Barbara in Benin

Mein Freiwilligendienst bei den Don Bosco-Schwestern

„Ich heiße Sandra. Ich bin acht Jahre alt. Ich verkaufe Tomaten.“

Sandra kann nur wenige Sätze auf Französisch sagen, eigentlich spricht sie nur die Stammessprache Fon, da sie nie das Glück hatte, in die Schule gehen zu dürfen. Stattdessen verbringt sie den ganzen Tag auf dem Markt Dantokpa, mit einem Blech voller Tomaten auf dem Kopf, die sie dort verkauft. Mehrere tausend Kinder verkaufen auf diesem Markt, die meisten davon Mädchen, die zwischen acht und zwölf Jahre alt sind.

Man nennt diese Kinder Vidomegons, was auf Fon so viel bedeutet wie „Kind, das bei einer anderen Person untergebracht ist“. In Benin muss die Erziehung des Kindes nicht unbedingt Sache der Eltern sein. In der Tradition war es oft so, dass Kinder aus ärmlichen Verhältnissen bei wohlhabenderen Familien untergebracht wurden, bei denen sie ein Dach über dem Kopf und Bildung bekamen und gut erzogen wurden. Im Gegensatz dazu half das Kind im Haushalt mit.

Die ganze Sache hat sich mit der Zeit allerdings zu nichts anderem als moderner Sklaverei entwickelt, bei der Kinder verkauft, misshandelt und ausgebeutet werden. Zum Teil werden die Mädchen sogar in Nachbarländer, besonders nach Nigeria, gebracht, um dort zu arbeiten. Die Kinder müssen nicht nur im Haushalt mithelfen, sondern auch auf dem Markt verkaufen. Es ist selten, dass ein Vidomegon-Kind heutzutage noch von seiner Gastmutter, Tutrice genannt, in die Schule geschickt wird.

Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass 5 – 15jährige Mädels bei einer Tutrice landen? Der Psychologe in der Baraque SOS konnte mir bei dieser Frage weiterhelfen. Es gibt im Großen und Ganzen vier Fälle von Vidomegons, die man so zusammenfassen kann:

  • Es gibt Kinder aus sehr armen Familien, deren Eltern nicht die Mittel haben, um für das Kind zu sorgen. Hier entscheidet sich die Familie bewusst dafür, das Kind an eine Tutrice zu geben. Je nach Alter des Mädchens bekommen die Eltern pro Monat zwischen 8 und 22 Euro für die Arbeitskraft ihres Kindes (zum Vergleich: der Mindestlohn liegt hier in Benin bei umgerechnet 60 Euro pro Monat).
  • Es gibt Halb-/Waisenkinder, die nach dem Tod eines Elternteils bei einer verwandten oder bekannten Frau untergebracht werden. Diese kümmert sich um das Waisenkind nicht so gut wie um die eigenen Kinder und verkauft das Mädchen entweder an eine Tutrice weiter oder schickt es selbst zum Arbeiten auf den Markt.
  • Es kommt vor, dass Tutrices in Dörfer im Norden Benins gehen und den Eltern anbieten, ihr Kind mit in die große Stadt Cotonou zu nehmen, da es dort bessere Zukunftsaussichten hat. In diesem Fall wissen die Eltern zum Teil gar nicht, dass ihr Mädchen in Cotonou nicht in die Schule gehen wird. Wenn die Eltern ihr Kind der Tutrice mitgeben, ist es oft so, dass das Mädchen aus Angst vor den Schlägen der Tutrice seinen Eltern nicht sagt, dass es auf dem Markt arbeiten muss. Es ist aber auch nicht unbedingt der Fall, dass die Eltern sehr besorgt um das Kind sind. Oft wird nicht überprüft, ob es ihm in der fremden Familie auch wirklich gut geht.
  • Es gibt Fälle, in denen das Kind entweder von der Familie weggelaufen ist oder von dieser verjagt wurde. Das kann aus allen möglichen Gründen passieren. Zum Beispiel kann das Kind durch den Glauben an Naturreligionen dafür beschuldigt werden, mit Hexerei zu tun zu haben. Diese Mädchen leben richtig auf dem Markt und bieten tagsüber ihre Arbeitskraft und Hilfe bei verschiedenen Verkäuferinnen an. Diese Mädels schlafen oft auf dem Markt, der jetzt nicht unbedingt der sicherste Ort für die Nacht ist. (Sexuelle) Gewalt ist hier keine Seltenheit.

