Wir begegnen jeden Tag Menschen. Freunden, alten Bekannten, Fremden, Unbekannten, die zu Bekannten werden… Manchmal nur klitzekleine Bruchteile einer Sekunde. Ein Lächeln, eine freundliche Begrüßung oder ein schönes Gespräch. Ein entmutigender Anblick, tränenüberströmte Gesichter, offene Wunden, leere Augen… Zusammen Glück teilen und gemeinsam Leid ertragen. Manche hinterlassen Spuren und andere Begegnungen vergessen wir einfach wieder. Ich möchte euch von einigen Begegnungen erzählen, die mich besonders bewegt haben.
Im Foyer habe ich öfter mal weinende Mädchen getröstet, wütende Mädchen beruhigt, mich mit glücklichen Mädchen gefreut, verletzte Mädchen verarztet. Für mich waren die Mädchen kleine und große Schwestern.
Ein Mädchen hat niemals Schwäche gezeigt, immer ihre Gefühle versteckt, sie ist normalerweise die „Coole“. Eines Tages finde ich sie weinend auf der Treppe. Sie sitzt dort mit dem Telefon in ihrer Hand. Sie möchte dieses Jahr getauft werden und hat sich ihre Freundin aus dem Foyer und zugleich auch Klassenkameradin als Patin ausgesucht. Als sie das ihrer Mama am Telefon erzählt, rastet sie aus vor Wut. Was kann eine Schülerin ihr schon bieten? Kein Geld, keine Beziehungen, keine teuren Geschenke. Was ihrer Tochter denn einfalle, dass sie sich gefälligst eine bodenständige Frau als Patin suchen solle. Als die Mutter dann noch nach der Ethnischen Gruppe der Patin fragt und diese sagt, sie ist Moore (Burkina Faso) ist die Mutter noch wütender und lässt das an ihrer Tochter heraus.
Als mir das Mädchen das erzählt und ich merke, wie sehr sie in dem Moment angst vor ihrer Mama hat, tut das wirklich weh. Sie sagt: „Lieber soll sie mich schlagen, denn der Schmerz vergeht als mich zu beleidigen und mich anzuschreien denn die Wunden bleiben tiefer für immer!“ Das Worte sehr verletzen können weiß ich. Doch dass sich das Mädchen lieber Schläge und Gewalt wünscht, in einer Kultur, wo das bei (kleinen) Kindern nicht unüblich ist – in den Grundschulen schlagen die Lehrer noch und die meisten Eltern auch – berührt mich zutiefst.
Einmal kam mir ein Foyermädchen mit einem kleinen Mädchen im Arm angerannt. „Franziska, wir haben das Mädchen hier gefunden, sie ist ganz allein und verloren! Kannst du dich um sie kümmern?“ Ich kenne weder ihren Namen, noch ihre Eltern oder sonst irgend etwas von ihr. Ich laufe zu den verschiedensten Leuten auf der Missionsstation, aber keiner weiß, wo sie hingehört. Sie einfach behalten und mit ins Foyer nehmen geht nicht, das wäre ja Kindesentführung. Sollen wir sie zur Polizei bringen? Letztendlich sagt mir jemand, dass ich sie beim Nachtwächter absetzen soll. Da werden alle verlorenen Kinder aufgenommen und wenn niemand sie abholt geht’s zur Polizei. Das Mädchen hat ein Alter, in dem sie eigentlich schon reden können müsste, aber sie bleibt still. Manchmal merke ich nur ein kleines Kopfnicken oder – schütteln. Ihr Körper ist heiß. Ich trage sie zur Wasserstelle der Mission. Normalerweise gibt’s dort Becher zum Trinken, doch natürlich war kein einziger Becher da. Ich zeige ihr, wie sie aus dem Wasserhahn trinken kann, mache ihr es vor, doch sie bleibt regungslos. Vielleicht hat sie doch keinen Durst? Doch ihr Körper ist so heiß und sie hat den ganzen Tag in der Hitze gelegen, dass sie unbedingt trinken muss. Ich mache meine Hände zu einer Schale. Und sie trinkt daraus und hört gar nicht mehr auf. Zurück beim Nachtwächter sagt dieser, dass das Mädchen jeden Tag allein zur Mission in die Vorschule kommt und auch allein nach Hause geht. Er weiß, in welchem Quartier sie wohnt, aber kennt weder ihre Eltern noch den Hof auf dem sie lebt. Aber er verspricht, sie nach der Arbeit nach Hause zu bringen, sich durchzufragen, bis er ihr zu Hause gefunden hat.
