Ich weiß nicht ganz was ich fühlen soll. In meiner letzten Woche in Vimukthi bin ich etwas stumpf geworden. Ich wusste, dass ich nur noch 4, 3, 2 Tage in Vimukthi habe und das ich meine Jungs bald nicht mehr sehen werde. Ich glaube ich habe mich einfach nicht getraut mir selber zuzugestehen dass ich GEHE. Tabea ist zurzeit auf Urlaub, so dass ich in meiner letzten Woche alleine in Vimukthi war, was irgendwie auch gut war. Aber nun, hier mein Eintrag über die letzte Woche Vimukthi.
Der Monsun
Vimukthi ist wunderschön zurzeit, der Monsun hat endlich eingesetzt. Die vertrockneten Stellen kahler, roter Erde sind endlich zugewachsen. Die Büffel sind zwischen den Mangobäumen und grasen. Ich helfe zum letzten Mal bei der Buffalo-Duty mit. Ich wische mit dem Reisigbesen die Gülle von der Liegefläche der Tiere, als mir ein starker Wind ein paar Strähnen aus dem Dutt zupft. Der Monsunregen kündigt sich immer durch eine starke Böe an, und 10 Minuten später öffnet sich der Himmel und tränkt die rissige Erde mit Wasser.
Die Jungs und ich sind nicht rechtzeitig mit der Duty fertig geworden, und die Büffel sind noch draußen in der Plantage als der Regen einsetzt. Die Jungs rufen in die Bäume hinein, und langsam trotten die schwarzen Büffel durch den Starkregen auf uns zu. Hinter ihnen die Gestalten von den Jungs die gerade hüten müssen, sie sind klitschnass. Fluchend stellen sie sich zu uns unter das trockene Vordach und fangen leicht an zu zittern, dabei hat es immer noch um die 30 Grad. Der Blick eines Junges gleitet durch den Stall und … “Ni amma.” Die Büffelbabys sind angeleint unter einem Mangobaum, unter dem sich langsam eine Pfütze bildet. Ihre großen Segelohren hängen miserabel hinab. Der graue Himmel grollt unversöhnlich und gibt noch mehr Regenschauer, als eine kleine hitzige Diskussion entbricht, wer raus in den Regen muss und die Kälber holt.
Ich gehe mit zwei Jungs hinaus in den Regen, jeder packt jeweils ein Kalb. Eine Hand am Strick, eine Hand am Ohr. Nur zu brav trappeln die Kleinen neben uns her, in die Trockenheit des Stalls. Mit 16 Büffeln, 3 Kälbern, 5 Jungs und mir ist der Stall doch schon ordentlich voll. Doch es breitet sich schon bald dieses heimelige Gefühl aus, im Trockenen zu sitzen, während es draußen stürmt und regnet. Wir reden nicht, sondern schauen alle nur still in den Regen.
Von dem Wellblechdach des Stalles tropft das Wasser in kleinen Rinnsalen zu Erde. Der Regen fällt draußen peitschend auf die Erde und formt in der Luft komische Formen, dort wo er vom Wind weiter getragen wird. Die knorrigen Mangobäume wiegen sich unter dieser Naturgewalt, die grünen Äste biegen sich bedrohlich gen Boden. Der Rhythmus des Regens ist wie Musik. Das Wasser sammelt sich in kleinen Pfützen, dann laufen sie über. Rot-schlammige Flüsschen rinnen durch die Grasfläche und verschwinden hinter dem Haus… wir reden nicht, sondern schauen alle nur still in den Regen. Ich denke über Deutschland nach und die Menschen die dort auf mich warten. Mir fällt auf, dass es dort viele Menschen gibt, die ich seit einem Jahr vermisse und endlich wieder in den Arm nehmen will. Und dass ich mit ihnen gerne Sachen zusammen erlebt hätte, wie zum Beispiel das Gefühl von einem Monsunregen.
