Ready for Togo

über meinen Auslandsfreiwilligendienst in Kara

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Wenn Wunden nicht verheilen

Der Ball rollt. Die ersten Minuten spielen sich beide Teams ein, die Hausherren bleiben defensiv, warten auf eine Konterchance. Auf der anderen Seite probieren sich die Mädchen einzufinden, gehen die Sache aber eher ruhig an. Viele Fehler und Ideenlosigkeit führen zu Ballverlusten, von denen die Jungs profitieren. Und so schnell geht es: Julienne verliert den Ball an Felix, der mit dem Ball am Fuß an Pelouwem und Ida vorbei läuft und an Pouwereou abgibt, der ohne Probleme den Ball über die Linie schiebt.

Die Mädchen wechseln einmal durch: Ornela geht ins Tor, Meheza pausiert, Sophie kommt rein. In manchen Situationen bringen auch die Mädchen den Ball vors Tor, der gegnerische Torwart Lucien kann aber nicht überwunden werden, die Schüsse sind zu ungenau oder zu schwach. Pelouwem passt den Ball an Sophie, die an Moise und Pouwereou vorbei läuft, kurz vorm Tor jedoch durch das Bein von Flaurent gestoppt wird. Kleine Spielunterbrechung nach diesem Foul; mit ein bisschen Blut am Knie kann die Partie weitergehen.

Der folgende Freistoß wird von Felix mit dem Kopf geblockt und in einen Gegenangriff verwandelt. Wieder steht Ornela machtlos im Tor, der Ball landet im oberen Eck, 2:0. Die erste Halbzeit ist rum, die zweite verläuft ähnlich. Fehler über Fehler, die Mädchen sind wohl nicht in Form, die Jungs nutzen ihre Chancen. Endstand 4:0, es wird sich die Hand gegeben und ab in die Kabine.

Es war doch nur ein wenig Blut an meinem Knie, dachte ich. Seit vier Wochen laufe ich mit einer Wunde an meinem Knie rum, die nicht verheilen möchte. „Das ist Afrika“, sagen die Leute, wenn sie meine Wunde sehen. „Deine Haut ist zu schwach für hier“.


Wenn Wunden nicht verheilen, dann spreche ich aber nicht von meiner Wunde am Knie. Ich spreche von Wunden, die tiefer sitzen, als auf der Haut. Wunden, die unter der Haut sind. Wunden, die nicht verheilen können, auch wenn sie es wollen würden. Es sind die Wunden, die Kinder in sich tragen, die in ihrer Kindheit niemand verarztet hat oder bei denen es schon zu spät war, um sie zu verarzten.

Gestern kam ein Mädchen nach Hause und sah sehr traurig aus. Ein paar Minuten später sehe ich sie auf dem Bett sitzen, weinend. Ich lege meinen Arm um sie und versuche mit ihr zu sprechen und sie ein bisschen zu beruhigen. Ich bekomme keine Antwort, sehe nur die Tränen, die über die Wange laufen. Nach einiger Zeit merke ich, dass es nichts zu sagen gibt. Ich hole den „Sei-nicht-traurig-Pinguin“ und lege ihn in die Hand des Mädchens. Ich drücke einmal die Hand ganz fest und gehe aus dem Zimmer. Eine Weile später sehe ich das Mädchen beim Lernen, beim Essen, beim Gebet. Die Traurigkeit und die Tränen sind verflogen, es scheint als sei alles gut. Meistens erfahre ich nie, was der Grund des Weinens war.
Manchmal spürt man plötzlich seine Wunden, die einem vor Jahren zugefügt wurden. Auf einmal fängt das kleine, junge Herz an zu weinen, kann nicht beschreiben warum, aber irgendetwas tut weh.