Ich kann das Mädchen kaum zurück lassen, wo sie doch so krank, stumm und allein ist. Als ich frage, ob sie Hunger hat, ist ihr Kopfnicken deutlich. Ich bringe ihr ein viel zu großes Baguette für ein viel zu kleines Mädchen – doch sie hat es nur so heruntergeschlungen. Den ganzen Tag hatte sie noch nichts im Bauch, und als ich sie gefunden habe, war es schon dunkel.
Im Foyer haben wir ein Mädchen, dass nicht zur Schule geht wie die anderen. Sie ist etwa 25 Jahre alt. Als Kind litt sie unter Polio und seitdem ist ihr rechter Arm unfähig, etwas zu tun. Ihr Arm hätte gerettet werden können, doch die Familie konnte/wollte kein Geld für ihre Genesung ausgeben. Sie hat im Ausbildungszentrum Schneiderei gelernt und hilft nun dort weiterhin aus. Seit diesem Schuljahr leidet sie auch an schlimmen Bauchschmerzen, weil sich in ihrem Uterus eine Zyste gebildet hat. Die letzten Wochen war sie schmerzfrei, doch eines Tages ist sie mit so starken Schmerzen aufgewacht, dass sie 4 Stunden ununterbrochen geschrien und geweint hat. Dass sie eine Operation braucht ist seit Monaten klar, doch mal wieder heißt es vom Vater, kein Geld. Sie wälzt sich quälend in meinem Schoß und presst hervor, dass ihr Papa ihr ein Medikament kaufen will, dass sie umbringt. Er hat kein Geld für sie und will sich nicht mehr um sie kümmern.
Das ist vor zwei Monaten passiert, inzwischen kümmert sich ihr großer Bruder liebevoll um sie und hat sie in ihr Ursprungsland Burkina Faso geschickt, wo sie nun behandelt und operiert werden soll.
Ein Fou (Verrückter, der auf der Straße lebt) hat mich diese Woche total herzlich gegrüßt. Also bin ich stehen geblieben, um ein bisschen mit ihm zu reden. Er trägt eine zerrissene Hose und sein Oberkörper ist von Wunden und Narben übersät. Er blutet. Sein Körper und seine Haare sind voll mit Sand und Dreck, er hat kein Wasser, keine Duschmöglichkeit. Man riecht ihn aus der Ferne. Die Menschen verspotten ihn, vertreiben ihn und drohen ihm mit Feuer (Kohle oder heißes Metall), wenn er ihnen oder ihren Waren zu nahe kommt. Er ist ein Dieb und schläft nachts auf fremden Höfen. Er hat mir gesagt, wenn jemand rauskommt und ihn fragt was er hier zu suchen hat, dann antwortet er, dass er gekommen ist, um die Frau des Hauses zu suchen 😀 Humor hat er auch. Alle sehen in ihm nur denn bösen Kerl, der in fremde Wohnungen geht, um zu klauen. Zu klauen, um zu überleben?! Ich rede mit ihm und er freut sich, jemanden zu haben, der ihn nicht vertreibt, sondern zuhört. Kurz darauf kommt ein Mann, der mich wegzieht. Er sagt, er sei Streetworker und ich soll weggehen. Der Kerl ist ein Dieb. Ich weiß das alles, dass er klaut, aber ich sehe den Menschen in ihm. Warum sieht das denn keiner, dass er genauso wertvoll ist wie jeder andere und dass seine Würde unantastbar ist? Sie behandeln ihn wie Dreck.
Ich bin wütend und traurig. Weiß, dass ich nicht viel an der Situation ändern kann, aber ich kann zumindest einen Moment für ihn dasein.
