Während ich letzten Juni nach meinem Abi noch dachte, dass ich nun nie wieder in die Schule zurückkehren würde, stand ich nun, nicht einmal ein Jahr später, für einen Monat wieder jeden Tag im Klassenzimmer. Zum Glück aber nicht mehr als Schülerin, sondern als Lehrerin. Nachdem im Care Home kein Unterricht mehr stattfindet und wir auch nicht in die staatliche Schule können, bekamen wir nun endlich die Gelegenheit in das indische Schulleben einzutauchen und an einer Schule zu unterrichten.
Die große Vorfreude war leider etwas gedämpft durch den Umstand, dass wir nach dem Zwischenseminar und unserem Hampi-Urlaub, nur kurz im Care Home gewesen waren und nicht schon wieder weg wollten.

Nichtsdestotrotz machten wir uns motiviert am 21. Februar in Richtung Süden auf und erreichten nach einer siebenstündigen Anfahrt die Don Bosco School of Excellence, Sayalkudi. Da es sich um eine Privatschule handelt, die von den Salesianern geleitet wird, war es kein Problem, dass wir als ausländische Freiwillige einige Zeit zum Unterrichten kommen.


Die Schule geht vom Pre KG ( Vorkindergarten), über den LKG (Lower Kindergarten), den UKG (Upper Kindergarten) und die Grundschule bis hin zur 10. Klasse. Eigentlich geht die Schule in Indien bis zur 12. Klasse, da die Schule aber noch sehr neu ist und die jetzige 10. Klasse der erste Jahrgang ist, der nun Jahr für Jahr in die höhere Stufe kommt, dauert es noch zwei Jahre bis auch hier die Schule bis zur 12. Klasse geht. Neben privaten und staatlichen Schulen, lassen sich die Schulen in Tamil Nadu noch ganz grob in zwei weitere Kategorien unterscheiden: „English Medium“ und „Tamil Medium“.
Die DB Schule in Sayalkudi ist eine „english medium school“. Das bedeutet, dass die Kinder alle Fächer, außer natürlich Tamil, auf Englisch haben. Außerdem handelt es sich bei der Schule um eine „CBSE (Central Board of Secondary education) school“. Wie bei uns in Deutschland auch, ist Schulbildung größtenteils Aufgabe der Bundesländer. Die CBSE Schulen hingegen werden von der indischen Regierung zentral aus Delhi verwaltet und kontrolliert. Das Niveau und die Anforderungen in diesen Schulen soll, so wurde es mir erzählt, demnach auch deutlich höher sein, weshalb die Schüler*innen später auch deutlich bessere Chancen bei der Job- und Collegesuche haben ( alleine schon, weil diese Schulen einen besseren Ruf haben).

Hannah und ich hatten jeden Tag jeweils zwei Unterrichtsstunden in denen wir „Communicative English (CE)“ unterrichten sollten, weshalb wir vor allem Spiele spielten, wie Tabu, Board Race oder Word Chain, damit die Kinder ins Reden kommen und Vokabeln verinnerlichen konnten. Da sich unsere Stunden meist nicht überschnitten, konnten wir uns gegenseitig meistens in den Klassen unterstützen, was bei der Größe der Klassen (bis zu 40 Schüler*innen) sehr hilfreich war. Schön war es aber trotzdem auch mal ein paar Stunden alleine zu unterrichten und die „Herausforderungen“ selbstständig zu bewältigen. Vor allem am Anfang war es ein komisches Gefühl vor einer ganzen Klasse zu stehen und den Unterricht zu leiten. Das wurde aber mit Stunde zu Stunde besser und man lernt immer selbstbewusster aufzutreten. Da wir von der 1. bis zur 8. Klasse alles unterrichteten, konnte man ganz unterschiedliche Spiele ausprobieren und hatte ganz unterschiedliche Erfahrungen. Allgemein war ich aber sehr überrascht von dem Englischniveau, dass die Schüler*innen hier haben und es war dann doch mal toll, dass man sich recht entspannt mit den meisten verständigen konnten.

Auch wenn es manchmal echt anstrengend war über 35 Schüler*innen dazu zubringen einem zuzuhören, sie zu ermahnen, dass sie nicht nach vorne rennen sollen oder ihnen zum 50. Mal zu erklären, dass ich nichts verstehe, wenn alle gleichzeitig unterschiedliche Lösungen nach vorne brüllen, so hat es doch vor allem Spaß gemacht.

Sei es eine Horde von Erstklässlern, die nach vorne rennt, um uns zu umarmen, sobald wir den Klassenraum betreten. Eine zweite Klasse, die in Jubel ausbricht, wenn sie sehen, dass wir die nächste Stunde übernehmen. Die achte Klasse, in der beim Board Race kein Team dem anderen Team einen Punkt gönnt. Der eine Schüler, der jeden Tag nach Schulschluss zu uns kommt, um uns eine Frage zu uns zu stellen. Das Fangen spielen mit den Kindergarten Kindern auf dem Spielplatz. Oder das alltägliche Verabschieden der Schüler*innen am Ausgang mit High-Five, Handschlag oder Faustschlag.

