Ich bin dann mal raus von zu Haus

Ein Jahr in Bolivien

„Paro civico indefinido“ oder „In der Ruhe liegt die Kraft!“

Hallo zusammen,

wie ich in meinem letzten Beitrag schon angekündigt habe, berichte ich nun einmal ausführlich über die politischen Entwicklungen hier in Bolivien.

Mir ist aufgefallen, dass die Medien zum Teil ein etwas anderes Bild von dem was hier zur Zeit in Bolivien abgeht vermitteln, als es meiner Auffassung entspricht. Das liegt vor allem daran, dass sich der Fokus meist auf La Paz richtet, wo die Proteste und Aufstände wirklich heftig waren.

Bürgerkrieg würde ich es nämlich nicht nennen.

Es gibt Tage, an denen man wirklich mitbekommt wie rau es hier zwischen den beiden Fronten zugeht. Diese beiden Gruppen sind zum einen die Anhänger des jetzt ins Exil nach Mexiko geflohenen Ex-Präsidenten Evo Morales und zum anderen die Menschen, die ihn nun am liebsten im Gefängnis sehen würden.#

Kurz gefasst:

Evo Morales hat bei der vergangenen Wahl am 20. Oktober Wahlbetrug begangen, sodass er laut den Ergebnissen ohne Stichwahl zum erneuten Mal zum Präsident Boliviens gewählt worden wäre. Dass er verfassungsrechtlich nicht einmal zu der Wahl antreten hätte dürfen und so auch die Verfassung gebrochen hat sorgte dafür, dass weite Teile der Bevölkerung das Ergebnis nicht akzeptierten und zum „paro indefinido“ – zum Generalzivilstreik auf unbestimmte Zeit ausriefen.

Hier mal ein kleiner Artikel von Spiegel Online zu der Situation:

https://www.spiegel.de/politik/ausland/a-1295829.html

„Paro civico indefinido“ – Was heißt das? … Darunter konnte sich hier keiner etwas vorstellen…

„Mal sehen“ – hieß es dann wie jetzt mittlerweile schon des Öfteren. Es wurde schon direkt nach Verkündigung der ersten Wahlergebnisse über soziale Medien kommuniziert, dass man diesen – in den Augen der Gegner Evo Morales‘ – „grob gefälschten“ Zahlen einen Wahlbetrug erkennen kann und so wurde in Santa Cruz der „paro indefinido“ – Generalzivilstreik auf unbestimmte Zeit angekündigt.

Dazu muss man wissen, dass die Stadt Santa Cruz die größte, bevölkerungsreichste und vor allem wirtschaftlich am bedeutendste Stadt in Bolivien ist. Mit so einem Streik, der wirklich sehr großräumig und möglichst allumfassend durchgezogen wurde, konnte also die gesamte Wirtschaft Boliviens ins Ungleichgewicht bringen. Genau das gehörte auch zum Plan. Am Mittwoch, 23. Oktober, drei Tage nach der Wahl fing der ganze Spaß dann an.

Erste Straßenblockaden

Stille.

Ich bin nicht wie gewöhnlich, mehrere Male von einem vor unserer Haustür lautstark beschleunigenden Auto aus dem Schlaf gerissen worden, sondern durfte hier erstmals so richtig das Gefühl erleben, vom Wecker wach zu werden. Und siehe da – volle drei Wochen durfte ich das genießen. Es war sehr offensichtlich, dass ich ab dem heutigen Tag auf unbestimmte Zeit meinen Arbeitsweg zu Fuß antreten musste, weil nichts fuhr was so nett gewesen wäre um mich bis ins Stadtzentrum zum Techo Pinardi mitzunehmen. Es konnte ja auch niemand fahren, weil die Straßen überall und an jeder kleinsten Kreuzung blockiert waren. Da wurden über Nacht Steine, Baumstämme, Matratzen, Sessel, Ziegelsteine und jegliche Art von Gegenständen auf die Straßen geschafft, um den kompletten Verkehr zu blockieren. Das war sehr interessant für mich, als ich das erste mal zu Fuß gelaufen bin, denn ich sah alle paar hundert Meter eine neue und sehr individuell zusammengebastelte Blockade.

hier herrscht sonst immer kilometerlanger Stau…

Und damit nicht genug…

…das ganze war ja kein Verkehrs- sondern ein Arbeitsstreik. Deshalb hatten sich an jeder größeren Kreuzung oder auch mal mitten auf der Hauptstraße ein paar Leute zusammengefunden, die sehr plakativ mit einem Becher kühlem Erfrischungsgetränk und ein paar frischen „Empanadas“ (bolivianisches Gebäck) auf der Straße zusammensaßen und einfach – nicht gearbeitet – haben.

