Liebe Leser,
Ich möchte euch heute die Geschichte von Estelle erzählen. Vor eineinhalb Jahren lebte das Mädchen als Älteste von drei Kindern bei ihren Eltern in einem kleinen Ort in der Nähe Cotonous und war dabei, im Alter von 15 Jahren eine Schneiderlehre zu machen. Ihre Ausbilderin bat sie eines Tages, fertig geschneiderte Kleidungsstücke zusammen mit einem anderen Lehrling am Ortsrand auszutragen. Um zu einem bestimmten Haus zu kommen, mussten sich die zwei jungen Schneiderinnen in einem Motorboot ein gutes Stück über die große Lagune, an der der Ort liegt, fahren lassen. Das Boot wurde von drei jungen Männern gesteuert, die sich an Estelle heranmachen wollten. Das Mädchen wurde überwältigt, weggebracht, eingesperrt, geschlagen und vergewaltigt. Den jungen Mann, der ihr das antat, hatte Estelle schon manchmal zusammen mit ihrem Onkel gesehen. Dieser hatte schon oft darüber Witze gemacht, dass Estelle jenen Bekannten heiraten werde. Durch die Vergewaltigung hoffte der Mann auf eine Schwangerschaft und somit auf eine Heirat mit dem Mädchen. Nachdem sie drei Tage lang missbraucht wurde, konnte Estelle aus dem Haus des Mannes fliehen. Es war schon spät am Abend, und eine Frau wurde auf sie aufmerksam und nahm sie mit zu sich nach Hause. Estelle konnte sich ihr anvertrauen und wurde dadurch letztendlich in eine Schutz- und Auffangstation für Kinder und Jugendliche gebracht, wo sie sowohl medizinische als auch psychologische Erstbetreuung bekam.
Von diesem Ort aus wurden Estelles Eltern informiert. Mit ihnen zusammen wurde beschlossen, das Mädchen aus dem familiären Umfeld herauszuholen und im Heim der Don Bosco Schwestern unterzubringen, um ihr dort eine bessere medizinische, psychologische und soziale Betreuung geben zu können. Estelles Vergewaltiger wurde für fünf Jahre eingesperrt, und ihr Onkel, der das Ganze ja mehr oder weniger in die Wege geleitet hatte, für zwei Jahre. Estelle fühlt sich im Heim mit den anderen Mädchen sehr wohl und trägt trotz ihrer Geschichte wieder oft ein Lächeln auf den Lippen. Dadurch, dass sie bei den Don Bosco Schwestern aufgenommen wurde, hat sie die Möglichkeit, ihre Ausbildung im geschützten Umfeld zu beenden.
Das Foyer „Laura Vicuna“, das Heim der Schwestern, empfängt Mädchen, die misshandelt, verkauft, vernachlässigt oder Opfer von psychischer, sexueller oder physischer Gewalt wurden. Es befindet sich auf dem Schwesterngelände und somit quasi direkt vor meiner Haustür. Das Foyer ist eines der ältesten Projekte der Don Bosco Schwestern in Cotonou und besteht seit 2001. Unterteilt wird das Heim in das „Kleine Foyer“ und das „Große Foyer“.
Das Foyer
Schlafsaal für die Mädels aus dem „Große Foyer“
In diesem Hof spielt sich das Foyerleben ab
Wenn ein Kind von zuhause wegläuft oder verjagt wird, landet es erstmal in der Schutz- und Auffangstation für Minderjährige in Cotonou (OCPM). Dort werden erste Maßnahmen ergriffen und die Situation analysiert. Sobald die Reintegration in die Familie etwas komplizierter ist, werden die Kinder in Übergangsheime weitergeleitet, darunter auch das Foyer der Schwestern, denn das OCPM ist nur für einen kurzen Aufenthalt der Kinder gedacht. So kommen mehrmals im Monat Mädels aus dem OCPM ins Heim der Schwestern. Diese Kinder bilden das „Kleine Foyer“. Es wird versucht, die Mädchen innerhalb von drei Monaten in ihre Familie zurück zu integrieren. Dafür ist ein Team aus Sozialarbeitern zuständig, das die Situation analysiert, die Familie sucht und durch Treffen mit dieser versucht, das Kind zurück nach Hause zu bringen. Die Mädels bekommen für diese Zeit im Foyer ein Dach über dem Kopf, helfen im großen Garten der Schwestern mit, wo Gemüse und Obstbäume wachsen und wo es eine kleine Fisch- und Geflügelzucht gibt, und bekommen Alphabetisierungskurse.
