Die letzten Wochen Vijayawada

Nun ist es schon Anfang August und der Abschied rückt immer näher. Es ist irgendwie sehr surreal. Seit etwa zehn Monaten lebe ich in Indien und es ist mittlerweile mein Zuhause geworden. Zu Beginn des Jahres kam mir immer wieder in den Kopf wie unwirklich das eigentlich alles ist, dass ich für ein Jahr hier lebe und arbeite, in einer so anderen Welt und nun ist es langsam anders herum. So wirklich kann ich mir nämlich noch nicht vorstellen nicht mehr täglich ins YB zum Essen zu gehen, mit den Kindern zu spielen oder in unserer schönen türkisen Flat zu wohnen. Das kommt, denke ich, vor allem dadurch, dass sich mein indischer und mein deutscher Alltag so sehr unterscheiden. Häufig kommt mir der Gedanke „Ich kann doch nicht hier weg, das hier ist doch jetzt auch mein Zuhause“, zumal ich zunächst ja nicht mehr so schnell hier her zurückkehren werde. Ich denke das ist der entscheidende Unterschied zum Abschied von Deutschland und den Menschen dort. Ich wusste, auch wenn ich jetzt erstmal weg bin, sehe ich sie alle nach 12 Monaten wieder. Doch hier ist es etwas anderes: sollte ich in einigen Jahren wieder nach Vijayawada kommen, was auf jeden Fall mein Plan ist, so werde ich es nicht so anfinden, wie ich es nun wahrnehme. Mit einigen wenigen Freunden werde ich eventuell etwas Kontakt halten und sie dann wiedersehen und auch das YB werde ich besuchen können, doch unsere Flat wird von Fremden bewohnt sein, die Kinder werden nicht mehr in den Projekten leben, die Staff Members, von welchen ich mittlerweile echt einige ins Herz geschlossen habe, werden auch nicht mehr alle hier arbeiten und ich glaube was tatsächlich den größten Unterschied macht, es ist eben nicht mehr mein Alltag, sondern ich werde es wie ein Tourist nur einige Tage lang besuchen.

Neben diesen Gedanken freue ich mich mittlerweile auch schon sehr auf mein deutsches Zuhause. Ich erwische mich, wie ich mir schon immer häufiger Szenarien ausmale, wie mich meine Eltern und mein Bruder vom Flughafen abholen, wie wir als Familie gemeinsam am Abendessenstisch sitzen und Brotzeit machen oder wie ich Freunde wiedertreffe. In den letzten Tagen hatte ich sogar seit Ewigkeiten mal wieder Heimweh. Ich denke das kommt daher, weil daheim nun wieder greifbar ist, ich weiß, es dauert nicht mehr lange und ich kann bald wieder nicht mehr nur über den Handybildschirm mit allen ratschen.

Da nun bei mir die letzten zwei Wochen anbrechen und Anna und Zora nur noch weniger als eine Woche haben, sind wir alle schon sehr in Abschiedsstimmung. Die vielen Listen, was man nochmal sehen oder machen muss, welche Dinge man nochmal essen will, was man noch alles kaufen möchte oder einfach von wem man sich wann verabschiedet bestimmen zurzeit sehr unsere Tage, was vielleicht eh ganz gut ist, weil es so neben dem Alltag noch ein paar Besonderheiten gibt und wir schöne Sachen miteinander unternehmen. Der Vorteil von Hanna, Lice und mir hierbei ist, wir machen nun alles ein letztes Mal mit Anna und Zora, haben danach jedoch nochmal zehn Tage, in welchen wir ein bisschen runterkommen können und Viji nochmal in Ruhe genießen können. Auch wenn das alles ja nun ständig im Kopf ist, werde ich es vermutlich erst wirklich realisieren, wenn ich im Flugzeug nach Deutschland sitze.

Mein Plan war eigentlich, diesen Blogeintrag Mitte/Ende Juli zu veröffentlichen, doch nun kam zum einen ein doch recht stressiger Arbeitsalltag und dann noch eine Krankheit dazu, wegen welcher erst Hanna für einige Tage im Krankenhaus bleiben musste und schließlich auch Zora und ich hohes Fieber bekamen und ich eine ganze Woche lang eigentlich nur im Bett verbrachte.

