Bolivien – Das was bleibt

Mein Heimflug aus Bolivien ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her – zwölf Monate, in denen wahrscheinlich nicht ein Tag vergangen ist, an dem ich nicht zurückgedacht habe an das Land und all die Menschen, die zumindest einen kleinen Teil meines Herzens behalten haben.

Ich sitze in meiner Studenten-WG in einer neuen Stadt in meinen zweiten Semesterferien und habe das Gefühl, dass für mich jetzt die Zeit gekommen ist, diesen Blog abzuschließen. Ein letztes Mal in diesem Format von meinen Erlebnissen der letzten drei noch nicht erwähnten Monate meines Auslandjahres zu erzählen, den Abschied Revue passieren zu lassen, dankbar zu sein für all das, was mir geblieben ist.

Alltagsleben im Mai, Juni & Juli

Die letzten vier Monate hielten noch einmal viele Highlights bereit:

Zu Ehren der heiligen Maria wurden eine Woche lang Laternen gebastelt, welche anschließend in einem riesigen Umzug, der eher einer Demonstration ähnelte, zum Einsatz kamen. Zwei Stunden lang wanderten hunderte Kinder durch die benachbarten Straßen und riefen Parolen wie „se ve, se siente, Maria está presente“ (man sieht es, man fühlt es, Maria ist zugegen). Es war ein sehr besonderes und zugleich schönes Erlebnis.

Zudem unternahmen wir eine fünfstündige Wanderung zur Wallfahrtsstätte Cotoca, welche um drei Uhr nachts begann und mit einem Gottesdienst und einem anschließenden Tag im Spaß-Park in Cotoca endete – an diesem Abend schliefen nicht nur die Kinder schon im Bus ein.

In Bolivien wurde es Winter und im Hogar (mit seinen 15 °C) daher bitterkalt. In diesen zwei bis drei Wochen verbrachten wir kein Essen ohne fünf übereinandergezogene Pullover und Mützen und das Duschen mit kaltem Wasser jeden Abend wurde von der Wohltat zur Qual. Allerdings lenkten wir uns mit den neu geborenen Hundewelpen, Pizzabacken und einer stattfindenden, riesigen Buchmesse erfolgreich ab.

Auch mit meinen Volos folgten einige erinnerungswürdige Ausflüge: Mit Teresa besuchte ich ein ABBA-Konzert, bei welchem wir nicht nur die einzigen Zuschauer waren, die je ein ABBA-Lied gehört hatten (und daher fleißig mitsangen), sondern sogar die einzigen, die die englischen Texte überhaupt verstanden. Es war trotzdem ein sehr sehr lustiger Abend.

An anderen Wochenenden trampte ich mit Teresa und Angelina in einen riesigen Wasserpark oder besuchte mit Teresa, Jona und einem mutigen Taxifahrer die Menoniten. Letzteres erinnerte stark an eine Zeitreise: Die nur plattdeutsch sprechenden, traditionelle Kleidung tragenden und Pferdekutschen fahrenden Menschen bewirtschaften außerhalb von Santa Cruz ihre Höfe und leben komplett zurückgezogen in ihrer Gemeinschaft. Sie waren angesichts unseres Autos zwar vorsichtig und skeptisch, jedoch auch freundlich und neugierig (selbst wenn die Verständigung äußerst schwer war) und wir kauften ihren selbst hergestellten Käse.

Im Juni reiste ich mit Sofia und Teresa zehn Tage lang nach Medellín in Kolumbien, wo wir bei anderen Don Bosco Freiwilligen in der „Ciudad Don Bosco“ wohnten. Wir besichtigten die Stadt, spielten Räuber und Gendarm mit den Kindern im Projekt, besuchten die berühmten Blumen-Farmen und versuchten das erste Mal in unseren Leben Paragliden über der Stadt.