Diese Kinder arbeiten also täglich im Haushalt der Tutrice mit (Kochen, Handwäsche, Putzen) und gehen auf den Markt, um dort z.B. Zwiebeln, Tomaten, Jamswurzeln, Seife oder Kleidung zu verkaufen. Sie sind mangelnder Hygiene, Staub und Krankheiten sowie psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt. Ihr Lohn wandert am Abend natürlich in die Taschen der Tutrice. Es gibt sogar Vidomegons, die abends nicht mit zum Haus der Gastfamilie genommen werden, sondern auf dem Markt bleiben und dort schlafen müssen. Für diese Mädels und die Kinder, die sowieso auf dem Markt leben, bietet das Maison de l’Esperance, das Ausbildungszentrum der Schwestern in Marktnähe, Schlafplätze. Für einen kleinen Beitrag von 8 ct können ca. 80 Mädchen die Nacht in den Schlafsälen sicher und geschützt verbringen und haben zusätzlich auch noch die Möglichkeit, sich zu duschen.

Geschafft! Nach einem langen Tag endlich im Maison de l’Esperance angekommen

Einer der Schlafsäle

 Vidomegons bleiben meist bei ihrer Gastfamilie, bis sie ungefähr 15 Jahre alt sind, denn ab diesem Alter lassen sie sich von ihrer Tutrice nicht mehr alles gefallen. Die Mädels hauen dann entweder von selbst ab oder werden sozusagen von ihrer Tutrice weggeschickt. Manche Mädchen legen es sogar darauf an, schwanger zu werden, um von ihrer Tutrice verjagt zu werden. So kann es vorkommen, dass Vidomegons in ihre richtigen Familien zurückkehren. Oft bleiben die Mädels aber auf dem Markt und bieten dort weiterhin ihren Service an, um Tag für Tag weiter leben zu können.

Die Kinderrechte in Benin verbieten die Arbeit für Kinder unter 14 Jahren. Theoretisch gibt es bei Missachtung Gefängnis- und Geldstrafen von 150 bis 220 Euro. Der Staat und Organisationen wie UNICEF führen immer wieder Aufklärungsaktionen durch, doch das alles bringt leider nicht viel.

In der Baraque SOS de Vidomegon bieten wir genau diesen Mädels die Möglichkeit sich auszuruhen, zu spielen, zu basteln, lesen und schreiben zu lernen und einfach Kind sein zu dürfen. Die Baraque SOS steht seit 2001 auf einem Parkplatz des großen Marktes und ist somit eines der ältesten Projekte, die die Don Bosco Schwestern in Cotonou aufgebaut haben.

Blick aus der Baracke auf den Parkplatz 

 Die Mädels können von 10 bis 17 Uhr kommen und gehen, wann sie wollen. Die meisten sind heimlich da, weil ihre Tutrices nicht damit einverstanden sind, dass die Mädchen in die Baraque kommen und so in dieser Zeit kein Geld verdienen. An manchen Tagen sind nur um die zehn Kinder da, an anderen ist die Baraque mit 30 kleinen Verkäuferinnen recht voll. Empfangen werden sie von einem kleinen Team aus zwei Sozialarbeitern, einem Psychologen, einer Erzieherin und uns Volontären. Zusammen mit Marie-Luise komme ich um 14 Uhr an, und wir begrüßen die Mädels mit dem typischen Barackenhandschlag oder nehmen sie gleich in den Arm.

Ich weiß nicht, wie alt die Kleine genau ist, aber dass sie zu jung dafür ist, um auf dem Markt zu arbeiten, steht fest

Und dann geht es auch schon los mit einer Stunde Alphabetisierung, die von einer Tata und einem Fofo geleitet wird (Bezeichnung für Respektspersonen wie Erzieher/-innen). Dass ein Mädchen, das in die Baracke kommt, in der Schule war, ist echt die absolute Ausnahme.

Der rechte Raum der Baracke, in dem die Alphabetisierung der kleinen Mädels stattfindet. Rechts auf dem Boden stehen ein paar ihrer Waren (Tomaten und Chili)

Mit den Jüngeren sind wir dabei, das ABC schreiben und lesen zu lernen, gut die Hälfte der Buchstaben haben wir schon! Einige Mädchen kommen recht regelmäßig, aber es tauchen auch immer wieder neue Gesichter auf, mit denen ich mich dann oft zusammensetze und übe, die ersten Buchstaben des Alphabets auf die kleinen Tafeln, die wir den Mädels austeilen, zu schreiben.

