„Hallo Provinz, du bist so wundervoll…“

An den letzten beiden Wochenenden durfte ich mit Padre Silvio und wechselnder weiterer Begleitung (das erste Mal waren noch Bruder Javier und die Psychologin des Oratorios dabei, das zweite Mal dann Martha https://blogs.donboscovolunteers.de/tauschealpengegenanden/2019/10/30/wo-sich-puma-und-guerteltier-gute-nacht-sagen/) jeweils eine Expedition in die argentinische Provinz unternehmen. Die Provinz in der Region Santiago del Estero, die man hier den „Monte“ nennt (was nichts mit Bergen zu tun hat, sondern den Teil eines riesigen Waldes namens Chaco bezeichnet), ist die Heimat unserer Residentes, also der Schüler die hier im Oratorio leben.

„… wer mich kennt, der weiß, ich liebte dich schon als Kind…“

Die Familien hier im Monte wohnen in kleinen Häusern (oder vielleicht sollte man es eher als Baracken oder Hütten bezeichnen) mitten im Nirgendwo. Santiago del Estero oder La Banda, die nächsten Städte „in der Nähe“ (vielleicht ungefähr mit Regensburg zu vergleichen) sind zwischen 3 und 5 Stunden mit dem Bus entfernt. Mit dem Auto ist man vielleicht ’ne halbe Stunde oder Stunde schneller. Jedoch besitzt der Großteil der Landbevölkerung kein Auto und die Fortbewegungsmöglichkeiten beschränken sich somit auf das obligatorische „Moto“ (Motorrad) und eben den Bus, wenn man mal nach Santiago oder La Banda muss. Kleinere Städte gibt es hier eigentlich nicht, die nächstgrößeren Siedlungen sind dann 2 oder 3, vielleicht wenn’s gut läuft mal 5 Häuser. Ausnahmen sind Santos Lugares und San José del Boqueron, die zwei Dörfer in denen wir auch übernachtet haben. Hier gibt es wahrscheinlich sogar mehr als 20 Häuser, eine Kirche und eine Möglichkeit etwas in einem kleinen Kiosk zu kaufen oder sein Auto bzw. Moto an einer Tankstelle aufzutanken.

Dadurch, dass die Familien in so unmittelbarer Nähe bzw. mitten im Wald wohnen, hat man auch einen ziemlich besonderen Draht zur Natur (dazu später mehr). Obwohl man hier wirklich gerade das Nötigste zum Leben hat (subjektiv aus meiner deutschen Sicht betrachtet, würde ich das eigentlich eher als „bittere Armut“ bezeichnen), wollen die Menschen hier nicht weg. Die Jungs aus dem Oratorio haben auch gemeint, dass sie nach dem Studium wieder zurück aufs Land wollen. Die meisten von ihnen werden dann als Lehrer, der ein oder andere als Polizist zurückkehren. Damit hat man einen sicheren Job und verdient auch den ein oder anderen Peso mehr, um so seine Familie zu unterstützen. Diese versuchen nämlich meist mit Holzwirtschaft oder Holzkohleherstellung um die Runden zu kommen. Die Preise für die Produkte sind allerdings mehr als gering, was bedeutet dass man davon schon ordentlich viel davon produzieren muss. Zusätzlich arbeiten manche auch noch als Erntehelfer für einige Wochen oder Monate in anderen Regionen wie La Rioja oder Mendoza. Am Beispiel Holzwirtschaft lassen sich auch gut die besonderen Kenntnisse der Natur zeigen. So wissen die Campesinos (Landbewohner) genau, wann welcher Baum gefällt werden kann, um eine natürliche Regeneration des Waldes zu gewährleisten und roden auch nie mehr als nötig. Auch wurde uns bei unserem Besuch verraten, dass der gerade gelb blühende Baum Regen ankündige. Kurze Zeit später fing es wirklich an, wie aus Eimern zu schütten…

Der selbst gemachte Honig, den es bei einigen Familien gibt.

„…Die engen Gassen, spielen am Waldrand…“

Als Gassen würde ich die Wege im Monte zwar nicht beschreiben, aber eng waren sie oftmals durchaus. Und einen großen Einfluss auf unsere Expedition hatten sie ebenfalls. Wenn man aus Santiago raus fährt, hat man’s meist erstmal noch ne Stunde recht angenehm, ne relativ breite Teerpiste führt zu den letzten gut angebundenen Dörfern. Danach kann man dann aber schon froh sein, dass das Oratorio ’nen Pickup am Start hat. Zunächst folgt der Teerstraße eine breite Schotterstraße mit riesigen Schlaglöchern, die den Wald in Nord-Süd-Richtung durchquert und auch von den Bussen genutzt wird. (… man stelle sich einen Regensburger RVV-Bus auf einer Rallye-Dakar-Strecke vor… durchaus spannend… da brauchts ’nen „Busfahrer-Kurt“ mit Rennerfahrung oder Walter-Röhrl-Genen)

ein eher breiter Weg…

Die Kids steigen dann irgendwo an dieser Strecke aus dem Bus aus und müssen entweder weiter laufen oder sich mit einem Moto von einem Familienmitglied abholen lassen. Wir allerdings fahren mit unserem Geländewagen zu den Hütten der Familien auf Wegen, die man oft als etwas breitere Wandersteige bezeichnen könnte. Links und rechts liegen des Öfteren mal Tierkadaver oder Skelette, meiner Einschätzung nach meist von den frei rumlaufendenden Rindern hier (die möglicherweise eine unschöne Begegnung mit einem Puma oder ähnlichem hatten). Die Hupe wird auch regelmäßig benötigt um die noch lebenden Rinder, Pferde, Esel, Chanchos (eine Art Borstenschwein) oder Ziegen vom Weg zu scheuchen. Einmal mussten wir auch ’nen fetten Holzpflock aus dem Boden reißen, um überhaupt irgendwie weiter zu kommen. Achja und wenn’s regnet, dann war’s das halt mit der Fortbewegung… dann wird aus der Erdpiste Schlamm und dann heißt es Gute Nacht Marie…! Deswegen mussten wir auch, als es anfing zu schütten, umkehren und konnten beim ersten Mal nicht alle Familien besuchen…

chancho
der obligatorische Familienpapagei
…wenn der Regen kommt, und alles unter Wasser steht…

