5.56 Uhr: Ein Wecker klingelt. Genervt durch dieses unerfreuliche Ereignis mache ich die Augen auf. Erfreut stelle ich jedoch fest, dass es nicht mein Wecker ist und Jacob heute mit der Frühschicht dran ist. Das heißt ich kann meine Augen für die nächsten zwei Stunden wieder zumachen. Frühschicht, das bedeutet für uns von sechs bis viertel nach sieben die Studytime zu betreuen, was wiederum bedeutet den Boys beim Lernen zu helfen, für Ruhe in der Studyhall zu sorgen und die auf den Tischen liegenden Köpfe am Einschlafen zu hindern. Meistens sitzen wir allerdings selbst nur rum, lernen ein bisschen Tamil oder unterhalten uns leise mit den Jungs.

8.19 Uhr: Unser Frühstück kommt pünktlich 19 Minuten zu spät in unseren VIP-Essensraum ans Buffet. Es gibt Reis. Die Jungs essen in der Studyhall, die gleichzeitig als Speisesaal, Spiel-, Chill- und Veranstaltungsraum fungiert. Wir schaufeln uns eilig unser Essen rein, denn um halb neun müssen wir los und die Kinder zur Schule bringen.

8.38 Uhr: Hinter mir beginnt jemand wild zu hupen. Soweit nichts Ungewöhnliches, ich gehe unbeirrt weiter. Doch dann erkenne ich Schah, einen befreundeten Rikschahfahrer, der den Arm aus seiner kleinen gelben Ape streckt. Ich klatsche grinsend zum Highfive ein und er fährt weiter. Woher ich den kenne? Ich hab keinen blassen Schimmer. Aber seine neue Handynummer.

9.03 Uhr: Wir haben uns trotz Gestank, Müllbergen und verschiedensten Tieren auf der Straße mit der unglaublich langsamen Schrittgeschwindigkeit der Jungs durch den Coimbatorer Verkehr gekämpft und liefern die Jungs minimal verspätet an der Schule ab.

9.21 Uhr: Nachdem wir zurück im Projekt sind, mache ich die Tür zum Gemeinschaftskühlschrank auf. Schockiert muss ich feststellen, dass der Füllstand unserer Fanta schon wieder (trotz „please don´t take me– Jacobenedikt“-Schild) rapide gesunken ist.

9.32 Uhr: Ich stelle mich in den Kreis zum „Staff-prayer“ (allmorgentliches Gebet und Besprechung des Personals) und tue so als würde ich verstehen worum es geht.

11.11 Uhr: Wir warten auf einen Salesianer Brother, der vor zwei Wochen versprochen hat uns täglich um elf Tamil zu unterrichten, wissen aber insgeheim, dass er wieder nicht kommen wird. Leider hat das ganze fast noch nie geklappt.

12.12 Uhr: „This boy cheating!“ schreit einer der CWC-Kids. Das und „This boy mental!“ beschreibt das gesamte Englischvokabular dieser Jungs ganz gut. Hintergrundinformation: Wir leben und arbeiten die meiste Zeit mit den circa 30 Jungs von 12 bis 19 Jahren im Haupthaus und den fünfzehn 8-12-jährigen im Nebenhaus zusammen. Diese Jungs leben hier dauerhaft, oft schon seit vielen Jahren. Zusätzlich gibt es auf unserem Gelände noch die staatliche Behörde CWC (ChildWelfareCommunity). Dort wohnen meistens zwischen 5 und 20 Jungs, die „frisch“ von der Straße oder aus unzumutbaren Verhältnissen kommen und von dort aus weiter an langfristige Unterkünfte vermittelt werden. Manche bleiben nur ein paar Tage dort, andere ein paar Monate. Sie sind dort eingesperrt, gehen nicht in die Schule und haben nicht allzu viel zu tun. Daher verbringen wir die Zeit in der „unsere“ Jungs in der Schule sind oft dort und spielen sehr viel Uno, Lügen, Bold, Frisbee, Carromboard oder natürlich JungleSpeed (auch dort ein Dauerbrenner). Während unsere Jungs sich recht „normal“ wie Jugendliche überall auf der Welt verhalten, merkt man den CWCs ihre Vergangenheit schon eher an. Sie werden schneller aggressiv, schmummeln ständig und haben wohl eher wenig Bildung und Erziehung genossen. Nichtsdestotrotz sind es oft sehr fröhliche Kinder, die viel Lachen und sich sehr freuen, wenn wir sie besuchen kommen.

13.07 Uhr: Mittagessen! Es gibt Reis. Mute, der Koch, erzählt mir, dass er die Chilis meistens nur halbiert, damit man sie später gut finden und rausfischen kann.