Wir warten 20 Minuten bis der Regen aufgehört hat und treten dann hinaus ins Freie. Die Luft ist klar und riecht nach nasser Erde und Gräsern. Der Boden ist aufgeweicht, und die Jungs und ich laufen zurück zum Haupthaus, neben uns in den hohen Gräsern sind die Schafe von Vimukthi, ihr fleißiges Knabbern hat wieder eingesetzt. Auch sie sind durchnässt, aber mit ihrer dicken Wolle stört es sie anscheinend gar nicht. An ihren dicken Zotteln fallen glitzernde Wassertropfen in den roten Schlamm.
Das ist das Bild das ich von meiner letzten Woche in Vimukthi behalten werde.
6 Monate
Ich war 12 Monate in Indien, und die längste Zeit war ich in Vimukthi. 6 Monate war ich in hier. In meinem Blog schreibe ich “die Jungs”, aber ich weiß dass “die Jungs” K, A, R, N B und so weiter heißen. Ich weiß dass K wegen den kleinsten Sachen an die Decke geht, im Affentempo beschuldigt und mit seinem Zeigefinger auf die Anderen fuchtelt- und das sein Kumpel R immer neben ihm steht und seine Art parodiert, was alle schließlich zum Lachen bringt, auch K. Ich weiß das V aus dem Slum kommt, und R auch. N B hat Angst vor seinem Onkel, weil der ihn immer geschlagen hat. Und P vermisst seine Mutter, aber sie will ihn nicht bei sich haben weil er anstrengend sein kann. Ich habe nicht nur in Vimukthi gearbeitet, sondern dort auch gelebt. Ich kenne die Jungs.
Die ganze Woche über habe ich mich gewundert, wieso ich nicht rumheule. Ich hätte die Woche viel Grund zum Weinen gehabt: Drei von meinen Jungs sind in meiner Abwesenheit weg gelaufen und mein Hund in Vimukthi ist gestorben. Aber ich habe nicht geweint. Ich habe auch nicht geweint, als ich am Mittwochabend ein letztes Mal mit den Jungs im Kino im Dorf war. Ich hatte etwas dazu gesponsert, so dass wir auch mal in den bequemen Sitzen den Film schauen können und alle zwei Snacks bekommen, anstelle nur einen. An dem Abend war ich glücklich. Ich war auch glücklich bei meiner letzten Class, bei der alle Jungs ganz leise und andächtig zugehört haben. Ich war die ganze Woche glücklich und habe die Zeit mit den Jungs genossen.
Farewell-Party
Meine Farewell war am Donnerstag Morgen, bevor ich ging. Meine Sachen waren schon größtenteils gepackt, mein Zimmer fast leer. Den vorherigen Abend habe ich nicht geweint. Die Feier war im Klassenzimmer, die Jungs hatten die Tafel bemalt und “Happy Farewell!”, “Safe journey!”, “Good life!” und “I love you!” geschrieben und kleine Blumen gemalt.
Die Jungs haben viel vorbereitet. Ein selber geschriebenes Theaterstück, ein Lied und drei eigene Tänze. Ein Junge hatte sogar eine Rede vorbereitet. Dann kamen sie alle nach einander nach vorne und sagten mir, was sie an mir mochten, an Momente die wir zusammen hatten und alles, was sie mir einfach noch so sagen wollten. Was sie mir gesagt haben, will ich für mich behalten, denn es gehört nur den Jungs und mir. Ich habe wirklich probiert die Feier nicht zu dramatisch zu nehmen, nicht theatralisch zu sein. Aber Abschiede sind nur schmerzhaft wenn man sich nie wieder sieht, und da meine Jungs am Ende ihrer Laufbahn in Navajeevan stehen, ist es möglich, dass wenn ich in zwei Jahren vielleicht zu Besuch komme, keiner meiner Jungs noch hier sein wird. Und das dieser Abschied damit sehr wohl schmerzhaft ist.
Als alle Jungs fertig gesprochen hatten, durfte ich mein Wort an sie richten. So gut wie ich konnte, habe ich auf Telugu gesprochen. Dass ich hier in Vimukthi glücklich war, jeden Tag mit ihnen zu essen, und ihnen ein “Good Morning!” zu wünschen, wenn ich ihnen das Essen austeilte. Dass ich es geliebt habe, mit ihnen im Unterricht zu scherzen und zu lachen (auch wenn ich mal streng war) und dass die Bastelstunde meine Lieblingszeit des Tages war. Dass ich sehen kann, wie aus ein paar von meinen Jungs schon junge Männer geworden sind. Und dass ich sehr dankbar bin diese Momente und diese Zeit mit ihnen geteilt zu haben und mich das glücklich macht.