Diese und viele weiteren kleinen Momente, ließen mir immer wieder das Herz aufgehen und werden mir in Erinnerung bleiben.

Abends begleiteten wir dann einen Sozialarbeiter bei den Besuchen der zahlreichen „Nightschools“ in den umliegenden Dörfern. Hier können die Kinder hinkommen, die auf die staatlichen Schulen gehen und daheim keine gute Möglichkeit zum Lernen haben. Außerdem ist eine Lehrerin vor Ort, die ihnen bei Fragen und Problemen weiterhelfen kann. Was mir besonders an diesen Besuchen gefallen hat, war zum Einen, dass man in den Dörfern nochmal eine ganz andere Lebenswelt gesehen hat und zum Anderen waren auch die Begegnungen mit den Kindern vor Ort besonders und schön. Mein Highlight war, als wir für gute zehn Minuten mit einer großen Gruppen von jüngeren Kindern tanzten und jedes Kind eigene Tanzschritte einbrachte.

Das indische Schulsystem
Schule und Unterricht in Tamil Nadu ist in einigen Aspekten ähnlich zu Schule und Unterricht in Deutschland, dann aber doch wieder ganz anders. Wie auch bei uns in Deutschland kann man zum Beispiel in den letzten zwei Schuljahren Fächer mehr nach den einigen Interessen wählen, Unterrichtsinhalte sind ähnlich und Schüler*innen machen logischerweise genau den gleichen Blödsinn, wie Schüler*innen in Deutschland machen und bis vor einem Jahr auch noch ich gemacht habe.

Ich glaube aber, es isst deutlich interessanter, wenn ich auf ein paar Unterschiede zum deutschen Schulsystem eingehe:

-Frontalunterricht:  Ein großer Teil des Unterrichts hier ist reiner Frontalunterricht. Damit meine ich, dass der Lehrer oder die Lehrerin vor der Klasse steht und einen Vortrag hält. Die Schüler*innen müssen nur hin und wieder auf eine Frage antworten (das auch oftmals im Chor) und schreiben ansonsten einfach nur mit. Gruppenarbeit, Diskussionen mit dem Sitznachbarn oder der Sitznachbarin oder auch ganz andere Unterrichtsmethoden sind selten an der Tagesordnung. Das ist schonmal alleine der Tatsache geschuldet, dass die Klassen so groß sind. 35-40 Schüler, wie hier an der Schule, sind im Vergleich zu manchen Klassengrößen an staatlichen Schulen sogar noch recht klein.

-Auswendig lernen: Geht es auf die Examen zu, müssen die Jungs bei uns im Care Home natürlich auch viel pauken. Hierbei fällt mir immer wieder auf, dass fast alle keine wirkliche Lernstrategie haben. Ein Großteil sitzt einfach nur da, hat das Buch vor sich liegen und versucht die Texte auswendig zu lernen. So etwas wie Zusammenfassungen schreiben, macht eigentlich niemand. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass sie vor allem Fakten und schon fertiges Wissen stur auswendig lernen müssen. Das Gelernte dann auf andere Probleme übertragen und anwenden zu können oder sich auf Grund dieses Wissens eine eigene Meinung bilden zu können, ist weniger gefragt. So habe ich bei einigen Jungs schon mitbekommen, dass sie die fertige Gedichtinterpretation eines Gedichts auswendig lernen mussten, anstatt zu lernen, wie man ein fremdes Gedicht selbstständig interpretieren kann. Hier an der Schule in Sayalkudi wurde uns dann aber gesagt, dass die Anforderungen an CBSE Schulen schon mehr ist, dass die Schüler*innen selbstständig gelerntes Wissen anwenden können. Unsere Jungs im Care Home gehen aber natürlich alle auf staatliche Schulen.

-Gute Bildung muss man sich leisten können: Schulbildung ist zwar umsonst in Indien, es gibt aber extreme Unterschiede zwischen staatlichen und privaten Schulen. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf private Schulen, da dort das Niveau deutlich höher ist, die Klassen kleiner sind und die Ausstattung um vieles besser ist. Außerdem gibt es natürlich immer noch sehr viele Kinder in Indien, die in ihrem ganzen Leben noch nie eine Schule besucht haben und auch nie besuchen werden.

International Women’s Day

Wie auch auf der ganzen Welt, wurde hier in der Schule am 8.März der internationale Frauentag gefeiert. Einmal während der allmorgendlichen Versammlung mit den Schüler*innen und einmal mit Frauen aus den umliegenden Dörfern, die extra hierher kamen. Hannah und ich durften bei beiden Gegebenheiten eine kurze Rede halten. Davon erfuhren wir aber -wie soll es auch anders sein- erst ein paar Minuten vor dem Start der Veranstaltung. Es war also wieder ein bisschen Improvisation nötig, was mich aufgrund der Wichtigkeit dieses Themas etwas störte, weil ich lieber mehr Zeit gehabt hätte, um alle meine Gedanken und Anregungen zu sortieren.

