„Piti piti wazo fe nich li“ – Langsam und Stück für Stück baut der Vogel sich sein Nest.

Dieses kreolische Sprichwort symbolisiert in treffender Weise die Lage Haiti´s nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010. Bei meinem zweiten Besuch neun Monate nach dem Beben ist von dem erhofften Wiederaufbau der Hauptstadt Port-au-Prince (PaP) und den umliegenden betroffenen Gebieten nicht viel zu sehen. Wie auch im April bei meinem ersten Besuch, ist der Großteil der Trümmer nach wie vor nicht weggeschafft. Selbst den Präsidentenpalast im Zentrum der Stadt findet man noch immer eingestürzt und ohne nennenswerte Aufräumarbeiten. Dennoch sind kleinere Räumungsarbeiten im Gange. Ich sehe wesentlich mehr großes Räumgerät auf den Straßen als im April und auch sieht man viele Trupps von Haitianern in verschieden farbigen T-Shirts gekleidet, die am „Cash for Work“-Programm der UN teilnehmen. Für ein paar Dollar am Tag werden sie an den Räumarbeiten beteiligt.

Der Verkehr in Port-au-Prince ist unbeschreiblich chaotisch. Für 25km vom Hauptsitz der Salesianer in PaP in die nahe gelegene Stadt Gressier brauchen wir mehr als drei Stunden. Katastrophale Straßenverhältnisse, bis 50cm tief klaffende Löcher im Asphalt, eine nicht durchgängig asphaltierte Decke, meterhohe Müllberge oder Schlammmassen sowie die eigensinnige Fahrweise der Haitianer behindern einen funktionierenden und reibungslosen Straßenverkehr.

Die Menschen, die ich treffe, wirken trotz der unmenschlichen Lebensbedingungen in PaP erstaunlich hoffnungsvoll, umtriebig und freundlich. Ende November stehen die Präsidentschaftswahlen an. Der amtierende Präsident Preval darf nach zweimaliger Amtszeit laut Gesetz nicht mehr kandidieren, daher hat er fünf Kanditaten seiner populistischen Partei ins Rennen um seine Nachfolge geschickt. Insgesamt kandidieren 19 Anwärter auf das Präsidentenamt. Der in den USA lebende aber gebürtig aus Haiti stammende Rapper Wyclef Jean, hat seine Kandidatur vor kurzem zurückgezogen. Gibt es überhaupt eine Hoffnung, dass sich mit einem neuen Präsident etwas ändern wird in Haiti, dass das Land einen Schritt nach vorne macht?, frage ich einen Haitianer, mit dem ich mich während meines Aufenthaltes unterhalte. „Die einzige Hoffnung ist, dass jemand gewinnt, der schon genug Geld hat, so dass er es nicht mehr nötig hat, es uns aus der Tasche zu ziehen,“ so die ernüchternde Antwort.

Schockierend ist weiterhin die Lage der durch das Erdbeben obdachlos gewordenen Menschen. Nach wie vor ist fast jede freie Fläche in der Hauptstadt durch Zelte oder zeltähnliche Behausungen belegt; selbst auf dem etwas breiteren Mittelstreifen an der Landstraße von PaP Richtung Süden haben sich die Menschen in ihrer Not niedergelassen. Man schätzt die Zahl der in Lagern  und Zeten lebenen Menschen auf eine halbe Million. Die Regierung bleibt in dieser Sache weitgehend untätig, Hausbauprogramme sind nur in kleinem Maße angelaufen.  Weitere 600.000 Haitianer haben sich aufgrund der desolaten Situation in der Hauptstadt in den letzten Monaten auf den Weg in die übrigen Landesteile gemacht, in der Hoffnung auf einen Neubeginn und bessere Lebensbedingungen. Das Erdbeben hat somit nicht nur Auswirkungen auf PaP und deren unmittelbare Umgebung sondern auf die gesamte Insel.

