S – A – I – D → Society?
Es ist wieder mal Studytime und ich übe mit Rani Englisch. Der Achtklässler hat jedoch große Schwierigkeiten beim Lesen. Ein paar einfache Wörter weiß er sofort, aber dann wird es mühsam. Wie hier üblich, buchstabiert er sich die Wörter erst vor, bevor er sie liest. Das führt zwar manchmal zu Erfolg – oft führt es aber auch nur zu Verwirrungen. Dass aus I – N (gesprochen Ai-Än) in wird, ist noch einigermaßen nachvollziehbar. Aber wie um alles in der Welt soll man darauf kommen, dass S – A – I – D (es-ei-ai-di) said (säd) heißt? Das klingt ja wirklich fast eher wie Society – zumindest von den Silben her. Daher konnte sich Rani das Wort auch die ganze Studytime über nicht merken und sagte jedes Mal aufs Neue mit voller Überzeugung „Society“…
Mit den Problemen im englischen Lesen ist Rani bei weitem nicht allein. Die Muttersprache ist hier Tamil – eine Sprache mit einer komplett anderen Grammatik und vor allem auch mit komplett anderen Schriftzeichen. Englisch lernen ist daher eine wahre Herausforderung.
Leider gibt es viele Probleme, die es schwer machen, diese Herausforderung zu meistern. Im Folgeneden möchte ich euch ein paar dieser Probleme beschreiben, die ich an unserer Grundschule (erste bis achte Klasse) und an den staatlichen Schulen unserer älteren Jungs beobachtet habe. Dabei möchte ich aber sofort betonen, dass diese Probleme meiner subjektiven Wahrnehmung entsprechen und natürlich nicht auf alle Schulen/Schüler in Indien zutreffen.
Wichtige Grundlagen fehlen
Das Problem, das mir als erstes auffiel ist, dass den meisten Schülern wichtige Grundlagen der englischen Sprache fehlen. Es haben beispielsweise fast alle Achtklässler große Probleme mit den einfachsten Fragen wie „How old are you?“ oder „Where are you going?“. Nicht mal das Alphabet beherrschen alle.
Statt sich auf diese Grundlagen zu konzentrieren, verlangt der Lehrplan aber ein viel zu hohes Niveau. Wenn ich mir das Englischbuch der Achtklässler anschaue, finde ich lange, abstrakte Texte, deren Vokabeln zum Teil nicht einmal ich kenne. Die Schüler sind damit logischerweise gnadenlos überfordert.
Fürs Examen müssen sie dann beispielsweise Gedichte auswendig lernen. Die Jungs, die wenigstens eine grobe Vorstellung von den Wörtern haben, bekommen das auch einigermaßen hin. Dann gibt es aber auch noch Jungs, die kein Wort verstehen und auch keinen Zusammenhang zwischen der Schrift und der Aussprache sehen. Also versuchen sie sich die einzelnen Buchstaben hintereinander zu merken. Das kann man sich vielleicht in etwa so vorstellen, als würden wir versuchen, zwölf Zeilen bunt gemischter Buchstaben auswendig zu lernen. Also in etwa sowas:
Alsr dleltdnfg qmtm slthenr thz ttefrko ol
…nur eben zwölf Zeilen davon. Wer ein fotografisches Gedächtnis hat und das hinbekommt, verdient meinen vollen Respekt. Für alle anderen, inklusive mir, wäre ein solches Vorhaben aber von vorne rein zum Scheitern verurteilt. Und so geht es leider auch vielen Jungs beim Üben für ihre Englisch Examen. Wenn sie es dann aber doch geschafft haben, sich zumindest ein paar Zeilen einigermaßen einzuprägen, kommt das nächste Problem im Examen. Die Frage nach dem Gedicht muss irgendwo stehen – aber wo denn? Gar nicht so leicht rauszufinden, wenn man so gut wie nicht lesen kann…
Oft führt diese Überforderung dann zu geistiger Abwesenheit im Unterricht. Da die Jungs sowieso nicht viel von dem verstehen was der Lehrer eigentlich sagt, passen sie auch nicht mehr auf. Dadurch lernen sie natürlich noch weniger und es entsteht ein Teufelskreis.
Lehrer haben nicht genug Kapazitäten
Hinzu kommen die begrenzten Kapazitäten der Lehrer. Bei unserer Grundschule ist es (wie in vielen kleineren Dörfern auch) üblich, alle Klassenstufen zusammen zu unterrichten. Dementsprechend sind die Schüler jedoch auf einem völlig unterschiedlichen Lernstand und der Lehrer hat Probleme den Unterricht so zu gestalten, dass alle etwas lernen. Entweder sind die schlechteren Schüler überfordert, oder die Besten langweilen sich zu Tode. Einen Mittelweg zu finden ist da leider oft nicht einfach.
Das Problem, dass das Niveau in einer Klasse sehr unterschiedlich ist, haben auch Johanna und ich schon in unserer English Class. Jedoch können wir unsere neun Schüler nochmal in zwei Gruppen aufteilen. So haben wir jeder nur noch vier oder fünf Schüler, auf die wir gut individuell eingehen können. Ein normaler Lehrer hat diese Möglichkeit jedoch nicht.
Schüler lernen nicht zu lernen
Ein weiteres Problem, was mir vor allem bei unseren Elft- und Zwölftklässlern auffällt ist, dass die Jungs nicht richtig lernen können. So komisch das vielleicht klingt: Viele Schüler haben nie gelernt zu lernen.
