15. bis 26. Mai 2011

Das erste Mal in einem Entwicklungsland und dazu noch in Haiti. Gefasst auf das Schlimmste, war mein erster Eindruck nach über 20 Stunden Anreise überwältigend und unerwarteter weise positiv. Trotz  der offensichtlichen Armut, die uns schon in den ersten Minuten, die wir durch die Straßen von Port-au-Prince fahren, begegnet – in Form von Müllbergen, kaputten Straßen (wenn man die Straßen denn noch Straßen nennen kann) und Blechhütten –  hat man nicht das Gefühl, dass die Menschen in Haiti verzweifelt sind. Es herrscht ein reges Treiben: Männer die einen Zaun reparieren, Frauen, die Mangos verkaufen, Kinder, die  in sauberen Schuluniformen zur Schule eilen. Man hat den Eindruck, diese Menschen haben Hoffnung auf eine bessere Zukunft und nehmen ihr Leben in die Hand. Etwas befremdlich ist es dann, aus dem Auto heraus Fotos zu machen und die Situation zu filmen. Man möchte nicht den Eindruck erwecken, man ist ein neugieriger Tourist.

In den Slums von Port-au-Prince

Dieser sehr positive Eindruck des ersten Tages verändert sich, wenn wir die Slums von Port-au-Prince besuchen. Zwar herrscht auch hier ein reges Treiben, aber das Elend der Menschen und Kinder, dass wir hier sehen,  ist nur schwer zu ertragen. Flüsse voll Müll, bestialischer Gestank und mittendrin verwaiste Kinder.  Trotzdem bekommt man hier und da ein Lächeln, insbesondere von den Kindern, die sich über jedes Foto, das man von Ihnen macht freuen und die die Fotos mit Begeisterung auf dem Display meiner Kamera anschauen. Leicht vergisst man da, dass man sich in einer sehr unsicheren Umgebung befindet. Dies wird einem dann schlagartig wieder klar, wenn ein Truck der UN mit schwerbewaffneten Soldaten vorbeifährt und wenn der Sicherheitsmann immer wieder betont, man solle sich doch schnell wieder ins Auto setzen anstatt Fotos zu machen. Ich erkläre ihm den Grund, warum wir Fotos benötigen, habe aber nicht den Eindruck dass er uns nun für weniger verrückt hält. Nur gut, dass uns unser Begleiter, Salesianerpater Zucchi , erst später erzählt, dass es bereits einen Mordanschlag auf ihn gegeben hat. Daher hat er vor unserem Besuch in den Slums Freunde auf Motorrädern organisiert, die sich wohl immer in unserer Nähe befanden, um im Notfall schnell Hilfe holen zu können.

P. Zucchi ist ein sehr engagierter und bewundernswerter Salesianerparter, der sich neben seinem Engagement im Berufsbildungszentrum ENAM, auch um die Kleinen Schulen in den Slums kümmert – sie finanziell unterstützt und mit Essen versorgt. Manche Slumbewohner sehen, dass P. Zucchi diese Dinge macht und gehen davon aus, dass er viel Geld hat und es Ihnen schenken könnte. Sie verstehen nicht, dass das Geld nicht ihm persönlich gehört, sondern es Spendengelder sind, die den ärmsten Kindern und Jugendlichen Haitis eine Schul- und Berufsausbildung ermöglichen sollen. Aus Unverständnis und Ärger,  dass der vermeintlich „reiche Mann“ Ihnen nichts abgeben will, versuchen Sie ihn umzubringen.

Diese Härte und Brutalität ist die andere Seite von Haiti und man findet sie wohl in allen Ländern und Regionen, die unter einer solchen Armut leiden müssen. Dies ist die Seite, die wir auf unserer Projektreise zum Glück nicht kennengelernt haben. Allein die Tatsache, dass wir immer mit Fahrer unterwegs waren und uns nicht frei bewegen durften, machte uns jedoch deutlich, dass es für uns nicht sicher ist durch Haiti zu spazieren. Auf der anderen Seite begegnen wir in den Einrichtungen der Salesianer, die durch Umgebungsmauern geschützt sind, aber auch in den kurzen Momenten, wo wir uns außerhalb der Mauern befinden, sehr offenen, herzlichen Menschen. Wenn man Sie fragt, wie es Ihnen geht und es schafft einen Satz auf creolisch zu sagen, bekommt man schnell ein breites Grinsen. „Mwen renmen Haiti“  – „Ich liebe Haiti“.