Dies spüren auch die Salesianer Don Boscos (SDB). In ihren übrigen Einrichtungen in Cap Haitien, Fort Liberté im Norden oder Les Cayes im Südwesten sind während der letzten Monate unzählige junge Menschen vorstellig geworden, die sich erhoffen, dort eine schulische oder berufliche Ausbildung zu beginnen, bzw. sie zu Ende führen zu können.  Die Schülerzahlen steigen. Dies stellt die Salesianer und ihre Mitarbeiter vor enorme Herausforderungen: zusätzliches  Unterrichts- und Ausbildungsmaterial muss beschafft werden, bauliche Veränderungen müssen z.T. vorgenommen werden und zusätzliches Personal eingestellt werden, um die gestiegene Anzahl von Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen aufnehmen zu können.


Die Arbeit der SDB im Erdbebengebiet in den vergangenen neun Monaten

Thorland:
Auf der großen Freifläche der früheren Jugend- und Bildungsstätte der SDB in Carrefour, im Westen von Port-au-Prince siedeln sich unmittelbar nach dem Erdbeben 15.000 Menschen in Zelten und zeltähnlichen Behausungen an. Koordiniert von den Salesianern und den Don Bosco Schwestern (FMA) werden die Familien mit Hilfe anderer ausländischer Nichtregierungsorganisationen mehrere Monate mit dem Nötigsten versorgt. Nach und nach geht die Zahl der intern Vertriebenen in Thorland zurück, da sich viele Familien auf den Weg in weitere Landesteile Haitis zu ihren Familien machen. Die Übrigen erhalten von Don Bosco substantielle Hilfe für einen Neuanfang. Bei meinem Besuch sind keine Zelte oder Familien mehr auf der großen Fläche zu sehen. Das Gelände sieht jedoch aus wie ein Schlachtfeld und soll nun schnellstmöglich aufgeräumt werden. Die meisten Familien haben sich im um Carrefour herum angesiedelt. Hier betreuen die Salesianer sie weiterhin und kümmern sich vor allem um die Kinder und Jugendlichen, denen sie sinnvolle Freizeitaktivitäten anbieten.

Die Technische Berufsschule ENAM:
Das große Gelände im Zentrum von Port-au-Prince im Stadtteil La Saline war vom Erdbeben extrem stark beschädigt worden. Hier befanden sich vor dem Erdbeben die technische Berufsschule ENAM (Ecóle National des Arts et des Metiers), eine Bäckerei, das Werk der Kleinen Schulen (OPEPB) mit großem Unterrichtsgebäude, Lehrer- sowie Erzieherinnenschule, Werkstätten, das Straßenkinderzentrum Foyer Lakay sowie ein Wohnhaus der Salesianer.

Teile der  technischen Berufsschule ENAM wurden komplett zerstört, andere sind unbrauchbar geworden. Die Salesianer entschieden, dass die neue technische Berufsschule nicht wieder in La Saline, einer der ärmsten und gefährlichsten Gegenden der Stadt, sondern am Stadtrand in einem besseren Stadtteil aufgebaut werden soll. Nach langem Suchen eines Grundstücks wurden sie nun im östlichen Stadtgebiet in „Croix de Bouquets“ fündig. Ein 5 ha großes Grundstück konnte erworben werden, auf dem in Zukunft eine neue technische Schule entstehen soll.