Auch die Zahlen bis 20 können die Verkäuferinnen, die regelmäßig da sind, schon ganz gut lesen und schreiben und wir fangen schon mit ganz einfachen Rechenaufgaben an. Außerdem lernen die Mädels, sich und die Baraque SOS auf Französisch vorzustellen, ihren Namen zu schreiben und einfache Skizzen auf die Tafeln zu zeichnen. Ab und zu werden Themen wie der menschliche Körper besprochen, um den Kindern ein paar französische Vokabeln beizubringen. Die wenigen Mädchen, die schon etwas älter sind und das ABC schon gut beherrschen, lernen lesen. Dafür haben wir Lernbücher, die speziell für Analphabeten aus dem französischsprachigen Westafrika entworfen wurden.

Nach der Stunde Alphabetisierung sind verschiedene Aktivitäten geboten. Mittwochs z.B. kommt eine Schneiderin, die den älteren Mädchen zeigt, wie man mit der Nähmaschine, die in der Baracke steht, richtig umgeht. Auch die Jüngeren haben schon einfache Stiche mit der Hand gelernt, um z.B. ein zerrissenes Kleid wieder zusammennähen zu können.

Alle zwei Wochen kommt Tata Infirmière, die Krankenschwester des Ausbildungszentrums der Don Bosco Schwestern. Sie macht Sensibilisierungen mit den Mädels und klärt sie auf Fon z.B. über Krankheiten, Schwangerschaft und Hygiene auf. Freitags werden Filme auf Fon angeschaut und ca. einmal im Monat wird für alle Mädels Reis oder Spaghetti gekocht, auf einem kleinen Gasherd, der in einer Ecke der Baracke steht.

Im Eck hinten ist der kleine Herd mit dem Topf zu erkennen

Das ist dann immer ein besonderer Tag, an dem sich die Mädchen mit strahlenden Augen das Essen mit den ungewaschenen Fingern in den Mund stopfen. Und wir Volontäre müssen natürlich auch probieren!

Auch ich biete mit meiner Mitvolontärin Aktivitäten an. Das müssen ganz einfache Sachen sein, denn da die Mädels nie in der Schule waren, sind Geduld und Feinmotorik nicht unbedingt ihre Stärken. So bringen wir ihnen z.B. oft Mandalas oder andere Ausmalbilder mit, falten einfache Blumen, mit denen wir die Baracke dekorieren, oder flechten leichte Armbänder.

Sonst verbringen wir unsere gemeinsame Zeit mit Klatschspielen (das haben die Mädchen voll drauf!), Kartenspielen, Kuscheln (das sind keine Kinder, die oft in den Arm genommen werden), Tanzen oder einem Steinchenspiel, das hier in Benin gerne gespielt wird.

Manchmal gibt es Tage, an denen ein Mädl den halben Nachmittag auf meinem Rücken getragen werden will

Insgesamt läuft die Verständigung echt gut, auch wenn wir Volos wenig Fon und die Mädels meistens wenig Französisch sprechen. Die Spiele sind alle so einfach, dass man sie schnell auch ohne Erklärung versteht, und beim Tanzen braucht man ja sowieso keine Sprache! Manche Mädchen breiten auch in einer Ecke eine Matte aus, um ein bisschen zu schlafen. Und das bei dieser unglaublichen Lautstärke, die in der Baracke herrscht! Es ist nämlich nicht so, dass die Mädels erschöpft und leise in der Baraque SOS sitzen, ganz im Gegenteil: die Kinder sprühen nur so vor Energie und Lebensfreude, dass man es gar nicht glauben kann, welche Geschichten diese Mädchen mitbringen und dass sie schon seit in der Früh auf dem Markt unterwegs sind, teilweise mit echt schweren Waren auf dem Kopf, da muss ich nur an das Mädel denken, das die schweren Jamswurzeln verkauft… Und es ist unglaublich, was für laute Stimmen so kleine Mädchen haben können!

Stille Momente sind selten in der Baracke!