Zweites Campamento

Anfang Juli ging es für uns erneut mit den Kindern, die die Ferien nicht bei Verwandten verbrachten ins Campamento (Zeltlager), diesmal jedoch in verschiedene: Angelina und ich fuhren mit unseren zwei jüngeren Gruppen nach Cedin. Dort bekam jeder Betreuer eine Gruppe mit fünf Kindern, mit denen wir dann auch in einem Zimmer schliefen und für die wir verantwortlich waren – meine Gruppe nannte sich die „Cocodrilos“ (Krokodile), da wir die grüne Gruppe waren.

Das Campamento bestand aus Lagerfeuern und Pizzabacken, langen Wanderungen und Im-Fluss-Baden, stundenlangen Filmabenden mit Popcorn und Olympiaden in den jeweiligen Gruppen. Auf die Wanderungen nahmen wir immer riesige Töpfe mit dem von der Köchin zubereiteten Essen mit. Einmal krabbelten hundert Ameisen hinein – gegessen werden musste es natürlich trotzdem. Wir trafen die Verwandten eines Betreuers mit einem zahmen Papagei, der sich auf unsere Köpfe setzte und ernteten bei der gleichen Familie zwei Stunden lang die Mandarinenbäume ab. Alles in allem war es eine Zeit voller Freiheit und Spaß – sowohl für die Kinder als auch für uns.

Die letzten Tage

Allzu schlimmer Abschiedsschmerz konnte in den letzten zwei Wochen gar nicht aufkommen, dafür passierte in dieser letzten Zeit viel zu viel:

Zum einen kam mich meine Familie Anfang August endlich besuchen, das Wiedersehen war wunderschön! Ich zeigte ihnen das Hogar und wir spielten alle gemeinsam Karten und bemalten mit meinen Jungs T-Shirts, was riesigen Spaß machte. Zudem kochten wir gemeinsam Linsen mit Spätzle für alle meine Mitvolontäre, besuchten gemeinsam noch einmal die Menoniten und ich konnte ihnen alle Märkte und Highlights meiner neuen Heimatsstadt zeigen.

Auch mit meinen Mitvolos unternahm ich so viel wie nie: Wir liehen uns Fahrräder und machten eine Fahrradtour in ein nicht allzu entferntes Dorf, besuchten ein „Grupo Frontera“-Konzert (das schlechteste meines Lebens, da wir geschlagene fünf Stunden auf die Band warteten, aber immerhin waren die Cowboy-Hüte cool) und feuerten unsere Heim-Mannschaft im Stadion an. Teresa und ich nahmen sogar an einem Schultag teil, um auch zumindest ein klein wenig den bolivianischen Unterricht zu erleben.

Am vorletzten Wochenende fuhren wir sehr spontan über Nacht 14 Stunden nach Tarija, das südlichste bolivianische Departamento, wo wir die Stadt erkundeten und eine sehr sehr lustige Wein-Tour machten. In der letzten Woche organisierten wir im Volontärshaus mit allen 17 Volontären eine große Abschiedsparty: Wir grillten, tanzten und genossen das letzte Zusammensein mit allen bis spät in die Nacht. Das allerletzte Wochenende wollten wir dann noch einmal nur zu sechst verbringen: wir mieteten uns ein Haus mit tollem Pool in Santa Cruz, schrieben Abschiedskarten, spielten Spike-Ball und Ligretto und redeten über Stunden hinweg – ein kleiner Abschied nur für uns.

Auch im Hogar ging es hoch her: Innerhalb von 10 Tagen feierten wir nicht nur den bolivianischen Unabhängigkeitstag am 6. August, sondern auch den Geburtstag Don Boscos am 16. mit über 1000 Menschen in der Turnhalle der Schule – wir durften Spiele organisieren, Tanzaufführungen bewundern und den ganzen Tag die unzähligen Preise verteilen, die die Kinder durch die Spiele erwerben konnten.

Aller Abschied ist schwer…

Erst am letzten Tag schlug die Gewissheit, dass es jetzt vorbei war richtig ein: alle Educadores verabschiedeten sich gemeinsam in einer großen reunión von uns – mit ganz vielen bolivianischen Spezialitäten, einem für uns gesungenen Lied und kleinen selbstgemachten Büchern (mit Fotos des gemeinsamen Jahres und geschriebenen Abschiedsnachrichten von vielen von ihnen).