Unterwegs in Haiti

Auf unserer Projektreise besuchen wir verschiedene Einrichtungen der Salesianer und bleiben nicht allein in Port-au-Prince. Als besonders mutig empfinde ich unseren Inlandsflug nach Cap Haïtien, der 800.000 Einwohner Stadt an der haitianischen Nordküste. Mit einer 20 Mann Maschine fliegen wir innerhalb von 20 Minuten von der Hauptstadt nach Cap Haïtien. Mit dem Auto und bei der „Straßen“-situation in Haiti hätten wir für 250 km mindestens 8 Stunden benötigt. Von Straßen kann eigentlich nicht die Rede sein, da diese Straßen hauptsächlich aus Schlaglöchern bestehen. Erschwerend kommt das allgemeine Verkehrschaos hinzu. Ob es keine Verkehrsregeln in Haiti gibt oder ob es welche gibt, sich nur keiner an sie hält, das weiß man nicht so genau. Was man sagen kann, es herrscht Rechtsverkehr. Ansonsten gilt das Hup-Gesetz. Mit der Hupe macht man auf sich aufmerksam: „Hallo hier komme ich“ oder aber auch „hallo hier bin ich, fahr mich nicht um“. Ob man überholen oder nicht angefahren werden will, hupen ist das richtige Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen.

Der Hinflug ist sehr ruhig und bei schönen Wetter, was der Tatsache geschuldet ist, dass wir morgens fliegen und es morgens auch in der Regenzeit in Haiti immer schönes Wetter ist. Dies wird sich bei unserem Rückflug noch ändern, dazu aber später mehr.

Straßenkinder in Cap Haïtien

In Cap Haïtien holt uns P. Stra vom Flughafen ab. P. Stra ist gebürtiger Italiener, der jedoch seit 35 Jahren in Haiti wohnt und zuvor 20 Jahre in Vietnam im Einsatz war. Ihm merkt man besonders an, dass er bei der Arbeit mit den Kindern aufgeht. P. Stra ist aber auch jemand, der es mal eben mit einem UN-Panzer aufnimmt. In einer gewagten Überholaktion schneidet er  mit seinem alten, kleinen Auto absichtlich einen UN-Panzer und lacht. Ich schaue zurück und sehe lächelnde UN-Soldaten. Scheinbar haben Sie den Humor von P. Stra verstanden, ob Sie ihn schon kennen? In Cap Haïtien leitet P. Stra das Straßenkinderzentrum der Salesianer. Zuvor war er in Port-au-Prince tätig, wechselte jedoch nach dem Erdbeben im Januar  nach Cap Haïtien, um sich von seinen Verletzungen zu erholen und etwas mehr Ruhe zu haben. Von Ruhe kann in der quirligen Stadt Cap Haïtien, jedoch eigentlich nicht die Rede sein.

