Der Drang nach Freiheit

Ich bin gerade auf dem Weg in die Küche und will den Tisch für den Tea decken. Nur so nebenbei schweift mein Blick über das Whiteboard an unserer Wand. Und bleibt plötzlich hängen.

Seit ein paar Wochen ist in der rechten unteren Ecke eine Tabelle aufgemalt in der steht, wie viele Jungs es in einer Altersgruppe insgesamt gibt, und wie viele davon anwesend sind. Unten drunter stehen dann die Gesamtzahl der Jungs und die davon Anwesenden.

Heute steht bei der Gesamtzahl der Jungs plötzlich nur noch 69 statt 70. Da läuten bei mir sofort die Alarmglocken. Welcher Junge ist bloß gegangen? Und warum? Bei genauerem betrachten sehe ich, dass ein College Junge fehlt. Aber die Frage bleibt: Wer und Warum?

Während Johanna und ich den Tea für die Jungs ausgeben, zähle ich die College Jungs durch und überlege mir, wer das Care Home verlassen haben könnte. Vielleicht Sabinson, dessen Familie gerade zu Besuch war? Vielleicht ist er ja mit ihnen nach Hause gegangen. Aber nein, kurze Zeit später kommt sein kleiner Bruder durch die Tür gelaufen. Die Familie ist also noch da, da wird Sabinson sicher nicht weg sein. Aber wer sonst? Irgendwie kann ich es mir bei keinem vorstellen…

Als einer der College Jungs zum Tea kommt, können wir endlich jemanden Fragen. Seine Antwort: Amal. Er wurde wohl von unserem Rektor mit einem Handy erwischt und wollte anschließend selber gehen.

Ich verstehe es nicht. Hier bekommt Amal das College bezahlt und hat die Chance seinen Abschluss zu machen und später eine gute Arbeit zu finden. Warum lässt er sich diese Chance entgehen? Das erste College Jahr hat er bereits geschafft, warum zieht er die nächsten zwei Jahre nicht einfach auch noch durch? Selbst wird er wohl nicht in der Lage sein, das College zu bezahlen.

Am nächsten Tag fragen wir den Rektor, was genau vorgefallen ist, und warum Amal gegangen ist. Auch er erzählt uns, dass er Amal letzte Woche mit einem Smartphone gesehen hat, was hier eigentlich verboten ist. Trotzdem hat er nichts gemacht und Amal noch eine Chance gegeben. Am Samstag hat sich Amal dann wie aus dem nichts entschuldigt und angekündigt, dass er das Care Home verlassen wird. Zu diesem Zeitpunkt stand seine Entscheidung wohl schon so fest, dass man ihn auch zu nichts anderem mehr überreden konnte. Am Sonntag nach dem Gottesdienst ist er dann ohne ein Wort zu sagen einfach gegangen. Hinterlassen hat er nur einen Zettel auf dem stand, dass er den Timetable (Zeitplan) im Care Home nicht mag.

Der Grund, warum Amal gegangen ist, war wohl der Drang nach Freiheit, der größer war als seine Vernunft. Viele seiner Freunde im College haben ein Handy und sind auch sonst viel freier, wie sie ihren Tag verbringen wollen. Hier gibt es dagegen feste Regeln, wann die Jungs lernen sollen, wann arbeiten und wann spielen. Anders funktioniert das Zusammenleben von so vielen Jungs eben auch nicht.

Schon nach den Ferien sind zwei College Jungs nicht wieder gekommen und gehen nun stattdessen arbeiten. Für 150 Rupien am Tag (umgerechnet ca. 2€) können sie sich so etwas Geld verdienen und sich ein paar Sachen kaufen. Auf kurze Sicht klingt das verlockend. Und vor allem nach Freiheit.

Nachdem Amal mit Smartphone erwischt wurde, hat es ihm wohl endgültig gereicht und der Drang nach Freiheit wurde so groß, dass er es hier nicht mehr ausgehalten hat.

Ich finde es sehr schade, dass Amal gegangen ist. Ich finde es schade, weil ich die Jungs mit der Zeit alle ein bisschen ins Herz geschlossen haben. Und ich finde es schade, dass er die Chance auf eine gute Zukunft mit gutem College Abschluss nicht nutzt.

Aber wie die Inder sagen „What do do?“ (Was soll man machen?). Man kann eben keinen zwingen hier zu bleiben.

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  1. ufricke

    Hallo Sara, danke für das Teilen dieser Eindrücke. Ja, wenn wir Menschen so einfach wären und Hilfe sich nur auf „satt und sauber“ konzentrieren müsste und dann wäre alles gut…So funktionieren wir Menschen nicht. Für Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter ist das sicher eine der schwersten Erfahrungen. Auszuhalten, dass junge Menschen nicht immer das Beste für sich wählen….
    LG aus Bonn von Don Bosco Mission
    Ulla Fricke

  2. Ruth Peter

    Liebe Sara,
    Mir gefallen deine Blocks mit den nachdenklichen Themen sehr gut. Hier spiegelst du sehr anschaulich die Probleme und Unterschiede unserer Welten. Bei reinen Reiseberichten erscheint euer Freiwilligendienst als ein Hollyday Event. So beleuchtest du auch mal die anderen Seiten.
    Vielen Dank dafür.
    Deine Mama

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