„Ach übrigens: Ab nächsten Samstag beginnt hier in Santa Cruz ein Generalstreik, der einen Monat dauern soll. Es werden keine Micros fahren und am besten deckt ihr euch auch noch mit Lebensmitteln ein, da wahrscheinlich die Läden schließen.“
Diese Nachricht überbrachte man uns vor ungefähr einem Monat. Da wir nicht wirklich wussten, was auf uns zukommen wird, haben wir uns also mit einem guten Vorrat an Lebensmitteln eingedeckt, wobei uns unsere Vorkenntnisse aus dem Bereich Hamsterkäufe sehr zur Hilfe kamen. Kiloweise Nudeln, Reis und Linsen haben wir vom Mercado nebenan nach Hause geschleppt. Verhungern würden wir also vorerst schonmal nicht, wir waren gerüstet. Und ein paar unserer Stammverkäufer haben uns dann auch noch versprochen, dass sie ihre Läden zumindest teilweise öffnen würden.
Und dann war es soweit. Am Freitag hatten wir noch einen gemütlichen Filmabend, als um Punkt Mitternacht vereinzelt Feuerwerke den Start des Streiks verkündeten. Als wir später dann vom Balkon aus nach spannenden Ereignissen Ausschau hielten, waren bereits Straßenblockaden in Form von kleinen Steinhaufen auf der Straße vor unserem Haus eingerichtet worden. Auch in anderen Straßen und vor allem den Kreisverkehren kann man die unterschiedlichsten Straßensperren entdecken. Es scheint beinahe so, als gebe es einen Wettbewerb, wer die kreativste Blockade errichtet. Für die Bewohner bedeutet das: Entweder zu Fuß gehen oder das alte Fahrrad aus dem Keller holen, dessen Benutzung normalerweise viel zu gefährlich ist.
Was bedeutet der Streik für uns?
Seit 25 Tagen (heute ist der 15.11.2022) ist Santa Cruz jetzt schon im Ausnahmezustand. Nur für uns Volos hat sich nicht allzu viel geändert. Der Mercado hat meistens doch bis 12 Uhr Mittags geöffnet, manche Läden sogar darüber hinaus (z.B. meine Empanada-Verkäuferin des Vertrauens. Hallelujah!!!). Arbeiten können wir eigentlich ganz normal, da wir direkt neben dem Hogar leben. Nur Lukas, der im Techo Pinardi im Stadtzentrum arbeitet, musste sich neu organisieren, da keine Micros fahren und man zu Fuß doch wesentlich länger unterwegs ist.
Allerdings ist es für manche Betreuer ein so weiter Weg zur Arbeit, dass sie beispielsweise vorrübergehend im Hogar eingezogen sind. Und auch wir sind sehr in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, Ausflüge sind nur im näheren Umfeld möglich und man muss immer die aktuelle Situation im Auge behalten, da es immer mal wieder Tage gibt, die gefährlicher sind als andere. Ebenfalls neu sind die Böller, die eigentlich rund um die Uhr zu hören sind, auch direkt vor unserem Haus. Aber so langsam gewöhne ich mich daran und erschrecke mich nur noch bei jedem zweiten bis dritten Knall… 😉
Ja, aber warum streiken denn die Leute?
Ursprünglich sollte dieses Jahr im November, also jetzt zur Zeit, eine Volkszählung stattfinden. Allerdings hat die Regierung diese auf 2024 verschoben, mit der Begründung, dass es aufgrund von Corona finanziell nicht möglich sei und zudem die technische Ausstattung fehle. Die Forderung ist jetzt also, den „Censo“ schon 2023 abzuhalten. Denn 2025 finden die Neuwahlen statt. Wird das Volk aber erst 2024 gezählt, stehen die Ergebnisse nicht rechtzeitig fest. Das heißt, Santa Cruz hätte einen unverhältnismäßigen Anteil der Sitze im Parlament, da seit der letzten Zählung die Einwohnerzahl wesentlich angestiegen ist. Das bedeutet weniger Einfluss für das wirtschaftliche Zentrum Boliviens. Wobei ebenfalls die Wirtschaft beeinflusst wird, wenn z.B. Steuern oder finanzielle Förderungen nicht richtig aufgeteilt sind. Das ärgert die Leute natürlich, weshalb sie zum traditionellen Druckmittel des Streiks greifen.
Nachdem ursprünglich nur ein Monat angesetzt war, gab es vor ein paar Tagen eine riesige Kundgebung, an der ungefähr eine Million Menschen teilgenommen haben, die den Streik unterstützen. Die Forderungen der Streikenden wurden noch einmal klar formuliert und an die Regierung gerichtet. Da diese aber immer noch nicht zugestimmt hat, wurde der Streik noch einmal auf unbestimmte Zeit verlängert.
¡Hasta pronto!
Angelina
Gudrun Wallmeyer
Dankeschön für den interessanten Bericht! Da kann ich mir ein wenig vorstellen wie es aktuell bei euch läuft, zum Glück scheint eure Arbeit ja nicht ganz so stark beeinträchtigt dadurch. Ich wünsche Dir weiterhin noch eine gute Zeit und auch viel Spass an der Arbeit und mit Deinen Kollegen und den betreuten Kindern! Liebe Grüsse Gudrun