Nach unserer Ankunft nimmt uns P. Stra mit nach Lakay, der dritten Station des Straßenkinderprogrammes der Salesianer, dessen Erfinder P. Stra selbst war. Das Straßenkinderprogramm setzt sich zusammen aus 3 Stationen. Auf der Straße (La rue) nehmen pädagogische Mitarbeiter Kontakt zu Straßenkindern auf, erste Anlaufstelle und 2. Station des Straßenkinderprogrammes ist der Hof (Lakou), wo die Kinder spielen, schlafen und lernen. Die 3. Station ist das Zuhause (Lakay), wo die Kinder und Jugendlichen eine Ausbildung absolvieren und übernachten können.  In Lakay erwartet uns ein großes Schauspiel! Auf ca. 20m2 Fläche tummeln sich bis zu 80 Personen, alles Familien der Straßenkinder, um mit Pater Stra die Messe und anschließend den Muttertag zu feiern. 4 Stunden lang tragen Kinder Gedichte vor, singen, spielen Theater und führen Kunststücke vor. Es ist für mich einer der bewegendsten Momente in Haiti, da wir nun mittendrin sind – in der unglaublich tapferen und bewundernswerten Art und Weise wie Menschen aus ärmsten Verhältnissen eine Gemeinschaft teilen und Spaß miteinander haben, etwas das man auf manchen Pfarrfesten in Deutschland vergeblich sucht.

Beeindruckt von den Beiträgen der Kinder und der herzlichen Art, wie wir von allen aufgenommen werden, fahren wir nach dem Mittagessen nach Lakou. Hier erzählt uns P. Stra einige Einzelschicksale der Jungs die wir dort treffen. Die meisten Straßenkinder haben zwar Eltern, jedoch führt die materielle Armut und die Perspektivlosigkeit der Familien oft zu vermehrten Alkohol und Drogenkonsum der Eltern, innerfamiliärer Gewalt und letztendlich zum Auseinanderbrechen der Familien. „Viele Kinder haben 2, 3 Väter, aber halt keinen richtigen.“ P. Stra kümmert sich liebevoll um diese Kinder und weiß den richtigen Ton zu treffen. Wir sind sehr beeindruckt davon, wie die Kinder ihn respektieren und auf das hören, was er sagt. „Ihr wisst, dass Lesen wichtig ist?“ Im Chor rufen Sie „Oui!“

Unser Rückflug wird leider nicht so ruhig wie der Hinflug. Durch eine dicke Wolkendecke schaukeln wir nachmittags Richtung Port-au-Prince. Zwischendurch resümiere ich über mein Leben und denke mir, dass es ja eigentlich recht erfüllt war. Nach gefühlten 30 Minuten Landeanflug, verlassen wir die Maschine und mich überkommt der Wunsch, den Boden zu küssen – halte mich aber dann doch dezent zurück.

Schule und Ausbildung in Gressier

Weiteres Ziel unserer Reise – zum Glück gut mit dem Auto zu erreichen – ist Gressier. Gressier liegt ca. 25 km westlich von Port-au-Prince, direkt am Meer und erscheint fast wie ein romantisch, verschlafenes Küstenörtchen, übersieht man den Müll und brennende Dinge am Straßenrand. Die Salesianer besitzen hier ein riesiges Gelände auf dem vormals eine Grund- und Sekundarschule stand, die jedoch durch das Erdbeben komplett zerstört wurde.

Zusammen mit Ersatzteilen für einen Traktor, die wir auf dem ENAM Gelände ausgepackt und nun eigenhändig nach Gressier transportieren dürfen, fahren wir nach Gressier, um vor allem den Baufortschritt zu sehen und über weitere Projekte mit P. Nau, den Leiter der Einrichtung, zu sprechen. Auch P. Nau merkt man an, dass er sich voll und ganz für seine Schüler einsetzt und oft müssen wir ihn auf dem riesigen Gelände suchen und finden ihn dann im Gespräch und lachend mit Kindern. Trotz Großbaustelle können die Kinder in provisorischen Zelten am Unterricht teilnehmen und seit Anfang des Jahres können Jugendliche Ausbildungskurse in Elektrik und Schreinerei besuchen.  P. Nau erzählt uns von seinen zukünftigen Plänen für Gressier und trotz der momentanen bescheidenen personellen Besetzung (es sind gerade mal er und ein weiterer Salesianer vor Ort),  schaut er optimistisch in die Zukunft. Neben der Grund- und Sekundarschule entsteht zurzeit ein College (Schule für die Klassen 11-13), ein Internat und es sollen noch weitere Ausbildungsmöglichkeiten angeboten werden können.