Hier kennt sich jeder, du wirst nie alleine sein

Tatsächlich kennt man sich hier auf dem Land und das nicht nur im gleichen Dorf. So kennen viele auch die Familien die 50km oder mehr entfernt leben. Das ist ziemlich praktisch, weil man die Häuser der Jungs nicht immer aufs erste Mal findet und egal wen man fragt, man bekommt immer eine recht gute Wegbeschreibung geliefert. Probleme gibt’s nur wenn beispielsweise das halbe Dorf mit Nachnamen Romero heißt… Eine nette Anekdote zu dem Thema gab’s, als wir beim Vater von Paulo (*Name geändert) zu Besuch waren. Ein Standardteil der Gespräche besand immer daraus, wo wir schon waren und wo wir noch hinfahren. Padre Silvio zählt also einige der Jungs auf, die wir schon besucht haben. Die Antworten des Vaters sind immer die gleichen: „Ahhh el es mi sobrino (Er ist mein Neffe)“, „El también (Er auch)“, „también un sobrino (auch ein Neffe)“, „sobrino (Neffe)“. So geht das fast 10 Minuten. Anscheinend sind die circa die Hälfte der Oratoriobewohner mit ihm verwandt…

Denn die Familie ist hier noch etwas wert
Kein Genderwahnsinn, nur Vater, Mutter, Kind

Das typische klassische Familienklischee trifft hier auch eher selten zu. Klar es gibt schon ab und zu Vater, Mutter und (viele) Kind(er). Jedoch gibt es auch viele weniger klassische Familienbilder. So sind hier alleinerziehende Elternteile genauso verbreitet wie in der Stadt. Und viele Väter haben auch außerhalb ihrer Kernfamilie weitere Kinder (somit wird die sobrino-Anekdote auch gleich nochmal wahrscheinlicher).

Facundo (*Name geändert) lebt außerdem beispielsweise auf dem Land bei seinen Großeltern, da der neue Mann seiner Mutter ihn nicht aufnehmen möchte und bei seinem Vater auch kein Platz für ihn ist. Da Facundo sowieso nicht oft heim fährt und sich seine Tutorin in der Stadt (eine Tante) auch nicht wirklich für ihn interessiert, hat er im Prinzip keine wirkliche familiäre Vertrauensperson.

Ein anderer ehemaliger Bewohner ging seine ganze Kindheit lang davon aus, dass seine Großeltern seine Eltern seien, bis er dann als junger Erwachsener aufgeklärt wurde, dass der junge Mann, den er für seinen älteren Bruder gehalten hatte, eigentlich sein Vater sei.

Ein weiteres wichtiges Thema – Der Kampf ums Land

Der Norden Argentiniens (u.a. die Provinzen Santa Fe, Cordoba, Santiago del Estero oder Misiones) besitzt aufgrund der klimatischen Verhältnisse einen sehr nährstoffreichen Boden, was grundsätzlich ja eine ganz feine Sache für die Bewohner ist. Problem bei der ganzen Geschichte ist, dass die Campesinos keine offiziellen Papiere für das Land haben, auf dem sie schon seit Generationen leben, ihre Holzwirtschaft betreiben oder ihre Tiere halten. Somit kann die Regierung den Grund an Großbetriebe verkaufen, die ganz scharf darauf sind hier Soja anzubauen oder riesige Rinderfarmen zu errichten. Dies würde die Abholzung großer Teile des Chacos bedeuten, und der Chaco ist nach dem Amazonasregenwald der zweitgrößte Wald Südamerikas, besitzt also einen dementsprechend großen biologischen und globalen Stellenwert, auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel.

Ohne Dokumente können sich die Bewohner allerdings rechtlich auch nur schwer gegen die Unternehmen wehren. Die einzige Möglichkeit ist sich strukturell zu organisieren und sich in Vereinen zusammenzuschließen um somit eine gemeinsame Stimme zu haben und dadurch von den Mächtigen gehört zu werden. Gemeinsam mit den Jesuiten, die hier die Pfarrei in San José del Boqueron betreuen, versuchen sie außerdem das Land zu verteidigen, wenn die Bagger anrollen, und einfach nicht zurück zu weichen. Man kann nur hoffen, dass sie schlussendlich ihre Heimat und Lebensgrundlage behalten dürfen und dieser wunderbare Ort so erhalten bleibt, wie er ist (bitte schaut euch für einen kleinen Eindruck das Video hier an: https://www.youtube.com/watch?v=Pagb3fV29X0 )

Mit diesen wunderschönen Naturaufnahmen bin ich nun schon am Ende angekommen und sende euch viele Grüße von der Südhalbkugel und wünsche euch einen gelingenden Wochenstart

Euer Simon

Anmerkung: Die oben verwendeten Zitate stammen aus dem Song „Hallo Provinz“ von Egotronic, der ein sehr kritisches Bild des „Lebens auf dem Land“ zeichnet. Um Missverständnisse zu vermeiden, will ich hier nochmal klarstellen, dass ich keine Absichten hege, die Provinz schlecht zu reden. Aber ich denke, ihr habt durch den Artikel bestimmt mitbekommen, dass mein Bild der Provinz ein sehr positives ist. 🙂