Was mich außerdem an der Versammlung in der Schule störte, war, dass es rein darum ging, Frauen für ihre Errungenschaften und Bemühungen zu feiern und zu danken. An sich ist daran ja nichts verkehrt. Nur hätte ich mir gewünscht, dass auch noch etwas zum Thema Gleichberechtigung gesagt worden wäre und Frauen eben immer noch nicht überall gleich behandelt werden und benachteiligt sind. Schließlich geht es ja auch genau darum beim internationalen Frauentag.

Bei der Veranstaltung für die Frauen aus den umliegenden Dörfern ging es dann, soweit ich das einschätzen kann (die Reden waren alle auf Tamil), auch um Gleichberechtigung und Emanzipation.

Ich möchte diesen Moment nutzen, um darüber zu berichten, wie ich das Thema Gleichberechtigung und die Rolle der Frau hier in Indien bzw. Tamil Nadu erfahre.  Vorweg natürlich direkt der Hinweis, dass es sich hierbei um meine subjektive Wahrnehmung handelt, die ich aus Beobachtungen und den Gesprächen mit Menschen hier gewonnen habe. Was ich jetzt erzähle lässt sich natürlich auch nicht auf ganz Indien übertragen, schließlich gibt es extreme Unterschiede, je nachdem in welcher Region man lebt , ob man auf dem Land oder in der Stadt wohnt und welcher Schicht man angehört. Im Nordosten Indiens, wo auch zwei Volos unseres Jahrgangs sind, herrscht zum Beispiel Matriarchat, während im Rest Indiens eigentlich überall Patriachat herrscht.

Was einem direkt auffällt, wenn man in Indien herum läuft, ist, wie männerdominiert die Straßen sind, man also teilweise nur wenige Frauen herumlaufen sieht. Besonders aufgefallen ist mir das, als wir in Hyderabad waren, wo es nach meiner Einschätzung deutlich extremer war, als hier in Tamil Nadu. Ein Grund hierfür ist vermutlich auch, dass der Tätigkeitsbereich der Frau zu großen Teilen die eigenen vier Wände sind. Haushalt schmeißen, Kochen und auf die Kinder aufpassen, ist zu großen Teilen die Aufgabe der Frau. Das traditionelle Rollenbild der Frau ist vorherrschend. Trotzdem sehe ich hier in Tamil Nadu auch sehr viele Frauen arbeiten und bekomme mit, dass auch viele junge Frauen studieren, sofern es sich die Familien natürlich leisten können.

An unserem ersten Wochenende hier an der Schule in Sayalkudi wollten Hannah und ich gerne in die Stadt gehen. Einer der Fathers bot netterweise an eine Bekannte zu fragen, ob sie uns begleiten und herumführen will. Nachdem der Father erst sie fragte, rief er danach noch ihren Vater an, um diesen um Erlaubnis zu bitten und das, obwohl sie 24 Jahre alt ist. Für mich war das total irritierend, da ich schließlich schon länger meine Eltern nicht mehr um Erlaubnis fragen muss, wenn ich daheim in die Stadt will. Im Gespräch mit dem Father erfuhren wir dann, dass es hier in der Gegend wohl noch üblich sei, dass Töchter ihre Väter bzw. Eltern, solange sie daheim leben, um Erlaubnis fragen (müssten), bevor sie wo hingehen können. Auch später in der Ehe würden Frauen ihren Mann erst um Erlaubnis fragen, bevor sie gehen. Der Mann hat also innerhalb der Ehe und der Familie das Sagen.
(Bemerkung: Ich weiß leider nicht, ob junge Männer, die noch in ihrem Elternhaus leben, ihre Eltern auch um Erlaubnis fragen müssen, bevor sie das Haus verlassen. Der Father hat uns nur das erzählt, was ich berichtet habe. Allgemein bestimmen hier Eltern deutlich länger über das Leben ihrer Kinder, als es bei uns in Deutschland üblich ist. Familie hat hier aber auch einfach einen ganz anderen Stellenwert.)

Ich habe tatsächlich lange überlegt, ob ich überhaupt auf das Thema eingehen soll, weil es natürlich sehr komplex und viel tiefgehender ist, als ich jetzt hier mit meinen paar Beispielen anreiße. Vielleicht gibt meine Schilderung aber einen kleinen Einblick, was man als dann doch noch Außenstehende mitbekommt. Man muss natürlich auch hinzufügen, dass sich Indien zur Zeit sehr im Wandel befindet, auch was die Rolle und Rechte von Frauen angeht.

Morgen geht es für Hannah und mich dann wieder ins Care Home. Ich freue mich sehr, die Jungs wiederzusehen und wieder für einen längeren Zeitraum da zu sein. Die letzten Tage hatte ich nämlich tatsächlich etwas Heimweh nach dem Care Home. So schön und interessant es jetzt hier in Sayalkudi auch war, daheim ist es einfach am Schönsten.