproblemen ganz leicht mit Händen und Füßen kompensieren lässt, ist über’s Handy dann doch deutlich schwieriger. Es ist eben einfach nicht das Gleiche, wenn man zusammen lebt und den Alltag teilt und dann plötzlich wieder tausende Kilometer weit weg wohnt und 3,5 h Zeitunterschied hat. Und ja, das Leben in Vilathikulam geht auch ohne uns bestens weiter. Die neuen Volontäre (Link) sind schon angekommen und werden ganz bald unseren Alltag weiterleben.
Aber natürlich geht es auch bei uns hier weiter. Ab Oktober werden wir beide studieren. Und ja, der Alltagstrott hat uns schon fast wieder eingeholt. Aber eins haben wir uns ganz feste vorgenommen. Wir wollen die unglaubliche Liebe, Offenheit und das Strahlen, dass wir in Indien jeden Tag spüren durften, weiterhin in uns tragen, beispielsweise lächelnd durch die Hochschule spazieren und jedem, der es hören will von unseren einzigartigen Erfahrungen in Indien berichten. Denn wie sagt Winnie Pooh so schön:
How lucky I am to have something that makes saying goodbye so hard?
Wir hatten aus gutem Grund einen so schweren Abschied und sind manchmal etwas wehmütig, wenn wir an Indien denken, aber schlicht und einfach aus dem Grund, dass wir ein unvergleichbar geiles Jahr hatten.
Und jetzt wache ich zwar in meinem viel zu großen und weichen Bett auf, mit fetter Decke (es ist einfach viel zu kalt in Deutschland), und bei meinem Blick aus dem Fenster schaue ich auf die Gärten unserer Reihenhaussiedlung. Auf meinem Weg nach unten werf‘ ich einen Blick auf mein Handy und ein Lächeln huscht mir über die Lippen, denn ich hab die ganzen liebgewonnen Menschen zwar nicht mitnehmen können, aber dafür versüßen mir „Good morning“-Bilder, die mich per WhatsApp erreichen und damit verknüpft unzählige Erinnerungen an das tolle Jahr den Morgen. Jeder Tag war und ja jeder Tag ist ein Geschenk. ♥
Eure Anna
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