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Alltag in Tbilisi

Seit dem plötzlichen Kälteeinbruch in Tbilisi – das müssten jetzt gute drei Wochen sein – bin ich fast durchgängig erkältet und habe manchmal das Gefühl, nicht richtig präsent zu sein. Die Tage rasen an mir vorbei und manchmal kommt es mir vor, als würde ich das alles träumen.

Heute bin ich erschrocken, als ich realisiert habe, dass es schon November ist. Das sommerliche Tbilisi, das ich im ersten Blogeintrag versucht habe zu beschreiben, scheint viele Traumphasen entfernt.

Doch ein Traum wäre niemals so komplex und so vielschichtig, wie mein letzter Monat. Trotz Erkältung, ist es so wirklich. Ich habe schon so viele Eindrücke und Begegnungen gemacht, die es wert sind, nun einmal reflektiert zu werden. Der vorerst so ungewisse Aufenthalt in Georgien beginnt sich zu färben, und je mehr ich darin eintauche, desto intensivierte und schöner wird es.

Wie beschreibe ich in einem Blogeintrag einen ganzen Monat? Ich versuche es nun mit einem Beispieltag, der so oder so ähnlich stattfinden könnte.

Es ist 8:00, als mein Wecker klingelt. Mittlerweile wundere ich mich auch nicht mehr, wo ich bin – es fühlt sich alles schon sehr vertraut an. Aus der Kapelle dringt der Gesang der Schwestern zu mir hoch, die dort jeden Morgen mit einem Salesianer die Messe feiern.

Es ist 8:00 und ich frage mich, warum mein Wecker so früh klingelt? Ach ja, ich wollte mir wieder einen „normalen“ Rhythmus antrainieren. Dumme Idee! Der georgische ist mir deutlich sympathischer. Also nicke ich nochmal für ein Stündchen ein. Dann raffe ich mich aber doch auf, um vor der Arbeit noch ein paar Vokabeln zu lernen. Dank der Eigenartigkeit des georgischen (ja, sie ist die zweitälteste Sprache der Welt und mit keiner nennenswerten anderen verwandt) und der Schrift – die wirklich ästhetisch ist! – brauche ich zehnmal so lange wie bei anderen Sprachen, um mir ein Wort zu merken. Aber ich beginne, die Sprache wirklich zu mögen: Ich fühle mich jedes mal wie ein richtiger Beatboxer beim Üben der neuen Laute. Ist es nicht toll, dass es z.B. neben dem normal einfachen „tzz“ ein scharfes „tz“, dass sich wie Ratschen eines Feuerzeuges anhört oder einen – für nicht Georgier für immer unaussprechlichen – Laut, der zwischen dem Brechen eines Asts und Würgegeräuschen liegt, gibt? Nun ja, man braucht schon eine unerschöpfliche Quelle an Motivation für diese Sprache.

Um 10:00 beginnt dann der Kindergarten, was nicht heiß, dass wir – meine Mitvolontärin Alexandra und ich – dann anfangen müssen zu arbeiten, weil zwischen 10 und 10:30 maximal drei der Kinder kommen. Entweder sie oder ich gehen dann um 10:30 in den Kindergarten, die andere von uns kommt um 12:00 zum Mittagessen dazu, um beim Füttern zu helfen.

Als ich runter in den Kindergarten gehe, begrüßen mich die Kinder freudig und winken mir zu. Das ist sehr neu, Alexandra hat dazu gesagt: „Schau, jetzt sind wir nicht mehr die Fremden“.

Im Kindergarten sind wir immer noch hauptsächlich Spielkameraden für die Kinder. Mittlerweile reicht unser Wortschatz zwar schon etwas über das so hilfreiche „modi“ (komm) und „midi“ (geh) hinaus, aber es wird noch lange dauern, bis man sich wirklich unterhalten kann. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass manche nur russisch sprechen und verstehen. Dann läuft die Kommunikation mehr über das gemeinsame Summen eines „happy birthday“ ab oder wir sagen ganz oft „coca coca coca cola“. Ab und zu hilft auch mal ein gewagtes „da“ (russisch ja), wenn ein Kind eine Frage so oft hintereinander stellt, bis man sie schlicht nicht mehr ignorieren kann.

Mein erstes „großes“ Erfolgserlebnis ( in der ersten Woche) hatte ich mit einem Kind, das sich weigerte, draußen seine Schuhe anzuziehen. Sie wusste genau, was ich wollte, rannte aber vor mir weg. Mit Sprüchen und Warnungen geht ohne Sprache nicht so viel, also blieb mir nichts anderes übrig, als sie einzufangen. Schließlich zog ich dem lachenden Kind in meinen Armen die Schuhe an und – siehe da, sie behielt sie tatsächlich an!

Gott sei Dank geht Kommunikation auch über so viele andere Wege: So hilft – neben gemeinsame Lachen, wilder Gestik und vielen Spielen, die auf allen Sprachen gleich gespielt werden, zwischen durch auch einfach mal eine (oder zwei) feste Umarmungen.