Man merkt aber auch einfach, dass das Kinder sind, die es nicht leicht haben, die sich Tag für Tag durchkämpfen müssen. Der Umgangston ist oft rau, es wird wenig Rücksicht auf die anderen oder auf Gegenstände der Baraque SOS genommen, beim Kartenspielen wird geschummelt, was das Zeug hält. Probleme werden mit Gewalt gelöst, die Größeren schlagen die Kleineren, und egal, wie gut die Stimmung ist, eine kleine Schlägerei ist schnell passiert und gehört zum Barackenalltag dazu.

Wenn die Sozialarbeiter oder der Psychologe eine besonders kritische Situation mitbekommen, ist es auch möglich, das Mädchen an die Kinderschutz und –auffangstation hier in Cotonou weiterzuleiten. Von dort aus wird versucht, das Kind zurück in die Familie zu bekommen oder in einem Heim, wie das Foyer der Don Bosco Schwestern, unterzubringen. 2017 kamen 587 Mädchen in die Baracke, darunter gab es 143 neue Gesichter. Bei 62 von ihnen wurden die Hintergründe genauer untersucht und eine Reintegration in die Familie gestartet. Vier Mädchen konnten mit Absprache der Eltern/ Tutrice in die Ecole Alternative eingeschrieben werden. Das ist ein weiteres Projekt der Don Bosco Schwestern, sozusagen eine Grundschule für Jugendliche, die für den normalen Grundschuleinstieg schon zu alt sind.

Die Baracke ist einfach schon durch den ständig hohen Geräuschepegel ein anstrengendes Projekt, das mich jeden Tag müde nach Hause kommen lässt. Trotzdem macht es mir so viel Spaß, Zeit mit den Mädels zu verbringen und zu spüren, dass sie sich freuen, dass ich da bin. Es ist hier in Benin schon etwas Besonderes, einen Weißen zu kennen oder mit ihm befreundet zu sein. Gerade wenn wir die Barackenmädels zufällig beim Verkaufen auf dem Markt treffen und sie mit unserem Handschlag begrüßen und ein paar Worte wechseln, merkt man, wie sehr die Mädchen diese Situation genießen. Die erstaunten Blicke und Ausrufe der Marktfrauen, die uns beobachten, sind auch echt Gold wert. In diesem Moment sind die Vidomegons, die sonst so schlecht behandelt werden, etwas Besonderes und werden dafür bewundert, dass sie uns Yovos (Weiße) kennen und schon einige Zeit mit uns verbracht haben. Und diese Anerkennung tut den Mädels richtig gut.

Liebe Leser, Respekt, wenn ihr es bei diesem schwierigen Thema bis hierher geschafft habt! Ich möchte euch an dieser Stelle nochmal bitten, die Projekte der Schwestern mit einem kleinen Beitrag finanziell zu unterstützen. In einem meiner nächsten Blogeinträge werde ich darüber berichten, wie eure Spenden eingesetzt werden.

Vielen Dank!

 

Liebe Grüße aus Cotonou,

Tata Barbara    

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  1. Christine Dähn

    Hallo Barbara,
    mit Deinen Einträgen und den vielen Fotos bringst Du mich immer wieder zum Lachen oder Weinen. Du bist dort genau am richtigen Ort und kannst den Kindern ganz viel geben – wir sind sehr stolz auf Dich!
    Genieß die letzten paar Wochen noch,
    ganz liebe Grüße und bis bald
    Mama

  2. Waldmann

    Liebe Barbara,
    Danke für Deinen ausführlichen und eindrucksvollen Einblick in Deine Arbeit in Benin
    Ich kann Dich nur bewundern – es wird auch wieder sehr deutlich , wie gut es uns in Deutschland geht
    Weiterhin Alles Gute für Dich!- und bis zum Wiedersehen
    Liebe Grüße
    Max aus der Heimat Schwabbruck

  3. Martin Hohler

    Hey Barbara!
    Dein Blogeintrag hat mir mal wieder sehr gut gefallen. Es ist so unheimlich wichtig auch den Rest der Welt zu informieren.
    Cool, wenn es dir Spaß macht und ich bin überzeugt, dass Deine Arbeit dort wirklich wertvoll ist. Bleib dran und genieße die Zeit. Bald schon müssen wir wieder zurück nach Deutschland…

    Beste Grüße von „Nebenan“
    Le Petit-Blanc Respo Martin

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