21 Tage lang 24 Stunden Belagerung an größeren Kreuzungen

Von den kleinsten Ramschläden bis zu den größten und wichtigsten Firmen Boliviens, die ihren Sitz in Santa Cruz haben war alles dicht. Hier und da hat der ein oder andere kleine Kiosk die blockierenden Personen mit Lebensmitteln versorgt, aber es war alles auf einen Schlag so anders, dass ich diese laute und stinkende Innenstadt von Santa Cruz gar nicht mehr wiedererkannte.

Und wie ging es dem Techo Pinardi?

Auf das Projekt selber hat sich die Situation auch ausgewirkt. Es wurde mehr Zeit in der Einrichtung verbracht – Ausflüge zum Fluss neben der Stadt oder mal ins Zentrum schlendern war während dieser Zeit eher unpraktisch, da man ja alles zu Fuß laufen musste. Das war wirklich hart – es gab ja immerhin noch ein paar Leute, die arbeiten mussten – Sei es das Krankenhauspersonal, was in der Zeit auch stark eingeschränkt funktionieren musste oder Projekte wie das, in dem wir arbeiten. Die ganzen „Hogares“ (Kinderheime) und alle sonstigen Einrichtungen, wo unabhängig von jeglicher politischer Lage Personal vorhanden sein musste, kamen ganz schön ins Schwitzen. Und das Wort-wörtlich: Eine Wochenendsbetreuerin, die in einer anderen Stadt, etwas außerhalb wohnt, musste – wohl oder übel – volle 8 Stunden Fußmarsch auf sich nehmen, um ihrer Arbeit nachzukommen. Und damit war sie nicht die einzige: Auch bei anderen „Educadores“ (Erziehern) war der Arbeitsweg, soweit man kein Motor- oder Fahrrad zur Verfügung stehen hatte, mit einer Länge von 3 bis 4 Stunden meiner Auffassung nach absolut unzumutbar.

…so haben wir hin und wieder Lebensmittel vom Hogar Don Bosco ins Techo gebracht

Ach ja…

…es gab schon Möglichkeiten sich fortzubewegen. Wie eben schon erwähnt ist man von vier auf zwei Räder umgestiegen und so verwandelte sich Santa Cruz innerhalb weniger Stunden in die reinste Fahr- und Motorradstadt. Lediglich ein paar Autos mit offizieller Genehmigung, wie zum Beispiel Rundfunk oder Presse, durften sich mit Autos ihren Weg durch die Stadt freikämpfen. Das sah für mich als Außenstehenden aber auch alles andere als entspannt aus, wie sie an jeder versperrten Kreuzung oder Durchfahrt umkehren und sich einen anderen Weg suchen mussten. Wenn man beim passieren großer Straßenkreuzungen und Kreisverkehre nicht von seinem Zweirad abstieg, wurde man lautstark von den dort belagernden Leuten angeschrien, dass man ein Systemverachter und Anhänger von Evo Morales sei… Unangenehm.

…Auch die Müllabfuhr hat ihre freien Tage ernst genommen

Da war ich doch ganz zufrieden, dass ich, trotz langer Überlegungen mir auch ein Fahrrad zuzulegen, doch beim Gebrauch meiner zwei Beine geblieben bin.

Ich habe während dieser Zeit wirklich viele Eindrücke gesammelt und bei Zeiten war es auch schwer, mit dieser sehr besonderen, unberechenbaren Situation klar zu kommen aber andererseits bin ich auch dankbar, mal eine solche Zeit hier mitbekommen zu haben. Ich fand es trotz allen Unannehmlichkeiten die dieser Streik mit sich brachte doch sehr vorbildlich und inspirierend, wie friedlich und geduldig die Menschen hier in Santa Cruz gehandelt haben.