Straßenkinderzentrum Lakou/Lakay:
Die erste Anlaufstelle für Straßenkinder in Port-au-Prince ist Lakou – der Hof. Hier konnten nach dem Erdbeben die zerstörten Umgebungsmauern sowie zerstörten Wände der Gebäude wieder aufgebaut werden. Lakou – der Hof – befindet sich nicht wie das Foyer Lakay – das Haus – auf dem großen Gelände in La Saline, sondern ca. fünf  Minuten entfernt an einer Hauptstraße.  In der zweiten Phase des Straßenkinderprogramms, im Foyer Lakay, wo die Jugendlichen leben, zur Schule gehen und eine Ausbildung erhalten, waren vor allem die Werkstätten beschädigt sowie die Umgebungsmauern zerstört. Diese werden sukzessive wieder aufgebaut, sind aber noch nicht fertiggestellt. Zwei Wochen vor meinem Besuch versuchten Eindringlinge erneut, auf das Gelände zu gelangen, um dort Materialien zu stehlen. Durch gemeinsames Eingreifen der Anwesenden und das Werfen von Steinen konnten die sechs bewaffneten Personen vertrieben werden. Der Bau der Umgebungsmauer wird immer wieder verhindert durch Bedrohung der Arbeiter oder Abreissen der zuvor gemauerten Teile. Die Komplettierung der Mauer, die das riesige Gelände der SDB in La Saline umfasst, ist eine vordringliche aber noch nicht abgeschlossene Aufgabe, da die Finanzierung fehlt. Jedoch macht kein weiterer Wiederaufbau Sinn, wenn das Gelände nicht vor Dieben geschützt werden kann.

OPEPB (Oevre des petits ecoles de Pere Bohnen) – Das Werk der Kleinen Schulen (von P. Bohnen):
Zum Werk der Kleinen Schulen gehörten auf dem weitläufigen Gelände in La Saline mehrere Schulkomplexe (Grund- und Sekundarschulgebäude, Schule für Lehrerfortbildung, Erzieherinnenschule), Werkstätten, Bäckerei, Schulküche- sowie Kantine.

Ein Schulkomplex wurde komplett zerstört, unter ihm über 200 Jugendliche sowie junge Erwachsene begraben, die zu dieser Zeit an einer Fortbildungsmaßnahme teilnahmen. Das Grund- und Sekundarschulgebäude, die Schulküche- sowie Kantine wurden so stark beinträchtigt, dass sie nicht mehr nutzbar sind. Die Werkstätten funktionieren bedingt, die Bäckerei kam nicht zu schaden.

Um die vorher bestehenden 70 Schulklassen ansatzweise zu ersetzen, wurden in den letzten Monaten in Holzbauweise 21 vorübergehende Klassenzimmer gebaut, der Schulunterricht wurde im April wieder aufgenommen. In diesen vorgefertigten Klassenräumen werden sowohl die Schüler unterrichtet als auch am Nachmittag Lehrer und Erzieher weitergebildet. Jedoch konnte bislang die ursprüngliche Anzahl von Schülern aufgrund von Platzmangel nicht wieder erreicht werden.

Die Arbeit der Schulküche wird ab Ende Oktober provisorisch für einen Zeitraum von 7 Monaten in einem Zelt wieder aufgenommen, langfristig muss eine neue Küche entstehen. Zusammen mit einer zweiten Küche im Slum Cité Soleil konnten täglich vor dem Erdbeben 19.000 Kinder der Kleinen Schulen versorgt werden. Jetzt sind es nur 6.000. Die zweite Küche konnte nach dem Erdbeben ebenfalls nicht weiter arbeiten; der Betrieb soll in den nächsten Wochen wieder aufgenommen werden. Die Bäckerei auf dem Gelände in La Saline backt täglich 4.000 Brote für die Versorgung der Kinder im Schulunterricht, die Kapazitäten sollen ausgeweitet werden.

Die Handwerkerschulen bzw. Werkstätten der Kleinen Schulen laufen wieder, wenn auch eingeschränkt. Die Älteren schneidern hier z.B. für die Kinder der Vorschulen Kleidungsstücke oder bauen Schulbänke für die neuen Klassenräume. Die meisten Aktivitäten finden im Freien statt, da die Gebäude noch nicht wieder saniert sind.

Das Konzept der Kleinen Schulen beinhaltete vor dem Erdbeben 132 sog. Minischulen im Slum Cité Soleil, meist nur aus 1-2 Klassenräumen bestehend. Derzeit sind davon erst 60 wieder in Betrieb. Es fehlen Gelder für die Renovierung, Lehrergehälter sowie didaktisches Material.

