Es ist die Geschichte von einem kleinen Jungen, der gerade erst 20 volle Monde gesehen hatte. Er liebt es, auf Entdeckungstour zu gehen. Alles anzuschauen, zu fühlen. Ein kleiner Junge, der auch wissen will, die die Käfer schmecken und die Blätter des riesigen Baobab-Baums riechen. Ihn interessiert alles, was in seinem kleinen, abgeschiedenen Dorf passiert und worüber die großen und weisen Menschen reden. Oft folgt er seiner Mama auf den Markt. Denn laufen, dass kann er inzwischen. Er macht einen Schritt nach dem anderen, so wie er es bei seinen beiden großen Schwestern gesehen hat. Seine älteste Schwester ist nicht oft im Dorf, denn sie besucht in der Stadt die Schule. Eines Tages will er sie dort besuchen und wenn er groß ist, wird er dort auch zur Schule gehen.
Das Dorf ist so abseits gelegen, dass die Straßen nur schlecht und langsam mit den Motos befahren werden können. Nur äußerst selten kommt ein Auto vorbei, oder ein großer Lastwagen, um neue Marktwaren zu liefern oder die Kakaoernten der Bauern aus dem Dorf abzuholen.
Samstags ist in dem Dorf Markttag – wie jeden Samstag macht sich seine Mama nach Aufgang der Sonne zum kleinen Markt auf, um ihre Plastik-Waren anzubieten. Neugierig folgt er seiner Mama unauffällig. Um zum Markt zu gelangen, müssen sie die löchrige, sandige Straße überqueren. Seine Schwester, die noch zu klein ist, um schon in der Stadt in die Schule zu gehen, sucht ihn zu Hause, aber er ist nirgendwo zu finden. Nach langem Suchen entdeckt sie ihn bei der großen Straße. Sie bringt ihn zu einer Freundin, damit sie auf ihn aufpasst, weil sie selbst mit ihrem Papa auf dem Feld arbeiten muss.
Der kleine Junge langweilt sich und möchte unbedingt sehen, was all die Frauen auf dem Markt machen. Er nutzt die Gelegenheit, als seine „Babysitterin“ Wasser aus dem Brunnen schöpft, um Richtung Markt zu laufen. Dort kommt er aber nie an.
Noch nie hat er so einen Riesen gesehen. Er hat Angst und bleibt stehen – mitten auf der staubigen Straße mit den vielen Löchern. Die Reifen quietschen, doch der LKW kommt nicht mehr rechtzeitig zum Stehen. Der Junge liegt auf der Straße, doch blutet nicht. Sofort wird er ins Krankenhaus in die nächstgrößere Stadt gebracht – die Straßen erschweren den Weg und alle wissen, dass die Zeit gegen sie spielt. Als die Männer in weißen Gewändern vor seinen Augen verschwommen auftauchen, weiß er nicht, wo er ist. In so einem modernen Haus mit großen Fenstern war der kleine Junge noch nie. Doch er ist müde, seine Augen bleiben nicht lange offen. Er hätte gern noch viel mehr gesehen. Die Ärzte versichern den Angehörigen, dass er ohne Bedenken nach Hause fahren kann. Keine Verletzungen, nur ein Schock. Auf dem Heimweg im Taxi, das fast auseinander fällt, stirbt der kleine Junge. Innere Blutungen, die keiner entdeckt hat. Unendliche Trauer herrscht in dem Dorf. Wenn alte Menschen sterben, dann ist es eher ein Fest, denn sie durften ihr Leben genießen und nun im Himmel weiterleben. Doch gerade bei Kindern und Jugendlichen ist von Freude oder Dankbarkeit nichts zu spüren – Trauer, Leere, Schmerz und Unverständnis. Die Familie weint. Wie sollen sie es der Tochter in der Stadt sagen? Das ganze Dorf weiß seit Tagen, welche Tragödie in der Familie passiert ist. Ein Mädchen aus dem Dorf fährt in die Stadt auf den großen Markt. Zufällig trifft sie die Schwester des kleinen Jungen. Sie redet vom Unfall und drückt der großen Schwester ihr Beileid aus. Verständnislos, irritiert. Sie begreift nicht, was ihre Freundin ihr erzählt. Niemand hat ihr gesagt, dass ihr Bruder von einem LKW angefahren wurde. Sie glaubt nicht, was sie hört. Es ist bestimmt bloß ein Irrtum. Sie ruft etwas besorgt ihre Eltern an. Was sollen sie ihr sagen? Schlechte Nachrichten übermittelt man hier so gut wie nie über das Telefon. Ja, er hatte einen Unfall, er ist im Krankenhaus zur Überwachung aber es geht ihm gut. Es entsteht eine Lügenwelt, in der alles gut ist.
In den folgenden Tagen trifft die große Schwester immer mehr Menschen, die von ihrem toten Bruder sprechen. Aber er lebt doch, für sie ist er so lebendig, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hat. Sie haben zusammen Weihnachten gefeiert und nie wird sie vergessen, wie er sich über ihr kleines Geschenk gefreut hat – ein Spielzeugauto. Sie erinnert sich, wie er ihr hinterhergewunken hat, bis sie auf dem Moto hinter der großen Kurve verschwunden ist, um zurück in die Stadt zu fahren. Verunsichert, ängstlich ruft sie wieder ihre Eltern an. Schweigen, dann wieder die gleiche Geschichte. Sie weiß nicht, was sie glauben soll und hofft doch, dass ihre Eltern die Wahrheit sagen.
Ihr Papa, ein angesehener Mann im Dorf, kommt eines Tages nach der Schule, um sein Mädchen abzuholen. Um ihr endlich die Wahrheit zu sagen, denn die Familie braucht sich jetzt, um gemeinsam zu trauern. Ihr Papa, mit Tränen im Gesicht, ist ein gebrochener Mann und es scheint, als hätte er seine „Größe“ verloren. Er musste gar nichts sagen, bei seinem Anblick hatte sie schon verstanden, dass alles was ihre Freunde aus dem Dorf erzählt hatten, wahr ist. Doch als ihr Vater ihr die Geschichte erzählt, ist es für sie ein Schlag ins Gesicht.
Er ist nicht im Krankenhaus, er wird nie wieder mit seinem Spielzeugauto spielen, nie mehr einen vollen Mond sehen. Er ist ein Engel geworden.
Sie fährt ins Dorf, denn in der Stadt hat sie zwar ihre Freunde, doch niemand kann sie in dieser Situation besser verstehen als ihre Familie, ihr Dorf. Sie trauern zusammen, weinen und klagen.
Das Mädchen muss zurück in die Stadt, denn sie hat Prüfungen in der Schule. Sie weint, allein. Sie schafft ihre Prüfungen, schafft sie für ihren kleinen Bruder.
Und heute, ein Jahr später, erzählt sie zum ersten Mal mit einem traurigen Lächeln im Gesicht von ihm. Sie wird ihn nie vergessen. Für sie ist er so lebendig, wie an dem Tag, als er ihr freudestrahlend hinterhergewunken hat. Dem Tag, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hat. Er lebt weiter in ihrem Herzen.
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