2017 kamen 196 Mädchen ins „Kleine Foyer“, davon wurden 185 erfolgreich zurück in die Familie integriert. Für 115 von ihnen war es durch finanzielle Unterstützung möglich, wieder zurück in der Familie in die Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen.
Manchmal dauert die Reintegration aber länger, sogar mehrere Jahre, wenn die Familie des Kindes nicht zu finden ist, oder es ist von Anfang an klar, dass ein Mädchen nicht in das familiäre Umfeld zurückkehren kann. Diese Mädels kommen dann ins „Große Foyer“. Sie bekommen im Heim ein richtiges neues Zuhause und werden in die Schule geschickt oder dürfen eine Ausbildung machen, so wie Estelle. Außerdem bekommen sie im Foyer eine gute medizinische und psychologische Betreuung. Mehrere Tatas (Erzieherinnen) sind als Ansprechpersonen rund um die Uhr im Heim und kümmern sich um die Mädchen. Obwohl die Situationen oft schwierig sind, wird versucht, dass der Kontakt der Mädchen aus dem „Großen Foyer“ mit ihren Familien bestehen bleibt. So verbringen diese Mädels zum Beispiel ein paar Tage ihrer Ferien in ihrer Familie. Außerdem finden auch manchmal Versammlungen mit den Eltern auf dem Schwesterngelände statt. Bei dieser Gelegenheit werden auch Sensibilisierungen durchgeführt. Die Mädchen aus dem „Großen Foyer“ bleiben im Heim, bis sie ihren Abschluss in der Schule oder das Diplom ihrer Ausbildung haben. In manchen Fällen ist danach sogar die Rückkehr in das familiäre Umfeld möglich, weshalb auch so viel Wert darauf gelegt wird, Kontakt mit der Familie zu halten. Oft werden die Mädels aber nach ihrem Foyeraufenthalt auch in Gastfamilien untergebracht oder sie sind selbst schon in der Lage, sich ein Zimmer in Cotonou zu mieten.
Auch wir Volontäre arbeiten einen Nachmittag in der Woche im Heim, helfen dort bei der Hausaufgabenbetreuung mit und bieten Aktivitäten für die Mädels aus dem „Kleinen Foyer“ an. Zusammen basteln und malen wir oder machen Gruppenspiele. Diese müssen nicht nur auf Französisch erklärt werden, sondern auch oft auf Englisch, denn immer wieder landen auch nigerianische Mädchen im Foyer. Schlussendlich muss uns ein Mädchen, das Französisch spricht, die Spielanleitung auch noch auf die Stammessprache Fon übersetzen, denn manchen Mädels waren nicht oder nur für kurze Zeit in der Schule und verstehen so unsere Anweisungen nicht komplett. Die Herausforderung hierbei ist, dass eben fast jede Woche neue Mädels dabei sind, die man noch nicht kennt. So muss man immer wieder schauen, was den Kindern Spaß macht und wie viel sie von unserem Französisch verstehen. Nach der Aktivität beten wir mit allen Mädels den Rosenkranz, das ist im Foyer ein tägliches Ritual. Die meiste Zeit wird auf Französisch gebetet, manchmal werden die Gebete aber auch auf Fon gesagt oder gesungen, was ich persönlich am schönsten finde.
Rosenkranz bei der Marienstatue
Hausaufgabenbetreuung
Da das Foyer auf dem Schwesterngelände liegt, sehe ich die Mädels täglich. Wenn ich in der Früh aufbreche, um mit dem Mototaxi zur Arbeit zu fahren, laufe ich ein Stück über den Hof auf dem Gelände. Die Mädchen aus dem „Kleinen Foyer“ sind dann gerade dabei, den Hof zu kehren und wir wünschen uns winkend einen schönen Tag. Samstags putzen wir in der Früh gemeinsam das Erdgeschoss im Haus der Schwestern, und am Samstagabend essen wir zusammen mit den Foyermädels. Es gibt dann immer Attassi (Reis mit Bohnen und Tomatensoße), dass die meisten Mädels (und wir natürlich auch) mit der Hand essen. Am Anfang war das gar nicht so einfach, und die Mädchen haben sich sehr darüber amüsiert, wie mir die Hälfte des Essens aus der Hand wieder in den Teller gefallen ist, aber nach ein paar Mal Attassi essen hatte ich den Dreh dann auch raus 🙂 .
