Ich präsentiere meine Highlights der Woche in Vimukthi, in der ich wie immer  veräppelt wurde, nach langen acht Monaten immer noch kleine Kulturschocks hatte, kleine Kreaturen sich immer noch zu mir angezogen fühlten und mir, neben Volleyball, ein zweites Spiel beigebracht wurde…

Auf eigene Faust

Wenn Die Jungs das sechsmonatige Programm im Vimukthi absolviert haben, können sie entweder nach Hause gehen oder eine Ausbildung im Residential Vocational Training Center (RVTC) abschließen als Elektriker, Fahrradmechaniker oder Klempner. Manche von den Jungs warten schon gespannt auf ihre Versetzung ins RVTC. Manchmal müssen die Jungs auch länger in Vimukthi bleiben, etwa wenn es noch nicht wieder neue Plätze im Center gibt oder sie noch nicht bereit sind wieder in die Stadt zu gehen, da sie dort wieder versucht sein könnten Alkohol, Drogen und Zigaretten zu kaufen oder wieder das Leben auf der Straße aufzusuchen.

Nach den Classes kommt Felix breit lächelnd zu mir und teilt mir mit das er jetzt endlich ins RVTC gehen darf. Da kommen mir schon fast die Tränen des Abschieds, bis ich erfahre das Felix grade einfach alle seine Sachen gepackt hat, um sich nun einfach selber auf eigene Faust zu versetzen. So geht das aber nicht! Mein lieber Felix ist erst in zwei Monaten dran, aber nächste Woche werden drei von meinen Jungs versetzt- und wir bekommen ein paar neue Kinder aus dem Shelter…

Um die Wette

Jeden Tag spiele ich zwei Stunden Volleyball in der heißen Nachmittagssonne und ich werde langsam besser! Vor allem auch, weil Tabea mir Nachhilfe gibt, da sie selber eine lange Zeit gespielt hat. Die Jungs powern sich beim spielen richtig aus; da wird geschmettert,  in die Luft katapultiert und sich aufopfernd in den Sand geworfen. Da ich doch relativ schlecht im Spielen bin, bekomme ich den Ball eher selten zugespielt, was für mich aber voll okay ist. Nicht unoft fliegt im Spiel der Ball weit weg, durch die grasenden Schafe hinüber zu den Mangobäumen. Meistens läuft einer der Jungs los, aber wenn ich schnell genug reagiere, kann ich auch loswetzen. Wenn ich grade eine Weile den Ball nicht bekomme habe ist es besonders angenehm sich jetzt mal wieder zu bewegen. Und da ich von den Jungs weg laufe muss ich mir auch keine Sorgen machen wegen meinem ~Chunni~ .

Ich sprinte zu den Bäumen hinüber um den Ball zurück zu holen, bis ich Rascheln hinter mir höre. Ich schaue beim Laufen über meine Schulter und sehe Dubai, den muskulösen Hirtenjungen, hinter mir rennen. Es wird ein knappes Wettrennen, bei dem ich um Haaresbreite verliere. Das Spiel geht weiter bis der Ball ins Out geschmettert wird und im hohen Bogen wegfliegt. Dubai und ich grinsen uns gegenseitig an und drehen uns um. Zeit für eine Revenge.

Wo ich anecke

Nach dem Volleyballspielen laufe ich gemeinsam mit Durgu, einem der Betreuer, zurück zum Haupthaus. Da bemerke ich eine seltsame Narbe auf seinem Oberarm. „What is this scar?“ frage ich. Durgu erzählt mir, das er schweigend geboren wurde. Um sicher zu gehen dass er lebt, hat man ein Eisen erhitzt und ihn damit nach der Geburt am ganzen Körper verbrannt. Zur Bestätigung zieht er sein nassgeschwitztes T-Shirt hoch und zeigt mir unzählige Narben auf Bauch, Brust und Rücken- wie die auf seinem Oberarm, „After 64 burns, i cried so loud.“ sagt er lachend und läuft weiter. Ich starre ihm mit offenem Mund nach.

Ich frage einen meiner Burschen was er mal werden will. „I want to go to army, sister. Reinforcement Border Control. Last Month, Kashmir there, there are lot of us members killed with Pakistani.” Auf meine Frage, wieso er denn dahin will, zuckt er nur mit den Schultern. „It is for India. India needs me.“ „And your Parents? What do they think?“ “They don`t like. That is why I am going. Last month, my cousin was selected, he go in November. Soon I am 18, me is also going.” Ich habe dazu eine ganz andere Meinung, aber nach ein paar gescheiterten Denkanstößen gebe ich auf.