Friedliche Demonstrationen

Jede Woche gab es während dieser Zeit an der Statue „Cristo retendedor“ (Christus Erlöser) im Norden der Stadt große aber friedliche Demonstrationen, die ein wirklich starkes Zeichen gesetzt haben. Bei einer dieser Versammlungen war ich auch dabei, nämlich bei der letzten. Direkt nachdem die Nachricht durch die Medien ging, dass Evo ins Exil nach Mexiko geflohen und eine neue Übergangspräsidentin gewählt ist, wurde innerhalb von ein paar Stunden die ganze Stadt über soziale Medien mobilisiert, zum „Christo“ zu kommen und an der Abschlussdemo – und damit sofortigen Aufhebung des Generalstreiks teilzunehmen und mitzufeiern. Das war wirklich ein eindrucksvoller Moment für mich, dort in der Menge zu stehen und mit der ganzen Bevölkerung der Stadt zu feiern, zu beten und zu singen. Und das war dann vorerst das Ende der Unruhen.

Die Abschlussdemo

Alles wieder normal.

Seit dem 12. November, 21 Tage später, funktionierte Santa Cruz wieder so wie wenn nichts passiert wäre – Autos, Busse und Lieferverkehr fuhr ganz normal, das Leben und damit auch der Lärm kehrten in die Straßen zurück. Die Blockaden sind so schnell verschwunden wie sie aufgetaucht waren und alle Läden, Firmen, Radiosender usw. nahmen ihren normalen Betrieb wieder auf.

Bis heute, zum Nikolaustag ist es in Santa Cruz soweit ruhig geblieben – man weiß zwar, dass außerhalb der Stadt von Aufständischen immer wieder Lieferwege blockiert werden und sich daher die Lebensmittelpreise immer wieder ändern, aber das ist für uns hier noch sehr erträglich.

Das wäre es soweit mit meinem kleinen Bericht – hoffen wir mal es bleibt nun so ruhig und die Situation entwickelt sich weiterhin zum Guten –

Eine schöne Zeit und viele Grüße aus Bolivien –

Gabriel

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  1. Elisabeth Schulte-Schulenberg

    E.Schulte-Schulenberg
    Lieber Gabriel! Dein Bericht war aufregend und bei aller Disziplin der Demonstranten klang es ein bisschen gefährlich. Nun, Du bist Zeitzeuge der Geschehnisse. Wir hoffen auf ein gutes Ende der Unruhen und auf eine Rückkehr des normalen Alltags. Mit großer Liebe wünschen wir Dir /Euch gesegnete, fruchtbringende Adventszeit Deine Großeltern

  2. franz-peter kilian

    Hallo Gabriel,
    etwas verspätet, aber trotzdem sehr interessiert.
    Die Demos in Bolivien machen einen sehr organisierten Eindruck.
    auch die PR Aktivitäten. Wer steckt eigentlich dahinter? Wer finanziert das? Gewerkschaften Parteien?? Spontan sind diese Demonstrationen nicht.
    Spannend ist, daß die Demos örtlich sehr konzentriert sind. Gottseidank seid ihr dann weniger betroffen. Alles Gute weiterhin und bis bald
    Peter d.Ä.

    • Gabriel Booms

      Hallo Peter,
      ja – wer das ganze finanziert hat haben wir uns auch gefragt…
      Da steckt wahrscheinlich zum Großteil die Gewerkschaft um den Zivilführer „Luis Fernando Camacho“ dahinter, die da viel Geld reingesteckt haben. Dieser selbsternannte Anführer war und ist die Person, die zu den ganzen Demos und Widerständen aufgerufen hat.
      Im Moment ist alles ruhig hier.
      Tschau und bis dann,
      Gabriel

  3. Peter Ritter

    Lieber Gabriel,
    Dir zuerst herzlichen Dank für Deine Weihnachtsgrüße und für den guten Startwunsch ins neue Jahr. Ebenso danke ich Dir für Deine sehr interessanten Berichte von den bis heute 119 Tagen Deines bewundernswerten Einsatzes in
    Bolivien:
    Bericht vom 7. Dezember am 96. Tag >>>29. Okt. am 57. Tag >>>2. Okt. am
    30. Tag>>>19. Sept. am 17. Tag und 8. Sept. am 6. Tag und schon vom
    7. Tag an (noch kein „dia de descanso“) galt für Dich: „Mas lento por favor.“ –
    Test bestanden; der kann morgen wiederkommen.
    So wünsche ich Dir und Deinen Voluntärs-KollegInnen weiterhin:
    „Hasta la Vista 2020! “ – Eine gute Zeit 2020! und
    „Hasta la proxima vez!“

    Dein Peter aus München

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