Nur noch vier Monate! Diesen Gedanken hatte ich in letzter Zeit immer öfter. Schien sich unser Auslandsjahr am Anfang noch ewig vor mir zu erstrecken, fliegen die Wochen und Monate gerade nur noch so dahin. Der Gedanke, sich verabschieden zu müssen, wird immer stärker – und zugleich immer schmerzhafter, weil die Beziehung zu den Jungs, die ich jeden Tag betreue, jeden Tag enger wird. Gleichzeitig hat sich aber auch in meinem Alltagsleben in den letzten Monaten einiges getan.
Wandlungen im Proyecto Don Bosco
Anfang diesen Jahres gab es in unserem gesamten Projekt große Wechsel, was die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angeht, so wurden auch in allen vier Hogars die Leitungspositionen neu besetzt. Bei uns, im Hogar Don Bosco, bedeutete das konkret, dass die Gruppe der Jungs, für die ich mit Jona gemeinsam zuständig war, aufgeteilt wurde. Somit hat nun jeder von uns vier Volontären seine eigene Gruppe, mit der er jeden Tag arbeitet. Dies bedeutet vor allem eines: mehr Verantwortung. Gleichzeitig lassen sich aber nun auch eigene Ideen besser umsetzen, so haben Teresa, Jona und ich angefangen, einmal die Woche einen freiwilligen Englischkurs anzubieten, für alle Jungs, die neben unzähliger Schulaufgaben auch dafür Lust und Zeit aufbringen können.
Freundschaft und Rückhalt – Meine Mitvolontäre
Auch die Beziehung zu meinen fünf Mitvolontären hat sich in den letzten Monaten noch einmal gefestigt und ich habe das Gefühl, so weit von zu Hause entfernt eine zweite kleine Familie gefunden zu haben. Davon zeugen neben unzähligen Gesprächen, Filmabenden und Ausflügen sowohl unser (leider wenig gelungener) gemeinsamer Tanzkurs im März sowie unser zweiter Kurzurlaub Anfang April.
Dafür fuhren wir für drei Tage in ein ziemlich altes, aber wunderschönes Dörfchen, drei Stunden von Santa Cruz entfernt: Samaipata! Dort badeten wir unter Wasserfällen, spielten Karten auf der wunderschönen Plaza (dem Dorfplatz), probierten regionale Köstlichkeiten in Cafés und Restaurants, genossen unser erstes richtiges Brot seit sieben Monaten und standen um fünf Uhr auf, um gemeinsam den Sonnenaufgang zu betrachten. Einen Tag lang machten wir sogar erst eine kleine Wanderung durch den Amboró-Nationalpark mit seinen riesigen Farnen und besuchten am Nachmittag noch „El Fuerte“: eine ehemalige Wohn- und Tempelstätte der alten Inkas.
Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, solche wunderschönen gemeinsamen Erlebnisse schweißen unheimlich zusammen und bieten viel Erholung von der manchmal doch ziemlich anstrengenden Arbeit. Zudem hat auch fast alle von uns vor einem Monat das gefürchtete Dengue-Fieber erwischt und (ebenso wie den Großteil unserer Jungs) für eine Woche lahmgelegt, von daher hatten wir eine Pause zum Durchatmen umso nötiger.
Das enge Verhältnis zu meinen Jungs
Dadurch, dass ich die letzten Monate so gut wie jeden Tag mit den Kindern im Hogar verbracht habe, ist unsre Beziehung immer enger geworden und weiter gewachsen. So kommt es nicht selten vor, dass wir auch an unserem freien Tag bei ihnen sind, um ihnen bspw. für ihren Geburtstag frisches Popcorn vorbeizubringen.