15.53 Uhr: Wir machen uns auf zur Schule um die Kinder abzuholen. Die Älteren kommen mit dem Verkehr auf dem Schulweg super klar (sicherlich besser als wir), die Grundschüler allerdings weniger. Deshalb werden sie in der Früh hingefahren, nachmittags holen wir sie zu Fuß ab. Die kleinen Chaoskinder an tausenden Rollern und Motorrädern ohne Gehsteig sicher vorbei zu schleusen klingt zwar stressig, macht aber irgendwie auch mega Spaß. Natürlich wird auf dem Weg auch jede Menge suuper interessanter Müll begutachtet und mitgenommen.

Händchen halten ist super wichtig für die kleinen Jungs

16.49 Uhr: „Servus, Oida!“, ruft Santhano mir schon von weitem zu als ich zurückkomme. Nach ein paar Wochen Training beherrscht er die bayrische Aussprache nun perfekt. Allgemein hat sich „Servus“ als allgemeines Begrüßungs- und Verabschiedungswort unter den älteren Jungs mittlerweile fest etabliert.

17.04 Uhr: Von fünf bis sechs ist Gametime. Wir teilen uns in zwei Gruppen, die jeweils eine halbe Stunde Basketball bzw. Volleyball spielen. Nun stehen Jacob und ich jeden Tag vor der Wahl, ob wir uns lieber von den 10-12-Klässlern abziehen lassen oder auf dem Spielfeld der Jüngeren zuschauen wie der Ball runterfällt. Eine Zwischenlösung gibt es nicht und da die Älteren wirklich weit über meinem Niveau spielen entscheide ich mich meistens für die zweite Möglichkeit.

18.09 Uhr: Jacob und ich stehen auf der Dachterrasse und lauschen den Muezzinen der umliegenden Moscheen, wie sie ihr Abendgebet zur Melodie von „Lady in Black“ säuseln (oder zumindest bilden wir uns das ein) und betrachten den, manchmal sehr schönen, Sonnenuntergang.

18.23 Uhr: Es gibt Tee und einen Snack für die Jungs (heute Puffreis), vor der nächsten Studytime von halb sieben bis acht.

19.27 Uhr: Ich habe zwei Grundschüler auf dem Schoß und lese ihnen einen englischen Text vor. Sie sprechen mir jedes Wort nach, verstehen aber nichts. Danach lesen sie mir einen Text auf Tamil vor. Ich spreche jedes Wort nach, verstehe aber nichts.

20.06 Uhr: Heute gibt es zum Abendessen Reis.

20.09 Uhr: Ich beiße auf eine halbe Chili. Zum Ausspucken ist es zu spät, jetzt gibt es nur noch eins: so schnell wie möglich schlucken.

20.11 Uhr: Mein Mund steht in Flammen, meine Augen versuchen eifrig Löschwasser hinunterzuschicken, ich habe innerlich bereits mit dem Leben abgeschlossen, alle Inder inder Umgebung lachen.

20.44 Uhr: „Schatzi schenk mir ein Foto, schenk mir ein Foto von dir….“ , Canen kann erstaunlich gut auf deutsch singen. Meine Schuld ist das in dem Fall aber nicht, das haben Vorvoluntäre verbrochen. Von halb neun bis neun ist Talkingtime und wir haben endlich Zeit genau solchen Blödsinn (und noch vielen mehr) mit den Jungs zu machen. Wir schleudern die Kleinen wie ein Helikopter um uns herum, spielen Klatschspiele, unterhalten uns und verteilen unser letztes bisschen „Germany-Chocolate“ (dabei bezeichnen die (K)inder aber nicht Schokolade, sondern jegliche Art von Süßem).

21.47 ein halb Uhr: Von neun bis halb elf habe ich eigentlich Studytime Schicht, Jacob freut sich über einen freien Abend. Da aber in wenigen Tagen die Geburtstagszeremonie für unseren Father Rector (quasi Oberboss der Einrichtung) ist, proben die Jungs fleißig ihre Tänze, Gesänge und sonstigen Shows. Jacob und ich haben uns da irgendwie auch mit rein verwickeln lassen, dazu aber vielleicht im nächsten Blogeintrag mehr.

Anmerkungen des Autors: Dieser Tag hat genau so zwar nie stattgefunden, alle beschriebenen Ereignisse aber schon. Diese Zusammenstellung beschreibt ganz gut einen typischen Tag unter der Woche. Am Wochenende weicht alles ein bisschen ab (das Wochenendsystem haben wir noch nicht durchschaut) oder wir machen Ausflüge. Einen freien Tag hatten wir bis jetzt noch nicht, aber das ist oke für mich, weil ich sowieso gerne viel Beschäftigung habe und meine Zeit hier selten als Arbeit sehe.