Wundertüte Benin

Milena in Westafrika

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Kunterbunter Alltagswahnsinn

TSCH, TSCH, TSCH – erster Wecker! Leider nicht der, den Mia und ich uns am Abend zuvor auf 6:30 Uhr gestellt haben, sondern der, den wir um 5:30 Uhr nicht ausschalten können. Schon früh morgens, wenn es noch dunkel ist, fegen die Foyermädchen mit kleinen Handbesen aus Palmblättern das Schwesterngelände und summen dabei leise vor sich hin. Weil alles offen ist, hört man das bis zu uns ins Zimmer. Ich drehe mich noch einmal um, schlafen kann ich aber nicht mehr… 

MEOOO, MEOOO! Es ist 7 Uhr und die Sirene kündigt den Schulbeginn im Collège der Kommunität an. Für Mia und mich bedeutet das: Allerhöchste Eisenbahn,  rüber ins Schwesternhaus zu schlappen und zu frühstücken. Wie so oft sind wir etwas knapp dran und schmieren uns nur ein Stück Baguette (oder wie wir es nennen: Luftbrot) für die Fahrt. 

Dann heißt es auch schon: Alle einsteigen, ein kurzes Gebet für die sichere Fahrt und ab geht die Post! Schwungvoll steuert die kolumbianische Schwester den klapprigen Bus in das morgendliche Verkehrschaos und trägt ordentlich zum dröhnenden Hupkonzert bei. Mit an Bord sind zwei Mädchen aus dem Foyer, die ihre Ausbildung im Maison de l’Espérance machen, die nigerianische Präaspirantin Marthe*, die wir auf dem Weg in einer Schule absetzen, wo sie Französisich lernt und eine Tata aus dem Maison de l’Espérance. 

Angekommen im Viertel Hinde trennen sich Mias und meine Wege. Für Mia geht es zu den Jugendlichen ins Maison de l’Espérance – das Ausbildungszentrum. Ich öffne nebenan die quietschende Tür zum Maison du Soleil. Der kleine Elias* entdeckt mich als Erster, ruft „Tata, Tata“ und keine zehn Sekunden später  klammern sich mindestens fünf Kleinkinder an meine Beine. Auch Mama Estelle*, die schon auf dem Sprung ins Ausbildungszentrum ist, läuft freudig auf mich zu, umarmt mich und drückt mir ihren 11 Monate alten Sohn Emil* auf den Arm. 

Die nächsten zwei Stunden verbringe ich mit Windeln wechseln, füttern, singen, Hoppe-Hoppe-Reiter, trösten und in den Schlaf wiegen.

10 Uhr – Pause im Ausbildungszentrum! Für die Mamas nicht so wirklich – auf sie warten ihre hungrigen Kinder, die gestillt werden möchten. Sind alle Bäuchlein gefüllt, kehrt ein bisschen Ruhe ein, denn die meisten Kinder halten ein seeliges Vormittagsschläfchen. Einige Kinder finden schlafen langweilig und wollen lieber mit „pâte à modeler“ spielen. Seitdem ich ein Mal Knete ins Maison du Soleil mitgebracht habe, wollen die Kids nichts anderes mehr machen und fragen jeden Tag danach. Na gut, dann kneten wir halt zur Abwechslung mal wieder! Spannend, dass Kinder egal, was man ihnen zeigt, immer das machen, was ihnen selbst bekannt ist: Alain* macht ganz stolz „toffee“ – beninisches Karamell! 

Merveille* ist bereits seit ein paar Monaten fertig mit ihrer Ausbildung. Heute möchte sie petits cailloux (kleine beninische Kekse) zubereiten und sie nebenan im Maison de l’Espérance in der Mittagspause verkaufen, damit sie ein wenig Geld verdient. Weil die jungen Mütter und ihre Kinder rechtlich geschützt sind und deshalb das Grundstück des Wohnheims nicht ohne Begleitung verlassen dürfen, werde ich gebeten, sie beim Kaufen der Zutaten auf den Markt zu begleiten. Wer dabei auf wen aufpasst lässt sich in Frage stellen, für mich ist es aber eine willkommene Gelegenheit, zumindest eine halbe Stunde kein Klettergerüst mehr zu sein. 