Ich sitze abends nach dem Essen manchmal noch eine Weile auf der Auffahrt und kraule die Ohren von Gerti, der sandfarbenen Mischlingshündin. Sie liegt dort immer hechelnd und bewacht das Haus. Ich setze mich immer fünf Meter von ihr entfernt im Schneidersitz auf den Boden, worauf sie aufspringt und schwanzwedelnd zu mir trabt. Dann legt sie ihren kleinen Kopf auf meine verschränkten Beine und lässt den Rest ihres Körpers irgendwie fallen um mir ihren Bauch zu präsentieren. Ich spiele sie dann wie ein Instrument, wenn ich gleichzeitig ihren Bauch kraule und ihre Ohren knete. Ganz entspannt und fast hypnotisiert, sabbert sie langsam auf meine Hose. Ein Mitarbeiter des Projekts schlendert an und grüßt mich. Gerti  springt ruckartig auf, zieht den Schwanz ein und weicht geduckt ein paar Meter zurück. Im Halbdunkel macht sie sich klein und knurrt meinen Kollegen leise an. „Wieso hat der Hund Angst vor dir?“ frage ich.

Es kommen öfters Leute an wenn ich Gerti grade kraule, aber nie erschrickt sie sich. So reagiert sie nur mit Leuten die sie öfters mal schlagen. Auf meine Frage bekomme ich nur ein schiefes Lächeln und ein Schulternzucken.  Aber ich kenne ja die Antwort.

Kleine Viecher

In Vimukthi gibt es allerlei Viecher. Schlangen, Insekten jeglicher Art und Größe, Ratten. Abends bei der Studytime sitzen wir alle zusammen. Wir haben mal wieder Stromausfall, weswegen der rote Traktor in der Auffahrt mit seinen Scheinwerfern die einzige Lichtquelle im dunklen Haus ist. Ich male ein Mandala aus, als plötzlich die Jungs um mich herum aufgeregt rufen. „Sister, careful!“ Ein Junge zieht eins der Schreibbretter hervor und schlägt es durch die Luft wie einen Cricketschläger. Etwas kleines Braunes fliegt durch die Luft und landet einige Meter mit einem patsch in der Dunkelheit. Eine große, hässliche Kröte ergreift die Flucht. Leider ist das Viech etwas dumm und findet nicht den weg raus, weswegen einer der Jungs das Tier mit den bloßen Händen anfasst. Dabei pinkelt die Kröte, worauf der Junge die Kröte raus in den Garten wirft.

Ein anderes Mal sitze ich bei der Studytime draußen unter den Arkaden und beobachte ein Schachspiel zwischen zwei Jungs, als ich ein leichtes Pieksen auf meinem Knie spüre. Eine Gottesanbeterin, relativ groß sogar, hat sich auf meinem Knie niedergelassen. Dort wippt sie nun nach vorne und hinten, als wollte sie keck fragen was denn jetzt wohl mein Plan sei. Mein Plan? Gar nichts tun. Soll sie doch auf meinem Knie chillen.

Analogie des Schachs

In letzter Zeit habe ich das Schach spielen angefangen. Ich bin super schlecht, aber ich genieße trotzdem das Training, obwohl ich weit öfters verliere als gewinne. Ich habe immer mehr Spaß daran über dieses Spiel nachzudenken, vor allem weil Schach eine wundervolle Analogie zu anderen Bereichen hat, wie zum Beispiel dem Argumentieren.

Der König könnte die These sein. Die These ist eine der schwächsten Aussagen der Argumentation, aber wenn sie fällt, dann ist die Argumentation vorbei. Dann gibt es die Kräfte; wie Königin, Springer, Läufer oder Turm. Sie können Argumente sein, die verschieden wirken und eingesetzt werden. Und die Bauern, das sind die verwendeten Fakten. Man sollte zum Beispiel niemals ein Argument (z.B. Springer) auf einen riskanten Platz setzen ohne es durch Fakten(Bauern) stützen zu können. Sonst  verliert man das Argument. Auch die Regel, dass wenn der Opponent alle seine Bauern(Fakten)  verloren hat und ab dann nur noch eine bestimmte Zahl  Züge(Sätze) stattfinden darf, finde ich sehr übernehmenswert. Der einzige Punkt an dem die Analogie massiv hinkt, ist das dem zufolge alles schwarz und weiß ist.

Kleiner Hinweis: Wenn irgendeine Regel hier falsch stehen sollte, dann liegt das daran, dass hier beim Spielen (Schach oder Volleyball) nur die wichtigsten Regeln behalten werden und der Rest eher Richtlinien sind.

Vielleicht liegt mein Misserfolg im Schach weniger daran dass ich lernunfähig bin, als dass ich während dem Spiel über solche Sachen nachdenke. Viele der Jungs spielen aber auch schon seit Ewigkeiten mehrere Partien Schach am Tag, so dass ich auch mit richtigen Profis lernen kann. Manchmal helfen sie mir auch bei meinen Matches und erklären mir ihre Ratschläge- woraus ich hoffentlich noch viel lernen werde.

Ich bin schon gespannt auf die neuen Jungs nächste Woche!

Liebe Grüße an alle zuhause,

Eure Lilli