Besonders schwer war dann jedoch der Abschied von den Kindern. Zuerst innerhalb von meiner Gruppe: Ich überreichte ihnen meine Abschiedsgeschenke, wir sangen noch einmal die Lieder, die uns alle verbunden hatten, wobei dann auch der Letzte der sonst so „coolen“ 23 in Tränen ausbrach, mich natürlich eingeschlossen und am Schluss umarmten wir uns alle ganz oft und machten ein sehr verweintes Abschiedsfoto.

Nach dem Abendessen verabschiedeten wir uns dann im teatro gemeinsam von den Kindern aller Gruppen: mit einer Diashow von Fotos unseres gemeinsamen Jahres, selbstgemachtem Popcorn und Hotdogs. Am Schluss durften wir sie noch ein letztes Mal ins Bett bringen, auch wenn das fast zwei Stunden mit unzähligen Tränen brauchte, in denen wir jeden nochmals umarmten, versicherten, dass wir uns wiedersehen würden und in denen sie uns ihre Namen mit Edding auf die Haut schrieben, damit wir sie nicht vergessen würden – als wäre das je möglich.

Im Volo-Haus packten wir noch schnell unsere Koffer, umarmten unsere anderen Mitvolontäre und um drei Uhr dann auch einander ein letztes Mal, bevor ich mich um kurz nach drei in ein Taxi Richtung Flughafen setzte, um zu meiner Familie nach Cusco zu kommen. Dieser letzte Abschied war aber trotz allem der leichteste – wir wussten schließlich, dass wir uns schon in zwei Wochen in Esslingen wiedersehen würden.

Alles was bleibt

Jetzt bin ich zurück – es ist heute auf den Tag genau ein Jahr seit diesem letzten Abschied vergangen. Ja, die Zeit heilt viele Wunden – auch bei mir ist der Schmerz über diesen Abschied in den letzten Monaten erträglich geworden. Lukas ist bereits heute wieder in Santa Cruz angekommen und auch Teresa und ich haben schon Flugtickets für den kommenden Februar! Statt Schmerz überwiegt mittlerweile die Freude und Dankbarkeit, dieses Jahr genau so erlebt haben zu dürfen, wie es war.

Keiner von uns ist mehr derselbe Mensch, der er vor diesem Jahr gewesen ist, wir sind gemeinsam erwachsen geworden und haben Erinnerungen gemacht, die für immer bleiben werden. Vielleicht ist es das, womit alles endet: Dankbarkeit. Danke an meine Jungs, die mir zu Freunden und Geschwistern wurden – ich wusste nicht, dass man jemanden nach nur einem Jahr so sehr lieben kann. Danke an meine Mitvolos Lukas, Jona, Angelina, Teresa und Sofia: dafür, dass ihr meine zweite Familie geworden seid, ohne die ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen will. Und danke an Don Bosco Volunteers: für dieses Jahr, für dieses Projekt, für euren Einsatz jeden einzelnen Tag rund um die Welt.

DANKE

Vorheriger Beitrag

Im Herzen Südamerikas: Bolivien

  1. Mia

    Du hast so, so tolle Worte gefunden, um all die Gefühle und den Abschied zu beschreiben, danke!! Fühle heute sehr mit dir mit, auch bei uns ist der Beninabschied genau ein Jah her und es tat grade so, so gut zu lesen, wie es dir damit geht! Ganz, ganz liebe Grüße! <3

Schreibe einen Kommentar

Ich stimme zu, dass meine Angaben aus dem Kommentarformular zur Beantwortung meiner Anfrage erhoben und verarbeitet werden. Hinweis: Sie können Ihre Einwilligung jederzeit für die Zukunft per E-Mail an info@donboscomission.de widerrufen. Detaillierte Informationen zum Umgang mit Nutzerdaten finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Läuft mit WordPress & Theme erstellt von Anders Norén