Liebe Leser,
heute beschäftige ich mich einmal mit einem etwas ernsterem Thema. Mit etwas, womit ich tagtäglich konfrontiert werde, mir immer wieder den Boden unter den Füßen reißt, mir die Augen öffnet beziehungsweise mich im selben Moment das komplette Leben hinterfragen lässt.
Es sind die Geschichten vieler Kinder und Jugendlicher hier, die Zustände hier in Gesundheit, Bildung, Wirtschaft, welches Risiko viele Menschen eingehen, um ihren Familien zu helfen.
Alban*, 15 Jahre
Sein Vater ist im Oktober nach England gegangen. Natürlich hat er keine Aufenthaltsgenehmigung, deswegen darf er das Land nicht verlassen, sonst hat er viele Probleme und kann erstmal nicht mehr zurück, um seine Familie zu besuchen. Vermutlich sieht er ihn um die 5 Jahre nicht. Alban ist 15, das heißt bis er 20 Jahre alt ist. In dieser Zeit wird er die Schule beenden, die Universität beginnen, vielleicht schon seine zukünftige Frau kennenlernen – das allerwichtigste für die Albaner, ist die Familie, deswegen wird auch möglichst früh geheiratet, sobald die Uni beendet wurde, manche auch schon nach der Schule. Dabei wird auch unendlicher Druck von zu Hause ausgeübt.
Ronaldo*, 19 Jahre mit seinem Bruder 16 Jahre und seiner Schwester 8 Jahre
Seit Februar leben sie bei den Großeltern, denn die Eltern sind nach Griechenland gezogen. Dort versuchen sie momentan an ein Visum zu kommen und arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Die Großeltern allerdings versuchen nach Amerika auszuwandern, denn dort lebt der Rest der Familie. Auch Ronaldo möchte nach dem Beenden seiner Ausbildung nach Amerika. Momentan besucht er von Montag bis Freitag von 8 Uhr bis 13 Uhr die Don Bosco Schule, um eine Ausbildung als Elektriker zu machen. Von 14 Uhr bis 22 Uhr arbeitet er als Rezeptionist in einem Hotel, dies allerdings 7 Tage die Woche, Wochenende oder gar Urlaub hat er nie. Dabei verdient er 200€ im Monat.
Enio*, 17 Jahre
Diesen Sommer beendet er die Schule und wird dann zu seiner Schwester nach Italien ziehen, um dort zu studieren und zu leben.
Fiorela*, 17 Jahre
Auch sie beendet dieses Jahr die Schule, momentan besucht sie zweimal wöchentlich einen Türkischkurs. Sie möchte nach der Schule in die Türkei, um dort zu studieren.
Jozef*, 19 Jahre
Letzten Monat bekam er sein Visum für Amerika. Er wird dort studieren und ein neues Leben beginnen. Er möchte seine Familie mitnehmen und auch ihnen diese Chance ermöglichen.
Ronaldo, Enio, Fiorela und Jozef sind beste Freunde. Sie sehen sich fast jeden Tag und gehen durch dick und dünn miteinander. Nach diesem Sommer werden sie sich allerhöchstens nur noch einmal im Jahr sehen, sie werden ein neues Leben beginnen. Warum? Weil die Umstände hier teilweise katastrophal sind. Als Lehrer kann man kein höheres Gehalt als 350€ erwarten. Als Arbeiter höchstens 200€. Lebensmittel sind hier zwar nicht so teuer, aber Klamotten kosten fast so viel wie in Deutschland. Viele kaufen diese deswegen auf dem Second-Hand-Markt, welche in Massen aus Italien gebracht wurden. So etwas wie Krankenversicherung? Gibt es nicht. Aber wer geht hier schon freiwillig ins Krankenhaus? Noch war ich nicht dort, ich hoffe auch, dass ich niemals gezwungenermaßen hinmuss, allerdings meinten die Priester einmal, wenn nächstes Mal ein Kind verletzt wird, nehmen sie mich mit, nur um mir zu zeigen, dass ich niemals krank sein möchte.
Auch meine Freundin, die als deutsche Volontärin in einer Ambulanz in Shkoder aushilft, hat mir schon die ein oder andere Schauergeschichte von Verletzungen erzählt. Viele der Patienten, die zu ihnen kommen, waren bereits im Krankenhaus, aber wurden dort nicht richtig behandelt.
Die Jugendlichen möchten in anderen Ländern leben, denn dort sind die Lebensbedingungen besser, sie können eine besser Bildung erhalten, mehr Geld verdienen. Auch Bildung sieht hier schlecht aus, man muss auf eine Privatschule gehen, um etwas zu lernen. Da die Lehrer so schlecht bezahlt werden, macht fast niemand diesen Job. Oder es gibt nur einen Lehrer für die komplette Stufe, deswegen kommen auch viele der Jungs zu uns ins Wohnheim. Viel läuft hier über Korruption, vor allem an den Universitäten. Dabei besteht nur ein wirklich kleiner Teil tatsächlich aufgrund der Leistung, der Rest bezahlt einfach. Selbst wenn man studiert hat, sehen die Arbeitsplätze schlecht aus und viele enden einfach als Bedienung: schlechte Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung, schlechtes Trinkgeld.
Ich bin immer überfordert, wenn mir die Leute sagen, sie möchten nur weg aus Albanien. ,,Hier ist es doch so schön“, pflege ich zu sagen. Aber ja klar das sage ich mir so leicht, ich , die ich aus Deutschland komme, wo ich selbstverständlich eine gute Schule besucht habe, egal ob privat oder staatlich, wo ich zweimal im Jahr zur Vorsorgeuntersuchung beim Zahnarzt ging und deswegen nicht viele Löcher und fehlende Zähne habe, wie so viele Jugendliche hier. Wo ich zum Arzt gehen konnte, wenn ich irgendetwas hatte und ja das hat die Krankenkasse bezahlt. Hier hat jeder gesundheitliche Probleme mit irgendetwas. Nicht selten kommt es vor, dass ich kurz auf jemanden warten muss, weil er wegen Schmerzen in den Knien gerade nichtmehr weiterlaufen kann oder keine Luft mehr bekommt, weil er Probleme beim atmen hat. ,,Mach dir nichts, das habe ich öfter“, bekomme ich gesagt.
Ich lebe erst seit 8 Monaten hier und in 4 Monaten fliege ich wieder zurück nach Deutschland, werde eine gute Universität besuchen, das ganze natürlich kostenlos, denn ich habe diese Privilegien, da ich das Riesenglück hatte, in Deutschland geboren zu werden. Und selbst in Albanien lebe ich im Luxus, ich habe rund um die Uhr warmes Wasser, bekomme 3 Mahlzeiten: Frühstück, gekochtes Mittag- und Abendessen. Ich werde diese Erfahrungen für immer bei mir tragen und einfach nur dankbar sein dafür und dafür was ich gelernt habe, dass eben alles was ich in meinem Leben bis jetzt haben konnte, nicht selbstverständlich ist. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich so viel lernen konnte, auch wenn ich mich so machtlos gegen diese Ungerechtigkeit fühle.
*Die Namen sind erfunden, die Geschichten wahr. Dies sind allerdings nur wenige Beispiele. Jeder Einzelne hier hat Verwandte oder Freunde im Ausland und lebt selbst mit dem Wunsch irgendwann einmal ein besseres Leben in einem anderen Land zu führen. Die Zustände hier reißen viel zu viele Familien und Freundschaften auseinander.
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