Ein sehr einprägendes Erlebnis ist die Begegnung mit 2 Jungs, die uns die Umgebung von Gressier zeigen. Hier trauen wir uns zu uns auch außerhalb der Mauern zu bewegen, immerhin haben wir einen geschätzt 80jährigen Guide an unserer Seite, der eine Machete mit sich führt. Nun gut. Zunächst wissen wir noch nicht so recht warum uns die Jungs eigentlich begleiten, bis wir feststellen, dass sich mit uns zu unterhalten, eine willkommene Abwechslung für sie ist. Zudem sagen sie uns, dass sie die Chance nutzen wollen Englisch mit uns zu sprechen. Es rührt mich von ihnen zu hören, was sie in Zukunft machen möchten. Arzt, um Kranken zu helfen. Handwerker, um Häuser zu bauen. Das Erdbeben hinterlässt seine Spuren.

Was bleibt?

Das Ende unseres Aufenthaltes nähert sich und nachdem ich dachte schon viel erlebt und in Port-au-Prince die Zerstörung des Erdbebens gesehen zu haben, erzählt man mir, dass ich ja bisher immer nur um das Zentrum herum gefahren sei. Kurzerhand nutze ich die letzten Stunden und fahre mit einem Salesianer in das Zentrum von Port-au-Prince. Das Bild, das sich einem hier darstellt ist unglaublich. Wie in einem Hollywood Armageddon Film, wie durch eine Geisterstadt fahren wir durch das vom Erdbeben zerstörte Zentrum der Hauptstadt. Trotz aller Berichte und Fotos, die ich zuvor gesehen hatte, war ich darauf nicht vorbereitet. Und noch mehr wurde mir klar, wie viel Respekt man vor dem Eifer der Menschen haben muss, die angesichts solcher Zerstörung weiter machen und nicht aufgeben.

Was kann man also nach 10 Tagen in Haiti sagen? Vieles, was ich vorher nur schwer verstehen konnte, stellt sich mir nun klarer dar. Insbesondere die Langsamkeit über die sich alle Seiten beschweren. Hauptursache dieser Langsamkeit ist wohl einmal die Infrastruktur Haitis. Man weiß eigentlich nie ob man mit dem Auto für 3 km 2 Stunden oder 15 Minuten braucht. Bei Regenfällen weiß man nicht, ob man überhaupt noch nach Hause kommt. Die Zustände der Straßen sind so unglaublich, dass ich mich wohl nie mehr über die Straßen in Deutschland beschweren werde.  Dazu kommen regelmäßige Stromausfälle. Man hat gerade eine Email fertiggeschrieben und dann fällt der Strom aus. Um überhaupt unter diesen Umstände zu arbeiten (und wenn man überhaupt eine Stromquelle oder ein Auto hat sind das ja gute Umstände in Haiti), muss man sich wohl eine gewissen Entspanntheit zulegen, die auch leicht als eine Lässigkeit oder sogar Gleichgültigkeit missverstanden werden kann wirken kann. Natürlich kann auch ich nach 10 Tagen nicht sagen, ob Gleichgültigkeit tatsächlich ein vorherrschendes Phänomen in Haiti ist. Sicherlich ist es auch ein Phänomen. Aber Gleichgültigkeit entsteht ja erst, wenn man merkt, dass man an seiner Situation nichts ändern kann und hier war mein Eindruck doch ein anderer. Ich habe doch die Hoffnung, dass vor allem die Kinder und Jugendlichen es schaffen nicht in eine Lethargie zu verfallen und sie die Chance auf eine bessere Zukunft nutzen. Hier hat mich die Arbeit der Salesianer sehr positiv gestimmt und tief beeindruckt. Auch die Wahl des neuen Präsidenten Martelly hat bei vielen Haitianern Hoffnungen geweckt, die er hoffentlich trotz noch ungeklärter politischer Lage zumindest teilweise erfüllen kann. Es geht ein Ruck durch das Land – das ist mein persönlicher Eindruck, den ich von Haiti habe.
Mwen renmen Haiti!