Jedes Mädchen bei mir im Foyer kommt aus einer schwierigen familiären Situation. Kein Mädchen ist freiwillig hier. Es gibt gravierendere Fälle als andere. Es gibt Mädchen, bei denen eine Reintegration in die Familie möglich ist und auch angestrebt wird. Es gibt Mädchen, die seit einer sehr langen Zeit im Foyer wohnen. Es gibt Mädchen, die sogar in den großen Ferien im Foyer bleiben. Das ist immer ein sehr schlechtes Zeichen. Ein Zeichen davon, dass es niemanden gibt für das Mädchen. Die Eltern sind nicht auffindbar, vielleicht schon verstorben. Onkel, Tante oder Cousins sind nicht bekannt oder haben kein Interesse daran, sich um das Mädchen zu kümmern. Geschwister sind zu jung oder selbst in einer schwierigen Lebenslage.

Auch wenn man versucht den Mädchen ein zufriedenes Leben zu schenken, gibt es Momente, in denen ihre Traurigkeit zum Vorschein kommt. In einigen Fällen wurde das Kind in jungen Jahren vernachlässigt, hat keine Aufmerksamkeit bekommen, geschweige denn Liebe. In vielen Fällen mussten die Kinder für die eigene Familie arbeiten, oder wurden wegen Geldmangel an Onkel oder Tante abgegeben. Wenn mir die Mädchen und Jungs erzählen, was sie erleben mussten und wie sie behandelt wurden, kann ich sehr gut verstehen, warum sie auf die Straße fliehen. Gewalt und Misshandlung spielen eine große Rolle; Mädchen werden für die Prostitution verkauft oder frühverheiratet.

Ich möchte zwei kleine Beispiele geben, in dem ich zwei meiner Mädchen zitiere:

Mira*: „Ich habe mit meinem Vater und meinen Geschwistern in unserem Dorf gewohnt. Mein Vater war sehr streng und nicht gut zu uns. Da wir Geldprobleme hatten, sollte ich mit acht Jahren verheiratet werden. Ich wehrte mich und mein Vater schlug mich. Eines Abends fand mich ein Erzieher von Don Bosco im Straßengraben auf der Hauptstraße und nahm mich mit nach Kara ins Foyer Jean Paul II.“

Adele*: „Bis ich neun Jahre alt war, arbeitete ich in einem reicheren Haushalt: ich kochte und putzte und machte andere Dinge für die Familie, jeden Tag. Meine Eltern habe ich nie kennengelernt, mein Onkel hat von meiner Arbeit profitiert. Eines Tages entdeckte mich eine Salesianer Schwester bei der Arbeit und holte mich dort raus. Sie brachte mich ins Foyer Jean Paul II.“

Wenn Jeremias und ich uns austauschen, stellen wir immer wieder fest, dass so viele von unseren Kindern Phasen haben, in denen sie an die Vergangenheit denken. Plötzlich fängt eine Wunde an noch einmal weh zu tun, Erinnerungen kommen hoch. Bei jeder und jedem einzelnen äußert sich diese Phase der Traurigkeit, des Schmerzes oder des Vermissens anders: der eine weint, die andere spricht nicht mehr. Ein weiterer fängt an Unsinn zu machen, die nächste wird krank.

So schnell wie diese Phase kommt, geht sie auch wieder. Die Mädchen und Jungs sind gut aufgehoben, gehen zur Schule und haben ihre Freunde. Da sie durch Don Bosco die Möglichkeit haben, ihr Abitur zu machen oder eine gute Ausbildung abzuschließen, ist es für jede und jeden BewohnerIn der Foyers noch lange nicht zu spät, um ihre/seine Zukunft selbst zu gestalten.

In diesem Jahr sind wir da, um euch dabei ein ganz kleines Stück zu unterstützen.

Ich entschuldige mich für den mal wieder eher erschütternden Beitrag, aber dieses Thema ist nun mal der Hintergrund meiner Arbeit.
Im warmen Januar geht es mir sehr gut: die Schule hat wieder begonnen und unter der Woche sind alle fleißig am Lernen für die wöchentlichen Tests. Seit dem letzten Wochenende läuft wieder unser Sportprojekt und in jeder freien Minute wird bei mir im Foyer getanzt.

In Gedanken immer bei euch,
Sophie

*Namen verändert

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