Die Boys

Tja, da habt ihr alle zu hoch geschätzt. Das habe ich mir aber schon vorher gedacht. Eine Bahnfahrt kostet hier nämlich nur stolze 6 Cent.

Heute geht es um die Jungs im Shelter und was ich mit ihnen den ganzen Tag lang so mache. Nach dem Frühstück sind hauptsächlich die jüngsten Jungs im Shelter und malen, zeichnen, bekommen Englischunterricht, spielen Tischtennis oder gucken Videos auf dem Computer. Von Flaggen-, Automarken- und Tierquizen, über Videos von deutschen Städten bis hin zu Musikvideos von indischen Rappern ist alles dabei. Ein paar mal habe ich mit geraten, meistens lasse ich mir aber englische Bücher vorlesen und versuche mit den Jungs Englisch zu reden. Falls etwas nicht verständlich ist, helfen wir uns mit Händen und Füßen aus. Gegen 11 Uhr ist dann Game-Time in der Tischtennis gespielt wird. Die Tischtennisplatte ist ein normaler Tisch auf dem Holzklötze als Netz aufgestellt werden. Gegen 12 Uhr machen sich die Kleinen dann fertig für die Schule am Nachmittag: Schuluniform anziehen, Haare kämmen und mit Kokosnussöl vor dem Spiegel stylen. Nach dem Mittagessen machen Paula und ich manchmal eine Pause oder spielen Ukulele. Ich hab mir Ukulele spielen schnell beibringen können, weil das so ähnlich wie Gitarre funktioniert. Manche Jungs setzten sich regelmäßig zu uns und lernen auch Stück für Stück die Akkorde. Im Laufe des Nachmittags kommen die großen Jungs von der Schule und reden dann viel mit mir. Wir reden über den Monsun, die Fathers, Deutschland, Filme und haben uns hoffnungslos probiert gegenseitig Zungenbrecher in Hindi oder auf Deutsch beizubringen. Oft spielen wir auch Kartenspiele, die wir mitgebracht haben. Uno, Double, Piratatak und das Auto-Quartett sind die Beliebtesten. Am späten Nachmittag ist dann Studie time. Da passen wir auf, dass alle in ihre Bücher gucken und lernen nebenbei unsere Hindi-Vokabeln. Um 18 Uhr gibt es eine Assembly und danach geht es zum Fußballplatz.

Weg zum Fußballplatz
Fußballplatz

Hier spielen die Senior Boys und die Junior Boys jeweils in zwei Teams gegeneinander. Ich spiele mal bei den Seniors, mal bei den Juniors mit. Auf dem Rückweg reden wir immer über irgendwas, das uns gerade in den Sinn kommt. Vor ein paar Tagen hat mich ein Junge gefragt, ob ich meine Eltern und meine Geschwister kenne. Zuerst war ich kurz verwundert, weil mir vorher noch nie eine Frage dieser Art gestellt wurde. Ich habe geantwortet: ,,Ja, ich kenne meine Familie, lebe mit meinen Eltern und meinem Bruder zusammen.“ Ich wusste aber, dass der Junge mir nicht die gleiche Situation seinerseits schildern wird. Sonst würde er nicht im Shelter leben. Der Junge erzählte, dass seine Mutter gestorben ist als er 9 Jahre alt war und er seinen Vater nie kennengelernt hat. Nur zu seiner älteren Schwestern hat er einmal im Monat per Telefon Kontakt. Da wusste ich für einen Moment nicht was ich sagen sollte.

Dass klingt jetzt wahrscheinlich etwas verpeilt, aber bis dahin hatte ich es mir noch nicht wirklich bewusst gemacht, dass sich die Jungs in solch einer Situation befinden. Entweder sie kennen ihre Eltern nicht (mehr) oder sie konnten von ihnen nicht ausreichend versorgt werden. Davor hatte mich die Lebensfreude und die positive Energie der Jungs immer davon abgelenkt. Für mich selbst ist solch eine Situation unvorstellbar und ich habe großen Respekt vor den Jungs, dass sie irgendwie damit klar kommen.

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  1. Melanie

    Lieber Emmanuel,
    danke für den außerordentlich tollen Bericht.
    Das Ticket ist ja wirklich erstaunlich günstig. Unglaublich!
    Wie bedeutsam eine Familienzugehörigkeit sein kann, wird da einem bestimmt durch solche Gespräche erst richtig bewusst.
    Es hört sich alles nach einer sehr wertvollen Zeit an.
    Ich wünsche dir weiterhin viel Spaß bei deiner/eurer Arbeit.
    Liebe Grüße aus dem herbstlichen Berlin

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