Genau, jemand, der mit Kindern arbeitet, hat kein Lieblingskind. Zumindest darf er es gegenüber den anderen Kindern nicht zeigen, da diese sonst darunter leiden. Doch, und das ist eines der Dinge, die ich hier gelernt habe, kann man noch lange nicht alles in seinem Leben selbst bestimmen. Manche Dinge verlaufen eben so und so.

Da ist also Emmanuel, ein Junge, der kein einziges Wort Französisch redet. Er ist ungefähr 12 oder 13 Jahre alt, rausfinden kann man das nicht, weil er ja kein Französisch redet. Er spricht nur einzelne Wörter Dioula, einer Ethnie, die hier sehr verbreitet ist. Worte, die er beispielsweise sagt sind (übersetzt): Essen, Wasser, schlafen und ähnliches. Außerdem gibt er gerne Laute von sich wie sasasasa und nananana.

Emmanuel hat Epilepsie. Vor ca. 5 Jahren ist er von zwei älteren Damen ins Foyer gebracht worden, die sagten, sie würden den Jungen immer auf der Straße sehen, immer schmutzig und immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Er kommt mit einem sehr vernarbten Körper im Foyer an, was darauf hindeutet, dass er wohl von irgendwem gefesselt wurde, sobald er einen epileptischen Anfall hatte. Allem Anschein nach liegt neben der Epilepsie auch noch eine geistige Behinderung vor, da Emmanuel neue Dinge nur sehr langsam erlernen kann. Es scheint, als sei er auf dem Entwicklungsstand eines kleinen kindes stehengeblieben, da er zum Beispiel sich selbst die Zähne putzen kann, selbst essen kann, sich selbst waschen kann und im Allgemeinen so die grundlegenden Dinge selbst machen kann. Allerdings ist es immer besser, wenn jemand danebensteht und darauf aufpasst, dass er auch wirklich das macht, was er soll (gerade beim Waschen, denn Emmanuel wäscht furchtbar gerne seinen Bauch mit langsam kreisenden Bewegungen…). Er freut sich immer,wenn ich komme und manchmal fragt er «Bisous?», was Kuss bedeutet. Wenn man dann nicht schnell das Weite sucht, hat man blitzschnell einen Kuss irgendwo im Gesicht.

Mit seiner Krankheit geht immer es auf und ab. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das ganze sogar mit dem Mond zusammenhängt, da ich festgestellt habe, dass er bei Vollmond häufiger epileptische Anfälle erleidet, bei denen er sich leider hin und wieder verletzt. Und das alles trotz Medikamenten.

Emmanuel kann natürlich nicht auf eine normale Schule gehen so wie alle anderen. Ca. 150 Kilometer von Abidjan entfernt gibt es eine Schule für geistig und/oder körperlich behinderte Kinder, die von Schwestern (leider weiß ich nicht welcher Orden) geleitet wird. Diese Schule ist landesweit bekannt, da selbst Kinder aus Korhogo (einer etwas größeren Stadt im Norden der Côte d’Ivoire) dort zur Schule gehen. Die Schwestern führen dort nicht nur die Schule, sondern auch ein Foyer, wo die Kinder, die von weit her kommen, schlafen können. Dort verbringt Emmanuel die Zeit von Oktober bis Mai (Schuljahr) und kommt nur für die Weihnachts-, Oster- und Sommerferien nach Hause, also ins Foyer.

Emmanuels Familie ist nicht auffindbar. Die Erzieher haben wohl einige Hinweise auf seine Familie, aber selbst wenn man sie findet, werden sie leugnen, dass Emmanuel ihr Kind ist, da er «ja nur Geld kostet». Das sind die Worte, die einer der Erzieher von der Polizei zu hören bekam. Wieso man den denn überhaupt aufgenommen hätte, der ist doch behindert und macht nur Probleme, hieß es. Man hätte Emmanuel also auf der Straße sich selbst überlassen sollen??? Ganz toll.

Ich bin heilfroh, dass man nicht auf den Rat der Polizei gehört hat und Emmanuel trotzdem aufgenommen hat, selbst wenn die Arztkosten nicht unerheblich sind. Aber auch er hat ein recht auf ein menschenwürdiges Leben. Und das spielt sich sicherlich NICHT auf der Straßen ab!

Oft frage ich mich, ob Emmanuel Französisch versteht. Und ob er überhaupt seine Situation versteht. Wenn er nicht in einer Phase von vielen Anfällen steckt, ist er meist ziemlich gut gelaunt und hüpft gerne herum. Er ist sehr glücklich, wenn er merkt, dass man sich gerne mit ihm beschäftigt und zum Beispiel mit ihm seine im Foyer berühmten Tanzbewegungen macht.

Emmanuel ist eine Ausnahme im Foyer. Kein anderes Kind hat eine solche Krankheit wie er. Das führt dazu, dass er immer eine Außenseiterrolle einnehmen muss. Aber genau die Tatsache, dass es nahezu unmöglich ist, ihn vollkommen zu integrieren, führt dazu, dass er zu einem meinem «Lieblingskind» geworden ist. Er ist derjenige, mit dem ich mich am meisten beschäftigt habe während meines Jahres hier, weil ich gesehen habe, dass er es am nötigsten hat. Wie oft habe ich ihn abends ins Bett gebracht, bevor die anderen schlafen gingen. Wie oft habe ich ihn durchgekitzelt. Und wie oft hatte ich, ehe ich mich versah, einen Bisous auf der Wange.

Ich bin sicher, dass mir der Abschied von ihm am schwersten fallen wird. Er wird zwar nicht verstehen, dass ich dann nicht mehr jeden Tag kommen kann. Er wird nicht verstehen, dass ich gehen muss. Aber wahrscheinlich ist das auch besser so.