Wie schnell die Zeit doch vergeht. Die letzten Tage meines Auslandsfreiwilligendienstes in Vijayawada, Indien sind angebrochen. Ich kann vorab sagen, dass ich super dankbar für alle Erfahrungen, Begegnungen und Hindernisse bin. Das Jahr war lehrreich mit vielen Höhen und Tiefen, die sich alle ausgezahlt haben.
Wenn mich jemand vor 5 Jahren gefragt hätte, ob ich nach meinem Abitur für ein Jahr nach Indien gehen würde, hätte ich der Person wahrscheinlich einen Vogel gezeigt. Ich selbst hatte (und hab bestimmt immer noch) Vorurteile gegenüber diesem Land. Mittlerweile kann ich teils verstehen woher diese stereotypischen Bilder und die Abneigung kommen. Nach meiner Zeit vor Ort kann ich nun sagen, dass Indien ein großartiges Land ist, mit all seinen Ecken und Kanten und zudem viel mehr zu bieten hat, als wir uns in Deutschland vorstellen können.
Die Armut in diesem Land ist zwar groß, trotz dessen sind die Menschen viel reicher als wir. Viele legen weniger Wert auf Geld, Pünktlichkeit und Regeln. Stattdessen sind ihnen Zufriedenheit, Gemeinschaft und das gute Miteinander wichtig. Sie streben nicht wie viele in Deutschland, nach der großen Karriere, sondern wollen Gesundheit und Freude für ihre Familien. Es wird viel in den Tag gelebt und was nicht heute passiert, funktioniert irgendwann anders. Auf diese Weise haben sie vielleicht weniger Vermögen, aber an Lebensfreude und Zufriedenheit fehlt es ihnen meistens nicht.
Auch im Alltäglichen haben die Menschen eine ganz andere Umgehensweise im Miteinander, als ich es aus Deutschland kannte. Es fängt schon bei den Rufnamen an. So nennen sie fremde ältere Frauen nicht Madame, sondern Amma (Mama) oder Aunty (Tante), Frauen im gleichen Alter oder ein bisschen älter werden Akka (Schwester) genannt. Bei Männern ist es ähnlich aber weniger üblich, sie beispielsweise Uncle (Onkel) zu nennen. Sie werden normalerweise mit Sir angesprochen. Jungs im gleichen Alter oder etwas älter nennt man Anna/Annaya (Bruder). Hier wird die familiäre Umgangsweise deutlich. Man lebt im Miteinander und nicht nebeneinander her.
Auch die Gastfreundschaft wird ganz anders gelebt. Letztens wurden meine Mitvolontärin und ich zu der Verantwortlichen aus unserer Community eingeladen. Obwohl sie zu viert in einem Raum leben und nicht viel besitzen, wird dafür gesorgt, dass wir Chai, Essen und Softgetränke bekommen. Die meisten freuen sich andere Menschen einzuladen und gemeinsam essen zu können. Hieraus ziehen sie keinen eigenen Nutzen, sondern wollen einfach nur eine nette Gemeinschaft.
Dieses Verhalten spiegelt häufig die Stärke ihres Glaubens wieder. Trotz ihrer Unterschiede in ihren Religionen steht Nächstenliebe und der gute Umgang mit den Mitmenschen im Vordergrund.
Indien wird oftmals so dargestellt als würde jede Person den Touristen das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Irgendwo kann ich dieses Vorurteil verstehen, denn das Obst auf den Märkten ist für uns teurer, die Sehenswürdigkeiten kosten mehr und die Bettler stehen länger neben uns, einfach aufgrund unserer helleren Hautfarbe. Wenn man darüber nachdenkt, eigentlich verständlich. Wir besitzen mehr als der Großteil der Menschen vor Ort und können somit auch mehr geben.
Des Weiteren hat sich mein Blick auf die angepriesene Gewalt verändert. Man verbindet das Land häufig mit Gewalt an Frauen, Vergewaltigungen, etc. Ja, mit Gewalt wird definitiv anders umgegangen. Nach meinen persönlichen Erfahrungen ist Gewalt gegenüber Fremden kein Problem, eher im Gegenteil! Die hier lebenden Menschen sind super hilfsbereit und offen. Sobald sie merken jemand braucht Hilfe, sind sie zur Stelle ohne dies zu hinterfragen. So gehen sie nach meinem Empfinden nicht nur mit uns Volontären um, sondern auch miteinander.
Nachts alleine durch die Straßen zu gehen, kann schon ein komisches Gefühl hervorrufen, das ist in einer deutschen Großstadt aber nicht anders.
Insgesamt hat sich mein Blick auf Indien komplett gewendet, denn das Land ist mehr als nur überfüllte Züge, Menschenmassen, Hinduismus, Gewalt und Armut. Schlussendlich ist es ein Privileg ein solches Jahr zu erleben und so nah mit den Menschen sein zu dürfen. Dafür bin ich mittlerweile einfach nur dankbar.
Indien ist von Grund auf eine ganz andere Kultur als die, die ich zuvor kannte. Wenn man das Land nicht selbst sehen konnte und in vollen Zügen genießen durfte, ist das Leben hier unvorstellbar. So hat es auch zu Anfang all meine Vorstellungen übertroffen. 2023 bin ich mit kaum Erwartungen an mich selber oder das Land aufgebrochen. Trotz dessen hatte ich die Hoffnung auf ein gutes und aufschlussreiches Jahr, welches mich eigen- und bodenständiger machen sollte.