Letzten Freitag veranstaltete die Schule der Jungs ein Fußballturnier, wobei jede Klasse ein Land vertrat (inklusive eigens gedruckter Trikots), bei welchem sie mich unbedingt dabeihaben wollten. Als ich dann tatsächlich kam, haben sie sich unglaublich gefreut, mich sofort Klassenkameraden und Lehrern vorgestellt und mir ein Argentinien-Trikot besorgt, damit ich auch ja für das richtige Team jubeln würde. In meinem ganzen Leben habe ich nie so bei einem Fußballspiel mitgefiebert wie bei diesem; es wurde geschrien, geklatscht und gehüpft, bis die Bank unter uns wackelte. Und was soll ich sagen – meine Jungs schlugen das deutsche Team (die andere sechste Klasse) mit einem vernichtenden 5:1!
Alltägliche Glücksmomente
Im gleichen Maße, wie mir meine Jungs ans Herz gewachsen sind, merke ich auch, dass ich für einige eine der engsten Vertrauenspersonen geworden bin. Denn egal wie stressig oder ermüdend der Alltag zwischendurch sein mag – es sind die kleinen Glücksmomente mit den Jungs, in welchen ich stets wieder feststelle, wie richtig die Entscheidung für mein Auslandjahr, für die Arbeit mit genau diesen Kindern gewesen ist. Und solche Momente, die mir wie kleine Lichter Hoffnung und Kraft geben für lange Arbeitstage und mich bestärken, kommen immer wieder vor, besonders an schlechten Tagen, an denen ich überhaupt keine Motivation aufbringen kann, machen die Jungs diesen doch noch zu einem glücklichen.
Wenn ich an kalten Tagen im T-Shirt komme und mir Nari sofort, ohne Widerspruch zu akzeptieren, seine eigene, viel zu kleine Jacke gibt oder mir anvertraut, dass er heute seinen ersten Kuss hatte, der irgendwie doch ganz anders war als gedacht, merk ich, wie wichtig ich ihm bin. Ebenso, wenn mich Rodrigo verzweifelt um Rat fragt, wenn er Streit mit seiner Freundin hat und jedes Mal zu mir kommt, wenn er seine Familie vermisst. Ich liebe es, jeden Tag aufs Neue gegen meine Jungs im Armdrücken zu verlieren und doch stets neu herausgefordert zu werden oder abends oft erst eine halbe Stunde später nach Hause zu kommen, weil ich auf keinen Fall die Pizzamassage als unser gemeinsames Abendritual vergessen darf.
Genauso schön ist es mit Namermo zu singen oder Gitarre zu üben oder, wenn Pavlis (wie bei meinen Geschwistern zu Hause) abends genau das Lied singt, von welchem ich schon den ganzen Tag lang einen Ohrwurm habe. Besonders süß fand ich es auch, als Pitufo nachmittags stundenlang geschrieben und gezeichnet hat, damit wir abends zusammen die („gefundenen“) Horror-Briefe lesen und die extra ausgedachten Geheimschriften und Rätsel entschlüsseln konnten. Ich merke, wie sehr sie mir zum Teil mittlerweile vertrauen, wenn sie mich bitten, sie nachts zum Schlafsaal zu begleiten, weil sie Angst im Dunkeln haben oder mich fragen, wie sie am besten ein Mädchen ansprechen, weil sie immer kein Wort rausbekommen.
Alles in allem merke ich jetzt schon, dass es gerade solche Momente sind, die den Freiwilligendienst ausmachen und die ich mit nach Hause nehmen werde. Und während die Monate geradezu verfliegen, weiß ich nicht, wie ich mich je von einigen dieser Kinder verabschieden werde können. Aber zum Glück sind es doch noch viele, viele Wochen bis dahin, in denen erstmal nun die große Bolivienreise mit Teresa ansteht, auf die ich mich unglaublich freue und von der ich ganz sicher auch berichten werde.
¡Hasta luego-Bis bald!
Hannah
P.S.: Die Kindernamen habe ich zum Schutz alle verändert.
Miriam Reimer
Liebe Hannah, sehr berührend zu lesen. Wie wertvoll, so vertrauensvolle Beziehungen zu haben zu den Jungs! Ganz liebe Grüße, bis September und bis dahin noch eine erfüllende Zeit <33