Sonntagmorgen gehen wir gemeinsam in die Messe, und bis vor kurzem hat während der Schulzeit auch immer am Sonntagnachmittag das Oratorium stattgefunden, ein Spieleveranstaltung für die Kinder aus unserem Quartier. Die Foyermädels waren da immer mit dabei und auch wir Volontäre haben uns dort oft blicken lassen.
Sonntags auf dem Heimweg nach der Messe
Beim Oratorium
Wie eine große Schwester darf ich in diesen Momenten Zeit mit den Foyermädchen verbringen. Und ich merke, dass ihnen meine Anwesenheit gut tut, auch wenn ich nicht sehr viel Zeit im Foyer verbringe, verglichen mit der Zeit, die ich in den anderen Projekten der Don Bosco Schwestern bin. Trotzdem kommen Sätze wie „Warum kannst du nicht meine Mama sein?“, „Ich fühl mich einfach wohl, wenn du da bist“ und „Danke fürs Zuhören. Es kommt nicht oft vor, dass mir jemand einfach so zuhört wie du“. Das sind besondere Momente, an die ich mich lange erinnern werde.
Mehr als 50 Mädchen sind im „Großen Foyer“. Jede von ihnen bekommt durch die Schwestern die Möglichkeit, in die Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen. Flora ist 15 Jahre alt und besucht die „Ecole Alternative“. Das ist eine Grundschule der Don Bosco Schwestern für Jugendliche, die zu alt für einen normalen Grundschuleinstieg sind. Sonia ist 17 und macht eine Ausbildung zur Schneiderin auf dem Schwesterngelände. Florence besucht das Gymnasium auf dem Schwesterngelände und wird dort nächstes Jahr ihr Abitur machen. Für so viele Mädchen kommt da eine ziemlich hohe Summe an Schulgeldern zusammen. Die Schuleinschreibung, der Transport zur Schule, das Mittagessen, Schulbücher und Schreibzeug, all das muss finanziell abgedeckt werden. Je nach Schultyp kostet das Schulgeld für ein Mädchen zwischen 350 und 970 Euro im Jahr. Das ist zum Teil so teuer, weil die Mädchen in Privatschulen geschickt werden. Ein Freund von mir, der eine öffentliche Schule besucht hat, hat mir erzählt, dass es dort Klassen mit über 100 Kindern gab. Dieses Jahr wurde in den öffentlichen Schulen außerdem für drei Monate gestreikt. Der Besuch einer Privatschule ist hier in Benin also echt sinnvoll, da dort die Zustände einfach besser sind.
An dieser Stelle kommt ihr, liebe Spender, ins Spiel! Zusammen mit der zuständigen Schwester haben wir Volontäre beschlossen, unsere gesammelten Spenden für die Schul- und Ausbildungskosten der Mädchen aus dem „Großen Foyer“ einzusetzen. Dort sind die Gelder am sinnvollsten eingesetzt und werden am meisten benötigt. Die Don Bosco Schwestern sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, um den Mädels eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Mit euren Beiträgen habt ihr die Schwestern wirklich sehr geholfen! Genauso wie ich sind euch auch die Foyermädels sehr dankbar für eure Spenden. Gerade für sie ist ein Schulabschluss oder das Diplom einer Ausbildung sehr wichtig, denn eines Tages werden die Mädchen das „Große Foyer“ verlassen und werden nicht immer die Unterstützung und Hilfe ihrer Familie haben. Das Ziel der Schwestern ist es, dass diese Mädels nicht als Verkäuferinnen auf dem großen Markt landen, sondern dass sie einen richtigen Beruf ausüben und somit sicher leben können.
Ein herzliches Vergelt’s Gott, oder „Que Dieu vous bénisse“, wie man hier sagen würde (Der Herr segne euch)!
Mein Spendenkonto ist noch bis zum Ende meines Freiwilligendienstes offen. Wenn ihr die Schwestern und Mädels noch unterstützen wollt, findet ihr in meinem Blog auf der Seite „Unterstützen“ weitere Infos dazu. Vielen lieben Dank!
Eure Barbara
*alle Namen der Mädchen geändert!
Annette Klausmann
Hey Bababababarbara,
was für ein schöner Blogeintrag und was für schicke Kleider du immer an hast und einfach gut, dass es dir hoffentlich gut geht! Aber so siehst du eigentlich aus! 🙂
Bis wir uns wieder sehen, nur des aller Bäschte für dich!
Liebe Grüßle aus India, Annedde 😉