Ein kleiner, aber feiner Raum für den Kindergarten (viele der Kinder sind aber erst ein oder zwei Jahre alt).
Spielplatzbesuch mit einem fünfjährigen, der als einziger zu groß für den Mittagsschlaf ist.

Gegen ein Uhr kommen dann sechs Schulkinder zwischen 8 und 11 Jahren hier an, die hier ihre Hausaufgaben erledigen.

Ihnen helfen wir dann ca. eine Stunde bei den Englischhausaufgaben, was meistens daraus besteht, die Aussprache zu üben. Denn Englisch ist in dieser Hinsicht wirklich ein Fluch – erst wird mühsam das neue Alphabet gelernt, nur damit dann viele Vokale doch in jedem Wort wieder anders ausgesprochen werden… Hier bin ich meinem Bananenscrabble sehr dankbar, das beim Lernen der Buchstaben große Dienste erweist (danke @ Ben ;)). Hinterher wir noch „charibi schawi kata“ (zu Deutsch: armer schwarzer Kater), „Vin moipara chemi gotschi?“ („Hasch du mei Sau geklaut?“) oder fleißig Uno gespielt (wahrscheinlich das meist gespielte Spiel der Welt, oder @meine Mitvolos in anderen Teilen der Welt? ;)). Mittlerweile werde ich von den älteren Kids fast nur noch „Ms. Tschangalagu“ genannt, was sich aus einer besonders komischen Variante von „Lass uns Schule spielen“ enstanden ist…

Eine große Freude, als wir das gute Wetter nutzen konnten und mit den älteren Kindern auf dem nahegelegenen Spielplatz gehen konnten.

Dienstags und Donnerstags machen wir uns am späten Nachmittag auf den Weg in das armenisch-katholische Pfarrhaus, wo wir jungen Menschen zwischen 13 und 34 Deutschunterricht geben. Wir klingeln und gehen gemeinsam in den Keller, wo es eine kleine Tafel gibt, um dort Akkusativ und Dativ, unregelmäßige Verben zu üben und über Freizeitaktivitäten zu sprechen. Mir macht diese Aktivität besonders viel Spaß: Die Menschen sind wirklich nett und offen und wir haben viel zu lachen – da ist es dann auch nicht mehr schlimm, dass wir teilweise 15 Jahre jünger sind als unsere Schüler*innen. Mit einem Besuch in der Bibliothek im Goethe-Institut sind wir jetzt materialtechnisch besser ausgerüstet und fühlen uns bereit, an die schwierigeren Themen heranzugehen. Denn ja, auch wenn man Muttersprachler ist, will das nicht heißen, dass man weiß, wann welcher Kasus benutzt wird.

Nach der Deutschstunde werden wir wie immer auf einen Tee, frisches Obst und Kekse eingeladen. Das ist eine schöne Gelegenheit für uns, auch mit gleichaltrigen Einheimischen ins Gespräch zu kommen – und ich freue mich auf Sonntag, wo wir uns wahrscheinlich zum gemeinsamen Fußballspielen treffen werden.

Ich bin sehr beeindruckt, wie viele Sprachen (junge) Menschen hier sprechen. Aus unserer Deutschklasse sprechen beispielsweise alle armenisch, russisch und georgisch fließend. Englisch ist erst die vierte Sprache.

Auch an den restlichen Tagen wird es selten langweilig: Zweimal in der Woche ist Georgischkurs und mittwochs Oratorium bei uns im Haus (oder bei schönem Wetter im Garten der evangelischen Gemeinde) mit ungefähr 15 Kindern und vielen Spielen.

Dank einer Einladung der deutschen Botschaft am 03.10. kennen wir nun auch viele anderen deutsche Freiwilligen aus Tbilisi. Das hat uns das Ankommen sehr erleichtert und der Kulturschock ist nicht so groß, wenn man jederzeit deutschsprechende Gleichaltrige treffen kann. Vor allem mit den drei österreichischen Freiwilligen von den Salesianern Don Boscos, die hier im Caritaszentrum arbeiten, haben wir schon viele Erkundungstouren durch in und um Tbilisi gemacht. Auch wenn ich manchmal den Wunsch habe, mehr Georgier*innen in unserem Alter kennenzulernen, ist es echt ein Geschenk, andere Volos hier zu haben, mit denen sich jedes Wochende wie ein kleiner Urlaub anfühlt :)).

***

Nachtrag: Meinem Perfektionismus (natürlich nicht meiner Faulheit ;)) ist es geschuldet, dass dieser Blogeintrag in ungefähr sieben verschiedenen Anläufen geschrieben wurde und aus drei Wochen plötzlich sechs wurden. Seit ein paar Tagen bin ich wieder vollständig gesund, was sich echt gut anfühlt: Es lebt sich auf einmal so viel realer. Unser Alltag füllt sich immer mehr mit neuen Terminen und Begegnungen, sodass es intensiver wird und ich mich immer wohler fühle. Heute Abend blicke ich müde und glücklich auf das Wochenende zurück, das aus einer Schnupperstunde in einem Chor, einem Spaziergang (mit jungen Georgier*innen!) und dem lang ersehnten Fußballspiel mit unseren armenischen Freunden bestand :))

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