12:30 Uhr – Mittagspause! Unter vielen Luftküssen verabschiede ich mich von den Sonnenkindern und gehe nebenan ins Maison de l’Espérance. Dort sind die letzten Vorbereitungen für das Kantine-Mittagessen im Gange. Über einem Kohleherd thront ein riesiger Topf randvoll mit Pâte – der Leibspeise der meisten Beniner*innen. Lange habe ich überlegt, wie ich Pâte am besten beschreibe und bin gemeinsam mit Mia zu dem Entschluss gekommen, dass man zumindest die Konsistenz als eine Mischung aus Pudding und Grießbrei beschreiben kann. Geschmacklich kommt es ganz darauf an, aus was die Pâte hergestellt wurde – zur Auswahl stehen Mais, Maniok und Yams. Einen ordentlichen Schwung Chilli dazu – fertig!

Heute ist Dienstag, also esse ich recht zügig, quatsche noch kurz mit Mia über den Vormittag, packe meine Sachen und mache mich auf den Weg zur Baraque SOS. Auf sandiger Straße ein Mal rechts und dann geradeaus ins Marktgetümmel von Dantokpa. Den Spaziergang über den Markt liebe ich! Während ich am Anfang immer brav dem Weg gefolgt bin, der mir von Fofo (so werden Männer hier höflich angesprochen) Serge* – einem Mitarbeiter der Baraque – gezeigt wurde, ist mein Orientierungssinn auch in diesem geschäftigen Treiben mittlerweile so weit ausgereift, dass ich immer neue Wege einschlage. Zur Not Richtung Kanal – von da aus kenne ich den Weg sicher! Jedes Mal aufs Neue bin ich beeindruckt von diesem riesigen Warendschungel und versuche, all das bunte Gewusel, all die Gerüche und Geräusche wahrzunehmen und tief in mich einzusaugen. Hier gibt es nichts, was es nicht gibt! Berge an Orangen, Türme an Bohnen, Stapel an Plastikbehältnissen, Haufen an Fischen, Reihen an Voodoo-Fetischen – kurz: alles, was das Herz begehrt!

Unter die üblichen „Yovo-Yovo-Bonsoir-ça-va-bien-merci-Gesänge“ und die „Yovo-schau-meine-Ware-an-Rufe“ mischt sich inzwischen oft ein aufgeregtes „Tata Milena, Bonsoir!“. Ich schaue mich suchend um. Ah, die da vorne kenne ich doch! Obwohl ich sie nur von hinten sehe, bin ich mir sicher: Es ist Nadja*. Auf ihrem Kopf balanciert sie wie immer Kräuterbüschel und auch ihre kleine Kleidungsauswahl kenne ich mittlerweile. Ist das nicht verrückt? Ich laufe durch das Gassengewirr des größten Markts Westafrikas, sehe oft vor lauter Verkaufstrubel meine eigenen Füße nicht, aber erkenne bekannte Kindergesichter!? „Est-ce que tu vas à la Baraque? – Gehst du in die Baraque?“, frage ich sie. Das verstehen selbst die Mädchen, die kein Französisch sprechen. Nadja* nickt und wir bahnen uns gemeinsam unseren Weg in Richtung Baraque.

Freudig begrüßt man mich mit einer Umarmung, springt an mir hoch oder klatscht mit dem üblichen lässigen „Baraque-Handschlag“ ein. Dann schnell alle auf ihre Plätze! Fofo Serge* startet mit dem Alphabetisierungskurs, ich helfe wo ich kann. Alicia* fordert mich zu einem „Wer-kann-schneller-das-ABC-schreiben-Wettbewerb“ heraus. Mir fällt ganz plötzlich nicht mehr ein, wie man den Buchstaben „W“ schreibt, als ich merke, dass sie einige Buchstaben langsamer ist. So ein Mist, jetzt hat die Kleine mich besiegt! Ich verspreche ihr, Zuhause das Alphabet zu üben, damit ich beim nächsten Mal genauso gut bin wie sie. 