Grund- und Sekundarschule sowie Internat Gressier:
Acht Zelte ersetzen die völlig in sich zusammengefallene Grund- und Sekundarschule von 2004.  Derzeit werden 180 Kinder und Jugendliche in Gressier unterrichtet. Aufgrund der prekären Wohnsituation der Internatsschüler in Gressier nach dem Erdbeben, die in kleinen Campingzelten lebten, wurden als erste Maßnahme acht kleine provisorische Häuser für jeweils 10 Schüler errichtet, die übergangsweise als Wohnheim dienen.
Zur Durchführung der für einen Neubau erforderlichen Bodenstudien benötigt man ein Gerät, das es in ganz Haiti nur einmal gibt. Die Wartelisten sind lang. Im Juli konnten die Studien in Gressier endlich durchgeführt werden, aber die Behörden verzögerten den Ablauf und gaben erst Ende September die Baugenehmigung. Zwischenzeitlich hatte ein Hurrikan das Gebiet heimgesucht und das Gelände von Gressier unter Wasser gesetzt, so dass die Pläne noch einmal angeglichen werden mussten und die Gebäude nun erhöhter als ursprünglich geplant errichtet werden sollen. Die finalen Bauzeichnungen finden derzeit statt, Elektrik-, Wasser- und Abwassersysteme werden integriert. Die Statik wird noch einmal geprüft und die Planungen letztendlich von einem unabhänigen Ingenieur geprüft.

Im November wird eine öffentliche Ausschreibung stattfinden, um den am meisten geeigneten Bauunternehmen für das Vorhaben zu finden. Sollten bei der Wahl Ende November keine Proteste und Ausschreitungen zu erwarten sein, könnte nach Vertragsunterzeichnung Anfang Januar endlich mit dem Bau begonnen werden. Wenn ohne Verzögerungen, Materialknappheit etc. gebaut werden kann, erhofft man sich eine Fertigstellung schon vor dem nächsten Schuljahr 2011. Allerspätestens soll die Grund- und Sekundarschule jedoch zum Schuljahr 2012 eröffnet werden.

Cholera in Haiti

Kurz vor meiner Abreise am 21.10. erhalten wir die Nachricht: die Cholera ist 90 km nördlich der Haupstadt PaP in Saint-Marc ausgebrochen. Die wenigen Krankenhäuser sind überfüllt, bereits 220 Tote sind zu beklagen, mehr als 3000 Menschen sind erkrankt. Hauptursache soll der verunreinigte Fluß Artibonite sein, aus dem täglich tausende Menschen im gleichnamigen Department L´Artibonite Wasser zum Trinken, Kochen und Waschen entnehmen. Die Betroffenen, die an Durchfall und Erbrechen leiden, werden nach Möglichkeit an den Tropf gelegt und mit Antibiotika behandelt, für viele kommt der Beistand zu spät, da sie binnen einiger Stunden dehydrieren und sterben. Auch in der Hauptstadt PaP sind erste Fälle bekannt geworden. Die Behörden wollen unter allen Umständen versuchen, die Seuche von der Haupstadt fernzuhalten. Die hygienischen Bedingungen in den Zeltstädten sind katastrophal und würden das Ausbreiten der Seuche auf verheerende Weise verschlimmern.

Heute am 26. Oktober habe ich zurück in Deutschland die Nachricht erhalten, dass die Salesianer optimistisch sind, dass die Seuche in den Griff zu kriegen sei. Wichtig sei nun, dass die Aufklärungskampagnen weiter aktiv in den Medien verbreitet werden und keine Panik ausbricht. Die Don Bosco Einrichtungen sind nicht betroffen, die Mitarbeiter wurden aber entsprechend informiert und sind angehalten, die Situation genau zu beobachten und entsprechend schnell zu reagieren.