Eine Folle (Verrückte), die ich schon das ganze Jahr über immer wieder an irgendwelchen Kreuzungen in Duékoué sehe, kommt in Entengang angehumpelt. Sie ist von Fetzen bekleidet, die ihre Brüste und auch sonst nichts von ihr verstecken. Sie ist so verletzt und abgemagert, dass sie nicht mehr laufen kann. Sie hat wahnsinnig Hunger. Da ich gerade meiner besten Freundin Debora dabei helfe, fritierte Kochbananen (Alloko) und Süßkartoffeln (Patzte) an der Straße zu verkaufen, bringe ich ihr etwas. Sie isst ein bisschen von den frittierten Kartoffeln und rutscht dann weiter, zieht das Essen hinter sich her. Plötzlich bleibt sie „stehen“ und sagt mir, dass sie eine Zigarette braucht und sie sonst nichts mehr isst. Ich werde ihr keine Zigaretten kaufen, also bewegt sie sich ganz langsam weiter und die frittierten Patates liegen im Dreck auf der Straße. Später treffe ich sie wieder wie sie allein mit sich rumschreit und diskutiert, verzweifelt, weil sie keine Zigaretten hat, keinen Alkohol und auch sonst nichts, was sie ihre Situation einen Moment vergessen lässt: Auf der Straße ums Überleben zu kämpfen…
Als ich diese Woche durch mein Lieblingsquartier gelaufen bin, um meine Freunde zu besuchen, kommen mir wie immer wenn ich dort bin mindestens 30 Kinder entgegen gesprungen und gerannt. Sie rufen mich Toubabou, la Blanche, Sarah, Kwi („die Weiße“ in verschiedenen Sprachen), ma Soeur, ma camarade… Sie winken mir zu. Sie umarmen mich, klammern sich an meine Beine, nehmen meine Hand. Doch dieses Mal kann ich mich gar nicht auf die leuchtenden Kinderaugen und ihr fröhliches Lachen konzentrieren. Die Schreie einer kleines Jungen im Hintergrund ziehen all meine Aufmerksamkeit auf sich. Als ich ihn etwas versteckt in einem Hof entdecke, verschlägt es mir die Sprache. Natürlich weiß ich, dass Kinder schlagen hier zur Erziehung dazugehört, dass das hier „normal“ ist, weil das schon immer so gemacht wurde und weil das alle so machen. Doch als ich es mit meinen eigenen Augen sehen muss, ist es ein unerträglicher, unaushaltbarer Anblick. Der Junge ist splitternackt, entblößt, seinem Vater ausgeliefert. Der zuckt seinen Gürtel und peitscht wie wild auf ihn ein. Ich selbst kann nicht nachvollziehen, wie schmerzhaft und vor allem wie erniedrigend das für den Jungen ist, weil ich das glücklicherweise selbst nie gespürt habe, aber seine Schreie sind herzzerreißend. Die anderen Kinder, die mich umkreisen, scheinen gar nicht wahrzunehmen, was da gerade passiert. Vielleicht, weil es für sie nichts besonderes ist.
Gestern war das Zuckerfest. Da bin ich in den Straßen ganz vielen hübsch angezogenen Menschen begegnet, die mir ein „gutes Jahr“ gewünscht haben. Der letzte Monat war auf dem Markt wirklich Ausnahmezustand. Alles kostete das Dreifache und es gab von allem viel zu wenig, weil vor allem die Muslime den Markt hier beherrschen und beliefern. Ab um 16 Uhr war der Markt fast leergeräumt, weil alle muslimischen Marktfrauen nach Hause gegangen sind, um das Essen nach Sonnenuntergang vorzubereiten. So blieben nur ein paar vereinzelte Markttische der christlichen Verkäuferinnen übrig, wo man aber meistens nicht das gefunden hat, was man wollte. Vor allem Obst war absolute Mangelware und wenn man dann mal eine Ananas gefunden hat, war sie einfach unbezahlbar. Ich finde es immer noch beeindruckend, wie friedlich Christen und Muslime hier zusammenleben. Viele Nicht-Muslime haben gestern mitgefeiert.
Wem ich zurzeit jeden Abend begegne: Jupiter und Venus – sie kann man hier wunderschön beobachten *_*
Und nächsten Dienstag mache ich mich dann mit 17 Jugendlichen auf eine große Reise auf. Wir fahren nach Togo, um dort 500 Jugendliche aus 8 verschiedenen Ländern zu begegnen. Mit im Gepäck dabei sind ein Eimer (um sich zu waschen) und eine Strohmatte (zum Schlafen). Eine Woche ohne Bett und Moskitonetz, ohne Dusche und sonstigen „Luxus“, den ich hier habe – mal schauen ob ich das überstehen werde 😉
Als ich hier angekommen bin, waren alle Fremde. Inzwischen kennt hier fast jeder die Weiße. Viele sind zu meinen Freunden und sogar ein Stück weit Familie geworden. Umso schwerer wird es, dieses wunderbare Fleckchen Erde ( ich nenne es Glück) im Westen der Elfenbeinküste bald verlassen zu müssen. Und umso schöner ist es, Heimat gefunden zu haben und zu wissen, dass ich hier jederzeit willkommen bin.
Ich freue mich trotz des Abschiedsschmerzes, euch in 30 Tagen wieder zu sehen <3
Eure Franzi
Anni und Kurt
Liebe Franziska!
Wie wirst Du ab August ohne „Deine Freunde und Familie“ aus Afrika leben können? – Es ist beeindruckend, mit wieviel Herzenswärme Du diese Menschen beschreibst; man spürt, wie sie Dir ans Herz gewachsen sind.
Aber gerade da – im Herzen – kannst Du sie auch mitnehmen, und ihnen Freundin/Schwester bleiben.
Jetzt alles Gute für Deine Reise nach Togo – und dort hoffentlich nur gute Erfahrungen!
Liebe Grüße
Anni und Kurt