Aber dass ich an diesem Tag auch traurig bin, weil ich in Zukunft ein paar Momente mit den Jungs verpassen werde. Ich werde nicht da sein wenn sie ihre Ausbildung geschafft haben und dann zusammen mit Navajeevan feiern. Eines Tages werden die Jungs Männer sein, und vielleicht heiraten und eine Familie gründen und wer weiß noch was Tolles anstellen, und ich werde nicht da sein um es mitzuerleben. Ich bin so stolz auf die Jungs, weil ich weiß, dass sie noch viel weiterwachsen werden- auch wenn ich es nicht sehen werde. Aber Andere werden da sein, die Fathers, Mitarbeiter von Navajeevan, neue Volontäre, ihre Freunde und Familie. Ich weiß, dass obwohl ich jetzt gehe, die Jungs keineswegs allein sein werden. Und dass ich ihnen viel Liebe und Segen wünsche für ihre Zukunft, und sie weiterhin in meinen Gedanken und in meinen Gebeten bleiben werden.
Es war mir eine Ehre in Vimukthi mit diesen tollen Jungs arbeiten und leben zu dürfen
Jetzt weine ich endlich doch, und es ist auch nicht mehr aufzuhalten. Und es gerät außer Kontrolle als Durgu, der Caretaker, kommt und sich vor mich stellt. Er faltet meine Hände wie zur Hostienausgabe, senkt dann seinen Kopf und drückt mir sanft einen Kuss in meine gefalteten Hände. Ich spüre seine warmen Lippen auf meinen Handflächen und seine harten Bartstoppeln an meinen Fingerspitzen. In Vimukthi gab es immer große körperliche Distanz zwischen uns Volontärinnen und den Jungs,
Ich war nicht erwärmt oder berührt durch diese Geste- sondern vollkommen erschüttert. Die Jungs, einer nach dem Anderen, standen auf, traten langsam vor mich und legten einen kleinen Kuss in meine offenen Hände. Die Tränen strömten nun unaufhaltsam über meine Wangen, ein Junge hält vor mir kurz inne, lächelt mich mit trauriger Gewissheit an und sagt leise: “Sister, please stop crying, you eyes will fall out.” Ich spüre ihre weichen Lippen auf meinen Handflächen. Manche haben schon einen kleinen Bart, ihr warmer Atem auf meinem Handballen. Mein kleiner “Phillip” weint ein bisschen in meine Hände. Ich weine ein bisschen auf seinen Kopf. Ich habe davor noch nie so ein Zeichen der Zuneigung von den Jungs erhalten, auch weil es ein bisschen gegen die Vorschriften ist. Aber jetzt gehe ich, also wen interessiert es?
Nach der Feier gehe ich in mein fast leeres Zimmer und sammele mich kurz, damit ich aufhören kann zu weinen. Ich packe meine letzten Sachen zusammen, schließe die Fensterläden damit es nicht reinregnet und schau ein letztes Mal herum, bis ich meinen großen Rucksack schultere und die Tür schließe. Unten warten alle, ich gebe ein letztes Mal meine Telefonnummer an alle die sie haben wollen. Dann nehmen mich die Jungs an der Hand. Sie gehen mit mir gemeinsam bis an das große eiserne Eingangstor von Vimukthi. Dort ein letztes Mal Händeschütteln, keine großen Worte mehr; “Good bye, Sister!”, “Safe Journey Sister!”. Und dann drehe ich mich um und gehe. Die ganze lange Straße an den Ländereien von Vimukthi vorbei, bis ich das hinterste Zipfel von Vimukthi Gardens erreicht habe. Ich schaue noch einmal zurück, die Mangobäume wiegen sich leicht im Wind. Dann gehe ich weiter.
Meine Arbeit in Indien ist zum Ende gekommen.
Eure Lilli
Cara
Einfach herzerwärmend