Ich muss sagen, dass mir die Jungs schon manchmal leidtun. Sie haben einen komplett durchstrukturierten und getakteten Tagesablauf und somit auch kaum Freiraum. Zudem haben sie genau zero Privatsphäre. Ich glaube, für sie ist der Platz unter den Tischen schon eine Art Rückzugsort. Dort sieht man manche der Jungs oftmals einfach nur auf dem Boden rumliegen. Sie schlafen dort, spielen mit etwas oder tun einfach mal gar nichts. Das ist ihr Ort, an dem sie wenigstens ein bisschen von dem ganzen Geschehen um sich rum Abstand nehmen und für einen Moment zur Ruhe kommen können.

Die Anzahl der Jungs in der comunidad infantil, also die Jungs mit denen ich arbeite, ist wirklich groß: ca 45 Jungs, die alle zusammen leben. Und ich denke wer schon mal mit Jungs tun zu hatte, weiß, dass es für sie schwer ist, in Gegenwart anderer Jungs ihre Schwächen zuzulassen. Die Jungs wollen immer stark sein, sich beweisen können, um sich von den anderen nicht unterkriegen zu lassen. Natürlich sind die Jungs hier jetzt nicht so drauf, dass sie sich ein Mobbingopfer suchen und gegenseitig fertig machen. Und natürlich hat jeder der Jungs seine Momente, in denen sie weinen müssen oder einfach mal nicht den Starken spielen können, weil sie halt doch noch Kind sind und das ausleben wollen und auch müssen. Jedoch gibt es dennoch eine klare Hierarchie in der Gruppe. Und jeder muss sich seinen Platz erkämpfen und verdienen.  Dieses „stark sein“  und „sich beweisen wollen“ gibt’s überall wo Jungs miteinander zu tun haben. Jedoch ist das hier ein komplett anderes Ausmaß, da sie rund um die Uhr damit konfrontiert werden. Sie können nicht nach Hause gehen, um Abstand von den anderen Jungs zu nehmen und dort ihre Schwächen zuzulassen. Das Hogar ist ihr Zuhause. Dort sind sie den ganzen Tag, die ganze Nacht, die ganze Woche mit den anderen Jungs zusammen und können kaum Abstand zu allem nehmen. Sie haben kaum Momente, um von allem abschalten zu können, müssen immer präsent sein. Ich denke diese Tatsache macht sie schon sehr früh seelisch sehr reif. Sie lernen somit auch mit jeglichen Charakteren klar zukommen und umzugehen, denn das müssen sie hier auch bei der Vielzahl an Jungs.

 

Dies alles bedeutet aber noch lange nicht, dass sie ihren kindischen, absolut unreifen Humor ablegen. Im Gegenteil, im Umgang mit den Älteren hab ich eher das Gefühl, dass dieser  im Alter immer mehr zunimmt.

Das mit der mangelnden Privatsphäre und der Gruppenhierarchie sind so Dinge, die ich eher kritisch betrachte. Das liegt aber absolut nicht am Hogar, denn es ist ja schließlich positiv, dass das Hogar sich so vielen Kindern annimmt und sich um sie kümmert. Es ist wohl eher ein allgemeines Problem in jeglichen Kinderheimen, das man auch eher schwer aus der Welt schaffen kann.

Nun möchte ich euch erzählen wie es aussieht wenn die Hogarjungs älter sind. Was das Hogar in ihrem Leben hinterlässt.

In letzter Zeit habe ich immer mehr mit den großen Jungs aus dem Hogar zu tun. Diese haben das Alter von ca. 12 bis 18 Jahren und sind zu ca 80. Und ich muss sagen der Umgang mit ihnen bereitet mir so viel Freude und Spaß. Jeder ist auf seine ganz eigene Weise ganz besonders und signifikant. Sie haben alle sehr starke Persönlichkeiten, interessante Charaktere und sind so gut erzogen. Sie wissen absolut wie sie sich benehmen müssen. Ich muss zugeben, dass ich ganz anfangs, als ich noch nicht einen Schritt in das Hogar gesetzt habe, sehr misstrauisch war. Ich dachte, ich müsse besonders vorsichtig mit meinen Wertsachen umgehen und gut auf diese aufpassen, nicht dass sie gestohlen werden. Aber dieses Misstrauen ist komplett abgefallen. Ich vertraue den Jungs total, da sie einfach zu lieb sind, einen super Umgang mit Menschen haben und einfach wissen, was sich gehört und was nicht. Die meisten von ihnen scheinen auch immer gute Laune zu haben, laufen lächelnd rum, albern rum und ärgern uns Voluntäre. Ich verbringe wirklich sehr gerne meine Zeit mit ihnen. Inzwischen geht es beinahe allen Voluntären des Hogars so, dass sie während ihrer Freizeit ins Hogar kommen, um diese mit den Jungs, sowohl den kleinen, als auch den großen, zu verbringen. Einfach weil es uns so viel Spaß macht mit ihnen und es immer etwas zu lachen gibt. Sie malen dich an mit Stiften, klauen dir deine Schuhe oder bringen dir Gitarre spielen bei. Zusammengefasst muss ich sagen, dass ich so dankbar sein muss diese Jungs kennengelernt zu haben. Ich hab sie wirklich sehr gerne. Leider verlässt die Hälfte von ihnen jetzt das Hogar. Manche gehen ins Barrio Juvenil um die Schule weiter zu machen. Manche gehen wieder nach Hause. und beginnen eine Ausbildung.

große Schminkstunde:

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Mir wurde mein Schuh geklaut:

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Viele fragen sich vielleicht auch welche Aussichten die Jungs aus dem Heim haben, was aus ihnen wird, wie sie das Hogar geprägt hat. Das kann ich nun nicht aus der Sicht von allen ehemaligen Hogarkindern machen, da jeder bestimmt seine eigene Blickweise darauf hat. Und zudem kenn ich sowieso bisher nur drei Ehemalige.

Nun, zwei von ihnen sind jetzt Erzieher im Hogar und der dritte will nach Spanien um dort zu studieren und mit seiner Freundin zu leben. Viele der jetzigen, älteren Hogarkinder nehmen sich ein Beispiel an den beiden Erziehern und versuchen das gleiche zu erreichen. Somit könnte man sagen das Hogar prägt sie so positiv, dass ihnen wirklich viel an diesem Ort liegt. Dass es für sie wirklich als Zuhause fungiert hat, von dem sie nicht mehr loslassen wollen. Es war so schön, dem einen von ihnen zuzuhören wie er über seine Hogarzeit gesprochen hat. Er meinte, er würde die Zeit gegen nichts im Leben tauschen wollen. Es sei die beste Zeit seines Lebens gewesen. Dort habe er alles erlebt, Tränen, Freude, Gelächter. Er sagte, er war ein Hogarkind und er wird immer eins sein. Und dies stehe ganz groß auf seiner Brust geschrieben. Natürlich im übertragenen Sinne. Damit sieht man, dass das Hogar sie nicht nur von ihrer Erziehung und Einstellung her prägt, sondern dass es etwas ist worauf die Jungs stolz sind. Ein Markenzeichen von ihnen, das sie nicht mehr ablegen wollen. Und das ist eine absolut wunderschöne Tatsache. Und ich bin froh in so einer Einrichtung, die den Jungs so viel gibt, ein Jahr lang arbeiten zu dürfen.

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