Danach setzen die Marktmädels sich im Halbkreis hinter die Tische im Raum nebenan und wollen wissen, was Tata Milena heute für eine Idee mitgebracht hat. „Wir machen Papierflieger!“ – „Was ist denn das?“ – „Ich zeige es euch!“ Schritt für Schritt falte ich vor, Schritt für Schritt falten die Mädchen nach. Keine so leichte Aufgabe, aber alle gemeinsam schaffen wir das! Im Anschluss bemalen wir die Flieger mit bunten Farben und diejenigen, die es können, schreiben stolz ihren Namen darauf. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass all das geregelt und harmonisch abläuft. Elia* muss einen neuen Papierflieger falten, weil Rebecca* ihren zerissen hat. Sèna* und Agathe* springen plötzlich auf und prügeln sich, weil die eine der anderen 50 Francs (keine 8 Cent) weggenommen hat. Rosine* und Marcelline* zanken sich um einen Stift. Doch was zählt: Am Ende stehen circa 30 lebensfrohe Papierflieger-Pilotinnen vor der der Baraque und lassen ihre Kunstwerke durch die Lüfte sausen. „Bye, bye petit avion – Bye, bye kleines Flugzeug!“, jubeln sie und springen barfuß ihren Papierfliegern hinterher. Nicht nur die Mädels sind begeistert von den Flugkünsten ihrer Flieger, auch ein kleiner Junge, der gerade einen Reifenmantel von der Felge hebt, einige Verkäuferinnen und einzelne „Karrenzieher“ halten inne, beobachten das Spiel und lachen. Ich setze mich auf die Stufen der Baraque, lächle in mich hinein und freue mich, mit welch simplen Dingen man die taffen Mädchen zum strahlen bringen kann.

Die restliche Zeit verbringen wir mit hitzigen UNO-Partien, bei denen mir die Regeln vom Himmel zu fallen scheinen und spannenden Awalé-Duellen, von denen ich mit Stolz sagen kann, dass ich mittlerweile gegen die ein oder andere Beninerin gewinne! 

17 Uhr – Schicht im Schacht! Die Mädels bilden vor der Baraque eine Traube. Einige setzen ihre Klatschspiele fort, andere sitzen auf dem Boden und sortieren ihre Ware, bevor wir die kiloschweren Körbe gemeinsam auf die Köpfe hieven, damit sie in die letzte Verkaufsrunde des Tages starten können. Jedes Mal wieder bin ich wütend über dieses unglaubliche Gewicht! Dann lassen wir Ruhe einkehren in die zwei spärlichen Räume des Containers, schließen die Türen und Fenster, wirbeln den Dreck und den Müll, der sich über den Tag angesammelt hat, mit unseren Besen auf und genießen den kurzen Moment der Stille. 

Oft begleiten mich die Mädels, bis ich auch ja sicher auf einem Zem sitze. Manchmal möchte ich noch ein paar Dinge besorgen, aber auch dann ziehen mich die Mädchen an der Hand hinter sich her. Sie kennen sich schließlich viel besser aus im Marktgetümmel und möchten mir zeigen, wo ich das Gesuchte am günstigsten finde. 

Ich winke einen Zemfahrer zu mir, erkläre ihm wohin ich will und sage, dass ich 300 Francs zahle. Selbst den Preis zu sagen, hat sich als bessere Taktik erwiesen. Er will trotzdem das Doppelte – war klar! Ich bleibe stur. Ich will nicht den Preis für Yovos zahlen. Ich wohne hier. Mehr als 300 Francs zahle ich nicht. Lachend willigt er ein, ich schwinge mich zu ihm auf die von der starken Sonne aufgeheizte Sitzbank und wir schlängeln uns vorbei an Verkäuferinnen, Autos und unzähligen Zems Richtung Zogbo – mein Zuhause. 

19 Uhr: Heute Abend essen wir bei den Foyer-Mädels. Es gibt Reis und gekochtes Ei. „Mhmm, c’est doooux!“, würden die Mädchen sagen. Gegessen wird ganz beninisch mit der Hand. Sich nach dem Essen schnell abzuseilen, ist eigentlich jedes Mal ein Ding der Unmöglichkeit: Aline* will mir ihre neueste Zeichnung zeigen, Nadine* singt mir ein Lied vor, das sie selbst geschrieben hat und Nairobi* möchte zum Thema Wetter abgefragt werden. Irgenwann können wir nicht mehr und verabschieden uns. 

Ich sitze noch eine Weile vor unserem Zimmer, überlege mir eine Bastelidee für  den nächsten Tag mit den Power-Mädchen vom Markt, kritzel ein paar Zeilen in mein Tagebuch und wasche mir dann (sofern es Wasser gibt…) den Schweiß und Dreck, der sich über den Tag auf meiner Haut angesammelt hat, vom Körper.

Müde aber glücklich liege ich irgendwann in meinem Bett und bin dankbar – so dankbar, diesen kunterbunten Alltagswahnsinn erleben zu dürfen!

*Zum Schutze der Personen, sind alle Namen geändert. 

Kleine Anmerkung: Wer bei all den Projekten nicht ganz durchschaut, findet hier eine kurze Beschreibung zu jeder Einrichtung, in der ich mitarbeite. 

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