Der Start meines Auslandsfreiwilligendienst war holprig und mein Kulturschock sehr groß. Anfangs war ich fest davon überzeugt, dass ich das Jahr in Indien nicht schaffen werde. Die Lautstärke, der Verkehr, die Hitze, die vielen Menschen, der Müll, … alles ganz anders als das was ich aus meinem Zuhause in Aerzen kannte. Hinzu kam, dass unsere Wohung (auch F.L.A.T. gennant) in der wir anfangs zu zehnt (7 Österreicher und 3 Deutsche) gewohnt haben, keine richtige Tür besitzt. Theoretisch kann jeder Mensch einfach hinein spazieren. Damit kombiniert die Vorurteile und Unsicherheiten, die einem über Indien erzählt werden.
In Deutschland wird häufig zu Vorsicht geraten. Es hieß vor meiner Ausreise immer nur: „Wow Indien, da muss man aber vorsichtig sein. Vor allem als Frau!“. In diesem Zusammenhang kann ich immer nur wieder betonen, dass Indien so viel mehr ist, als wir uns in unserer sicheren Heimat Deutschland vorstellen können.
Schlussendlich war es anfangs schwierig alle Unterschiede anzunehmen und meine eigenen Gewohnheiten abzulegen. Die Menschen sind wie sie sind, ich bin wie ich bin und das ist auch genau richtig so. Erst als ich das für mich erkannt habe, konnte ich Fuß fassen. Richtig angekommen bin ich erst nach 2-3 Monaten. Anfang Dezember hat es klick gemacht und es war gut hier zu sein.
Man kann viel mehr schaffen, als man sich selbst zutraut. Manchmal muss man die Zähne zusammenbeißen. Augen zu und durch, dann wird es schon.
Ich selber habe mich natürlich auch weiter entwickelt. Ich bin Älter, Selbstständiger und Selbstbewusster geworden. Ich weiß jetzt, dass nicht immer alles auf den ersten Blick so ist wie es scheint und das ich mir IMMER ein eigenes Bild machen muss. Vorurteile bringen niemanden weiter, sondern halten uns eher davon ab mutige und spannende Dinge zu unternehmen. Wir können uns nichts unter dem Leben in anderen Ländern vorstellen, ohne es nicht selbst erlebt zu haben. Offenheit, Freude und Dankbarkeit sollten einen begleiten, wenn man andere Kulturen miterleben darf.
Rückblickend kann ich sagen, dass ich mich trotz allen Schwierigkeiten immer wieder für einen Auslandsfreiwilligendienst mit Don Bosco Volunteers entscheiden würde.
Ich verlasse Indien mit vielen Erfahrungen, tollen Erlebnissen, neuen Freunden und einem zweiten Zuhause.
In Deutschland erwartet mich ein ganz anderes Leben, andere Menschen, ein anderer Umgang und eine andere Umgebung. Natürlich freue ich mich auf Freunde und Familie, gleichzeitig fällt es mir sehr schwer meine Mitvolontäre, die freundlichen Bewohner Vijayawadas, das gute (scharfe) Essen, die Projekte und alle Kinder hinter mir lassen zu müssen. Ich habe die Gastfreundschaft, Offenheit und familiäre Art der Menschen schätzen gelernt und möchte sie eigentlich nicht mehr missen.
Ich hoffe diese Umgangsweise und ihre Lebensart auf meinen Weg mitnehmen zu können.
Vielen Dank an Alle die mich auf meinem Weg begleitet und unterstützt haben.
Bis bald, ich freue mich auf euch.
Hanna 😚
Monika Klingberg
Liebe Hanna !
Wie die Zeit verflogen ist!
Es ist wunderbar, wie Du von Deiner – auch leider bald beendeten Zeit – im Rückblick schreibst.
Ja, ich glaube auch, dass Deine Erfahrungen und Erlebnisse Dich lange begleiten werden, Dich prägen und lange nachhallen.
Das freut mich sehr! Denn ich glaube auch, dass solche Erfahrungen einen besonderen bleibenden Eindruck hinterlassen. Im besten und positiven Sinne.
Ich war noch nicht so lange in Indien, aber ja nun zu meinem großen Glück zwei Mal.
Zwar als „traditionelle Touristin“ (was für mich rein gesundheitlich gesehen und von meinem Vermögen her für mich richtig war ;-)) so habe ich doch ähnliches erlebst, was Du beschreibst:
Große Gastfreundschaft und ehrliches Interesse. Natürlich mit unter höhere Preise und hartnäckige Bettler*Innen und Verkäufer*Innen – aber wen wundert es, wir sind „finanziell“ sehr reich.
Aber auch mit großzügigen Gaben von „armen“ Gastgebern an „reiche“ Europäer.
Und vieles vieles sonst.
Danke für Deinen Einsatz! Das ist (überlebens)wichtige Arbeit, die Ihr leistet!
Nimm ausgiebig Abschied, Reise gut und überwiegend störungsfrei zurück in Deine Herkunftsheimat. Lass Dir Zeit beim Ankommen.
Vor allem: bleibe gesund und überwiegend froh!
Alle Achtung vor Deinem Jahr und Gottes reichen Segen für Deine Wiederkehr!
Monika Klingberg
ufricke
Liebe Hanna, vielen lieben Dank für deinen Dienst! Es ist schön zu lesen, dass du genau das beschreibst was der Freiwilligendienst sein soll. Ein riesengroßes Geschenk an dich selbst, ein Schatz an Erfahrungen der dich dein ganzes Leben begleiten wird und ein Ansporn an alle denen du davon erzählst, sich auf andere Menschen und Lebensweisen einzulassen…