Wenn ich in der Studytime ins Klassenzimmer schaue, sitzen die meisten Jungs nur da und starren Löcher in die Wand. Einige haben ein Buch vor sich liegen und blättern ein bisschen drin rum. Zum Lernen, lesen sie sich Texte durch und versuchen, diese sich so zu merken. Aber dass es neben dem Lesen auch andere Methoden zum Lernen gibt, wie sich zum Beispiel eine Zusammenfassung zu schreiben, ist den meisten fremd…
Fehlende Unterstützung der Eltern.
Außerdem fehlt die schulische Unterstützung der Eltern. Generell sind, vor allem in kleineren Dörfern, viele Eltern selbst nicht oder nur kurz in die Schule gegangen. Daher können sie ihren Kindern, selbst wenn sie wollten, nicht helfen. Andere erkennen gar nicht, wie unglaublich wichtig eine gute Schulbildung überhaupt ist. Und wieder andere haben einfach nicht genug Zeit, da sie selber den ganzen Tag am Arbeiten sind.
Hier im Care Home können die Jungs natürlich erst recht keine schulische Unterstützung von ihren Eltern oder Verwandten bekommen, da sie sich wenn überhaupt bei seltenen Besuchen sehen.
Wenn ich jedoch daran zurück denke wie viele Stunden meine Mama früher neben mir saß während ich Hausaufgaben machen musste, kann ich mir nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn ich dabei keine Hilfe bekommen hätte. Und vor allem weiß ich nicht, wie ich hätte Lesen lernen sollen, wenn meine Eltern nicht unzählige Stunden mit mir geübt hätten.
Diese fehlende individuelle Unterstützung bei unseren Jungs merkt man leider. Denn vor allem von den jüngeren Jungs kann man nicht wirklich erwarten, dass sie selbstständig lernen. Und selbst vielen der älteren Schüler fällt (wie bereits im letzten Abschnitt beschrieben) das selbstständige Lernen sehr schwer.
Gibt es eine Lösung?
Alle Probleme zu lösen ist schwer bis fast unmöglich. Es hängen einfach so viele Dinge zusammen: Vom kompletten Schulsystem der öffentlichen Schulen bis hin zu der fehlenden individuellen Unterstützung.
Trotzdem gibt es einige Lösungsansätze, die das Problem vielleicht wenigstens ein kleines bisschen kleiner machen.
Wie bereits in meinem Blogartikel zum Summercamp beschrieben, haben die Jungs in den Ferien extra Unterricht in Tamil, Mathe und Englisch bekommen. In diesen zwei Wochen war endlich Zeit, den Fokus einmal auf die Grundlagen der Fächer zu legen.
Auch Johanna und ich versuchen, die Jungs bestmöglich beim Lernen zu unterstützen. Wir unterrichten jeden Tag die dritte bis fünfte Klasse in Englisch und versuchen hier, spielerisch Grundlagen aufzubauen. Leider wissen wir bereits jetzt, dass wir es nicht schaffen werden, die Jungs auf das Niveau zu bringen, was sie laut Lehrplan in der sechsten Klasse bräuchten. Aber immerhin sehen wir kleine Fortschritte, und das ist ja schon mal besser als nichts.
Außerdem versuchen wir in der Studytime die Jungs individuell zu fördern, indem wir die Grundschüler einzeln zu uns raus holen und Englisch lesen oder schreiben üben. Vor allem wenn wir neue Storybooks (Geschichten) haben, ist die Begeisterung der Jungs auch immer hoch. Um große Fortschritte zu sehen, wäre es natürlich toll, mit jedem Jungen auch jeden, oder zumindest jeden zweiten Tag, üben zu können. Da wir pro Tag aber jeweils nur drei bis vier Schüler drannehmen können, ist das bei 35 Grundschülern leider nicht möglich. Aber auch hier gilt: bei vielen sehen wir zumindest kleine Fortschritte, was zumindest ein Anfang ist.
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Ich möchte mit diesem Beitrag kein Mitleid erzeugen. Viel mehr möchte ich euch einfach einen kleinen Einblick in eine „andere Welt“ geben. Eine Welt, in der Bildung noch lange nicht so selbstverständlich ist wie bei uns in Deutschland.
Das zu sehen hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, auch mal für die Dinge dankbar zu sein, die im ersten Moment vielleicht ganz normal scheinen. Und deshalb sage ich:
Danke! Danke an das deutsche Schulsystem. Danke an meine Lehrer. Und vor allem auch danke an meine Eltern, die nie aufgegeben haben mir Lesen beizubringen, auch wenn sie deshalb den einen oder anderen Wutausbruch von mir erleiden mussten.
Ruth Peter
Danke Sara, dass du auch so einen Artikel geschrieben hast. Nach dem Examen hatte ich dich mal nach den Ergebnissen eurer Jungs gefragt und da hast du mir schon etwas über die Probleme im indischen Schulsystem erzählt. Nun wurde die Anregung in einem Blog darüber zu schreiben von dir umgesetzt. Ich denke, diese Einblicke sind für viele sehr interessant und machen verständlicher, warum junge Menschen ohne gute Bildung nicht weiterkommen und sich dies gleich in der nächsten Generation wiederholt.
Danke auch für deine positive Rückmeldung zu dem Beginn deiner Schulzeit.
Deine Mama
Papa
Ja, schöner Bericht, und wir sind dabei gut weg gekommen! Viele Grüsse, dein Papa.