Aufgrund dieser großen Lücke, die unter anderem deshalb nun zwischen den beiden Blogbeiträgen entstanden ist, möchte ich nun noch einmal kurz nach dem Sommercamp ansetzten. Gestartet haben wir ganz gewöhnlich in unsere üblichen Projekte, dass heißt für mich ging es vormittags nach Penamaluru in die Community und jeden zweiten Abend danach noch ins Deepa Nivas. In Penamuluru geht eigentlich alles weiterhin seinen Lauf, die einzige große Veränderung, die kurz nach dem Sommercamp stattgefunden hatte war, dass dort unter anderem durch Prayanka, die Mitarbeiterin die seither dort arbeitet, eine Bridge School aufgebaut wurde. Mit der Bridge School wird versucht, alle Kinder staatlich zu registrieren, damit sie überhaupt die Möglichkeit haben eine Schule zu besuchen und dann ist natürlich das Ziel sie und vor allem die Eltern davon zu überzeugen, dass die Kinder und Jugendlichen die Schule besuchen sollten. Für alle anderen, welche das aus verschiedenen Gründen nicht tun, findet dann in der Community selbst eine Art Unterricht statt. Prayanka ist also seitdem mit uns jeden Tag da, wenn wir kommen macht sie meist mit den Kindern Englisch- oder Teluguunterricht und dann machen wir noch mit ihnen Mathematik. Wir sind wirklich sehr froh, dass Prayanka dort arbeitet, denn durch ihre Arbeit gehen mittlerweile schon mindestens sieben Kinder mehr zur Schule und das ist wichtig, denn ohne Schulbildung haben sie kaum eine Chance einmal ein anderes Leben als ihre Eltern zu führen. Leider werden hier aber nur die Mädchen geschickt, da die Jungs schon wirklich sehr früh mitarbeiten müssen. In Penamaluru handelt es sich hierbei vor allem ums Fischen, da durch den Ort ein Fluss fließt. Meist ist es jedoch auch bei den Mädchen so, dass sie zwar einige Male in der Schule waren, dann aber auf einmal wieder öfter vormittags bei uns sind, weil sie einfach keine Lust haben. Klar, wir wollten ja zu unserer Schulzeit auch nicht immer in die Schule, bei uns standen dann aber unsere Eltern dahinter, was hier eben häufig nicht der Fall ist. Und trotztdem ist durch die Bridge School ein guter Start getan, das Ganze ist jedoch noch lange kein Selbstläufer. Was hierbei sehr schade ist, Prayanka wird nun wieder aufhören dort zu arbeiten und wir wissen nicht, ob und wann eine neue Mitarbeiterin dort anfangen wird. Das ist in vielerlei Hinsicht nicht gerade gut. Zum einen natürlich für die Kinder, die sie teils täglich für die Schule motiviert hat, zum anderen aber auch für uns, da ich es einerseits sehr angenehm fand jemanden meine vielen Fragen zum Communityleben zu stellen, andererseits den Gedanken erleichternd fand, jemanden von Navajeevan bei den Kindern dort zu wissen, wenn wir alle zurück in Deutschland sind. Meine Befürchtung ist tatsächlich ein bisschen, dass zumindest einige Mädchen dann gar nicht mehr in die Schule gehen. Trotzdem bin ich zuversichtlich, dass zumindest ein erster Schritt getan ist und das auch ohne neue Mitarbeiterin etwas weiterlaufen würde.

Musikstunde in der kleinen Kapelle der Community
Neben der Community wurde eine Feier veranstaltet, da zwei Mädchen das erste Mal ihre Periode bekommen hatten.
Das passende Mehndi durfte da natürlich nicht fehlen.

Im Deepa Nivas ging es kurz nach dem Summercamp ziemlich drunter und drüber. Statt der üblichen 40 bis 50 Jungs wohnten auf einmal etwa 80 Jungs dort. Da zudem zu Beginn die ersten zwei bis drei Wochen noch keine Lehrerinnen für den Nachhilfeunterricht kamen, konnte ich in dieser Zeit mit den Jungs einfach nur spielen. Ich brachte also Uno und Ausmalbilder mit, wir spielten Fußball und Federball und tanzten hin und wieder, was einfach alles sehr entspannt und schön war. Grundsätzlich war es so wie auch sonntags in der Gamestime normalerweise: alle Jungs machen, was sie wollen und spielen so vor sich hin und wir Volos bieten ein paar Sachen an und wer Lust darauf hat kommt dazu.

Nach dieser sehr netten Zeit mit den Jungs begann dann jedoch wieder die normale Abendnachhilfe. Statt zwei Klassen sind es nun drei und ich übernehme offiziell mit Mounika, einer Mitarbeiterin die dritte Klasse, wobei ich doch sehr häufig alleine bin, da sie andere Dinge zu tun hat. Und so habe ich meist an die zwanzig Jungs, die verständlicherweise alle keine Lust haben, sich hinzusetzten und nochmals für die Schule zu lernen. Zudem habe ich leider so gut wie keine Autorität, wodurch es mal mehr mal weniger abgeht und ich danach oft einfach froh bin, dass es vorbei ist. Und obwohl ich Tage habe, an denen ich danach erstmal weinen könnte, weil sich die Jungs mal wieder nur geprügelt haben, gehe ich sehr gerne hin, denn lieb habe ich sie trotzdem und meist sind sie je schlimmer die Klasse war, danach umso netter zu mir. Mittlerweile nehme ich mir auch heraus, die letzte halbe Stunde mit ihnen zu malen, zu tanzen oder ihnen mit Mehndi (Henna) Namen auf ihre Arme zu schreiben und keinen Unterricht mehr mit ihnen zu machen.

Malen und Spielen mit den Jungs

Neben den Kindern und meinen lieben Mitvolos sind mir mittlerweile auch viele der Mitarbeiter:innen Navajeevans ans Herz gewachsen. Viele von ihnen sehe ich fast täglich, ob im YB oder in einem der Projekte und auch wenn es meistens nicht viel mehr als einmal Winken und ein „Bagunawa“ (How are you?) oder ein „Tinawa“ (Did you eat?) ist, kennt man sich jetzt eben doch schon fast ein Jahr und es ist eine nette Verbindung entstanden. Und immer wieder bin ich dann erstaunt, wie fürsorglich sie mit uns sind und merken, wenn etwas nicht stimmt, einem dann einfach mal die Hand halten oder dir jeden Tag ein „Take Care“ mit auf den Weg nach Hause geben.

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  1. Teresa Stefenelli

    Schöner Blogeintrag wie immer! Auch wenn ich auf der anderen Globushälfte bin, habe ich gerade sehr viele ähnliche Gedanken wie du. Ich freue mich, wenn wir uns in ein paar Wochen in persona wiedersehen und über alles quatschen können 🙂

  2. Ina Gaul

    Liebe Antonia, es ist so schön wie Du schreibst und auch Deine Gefühle beschreibst!
    Wir sehen uns morgen wieder, nach so langer Zeit, und ich freue mich sehr auf Dich!!!

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