Dass Kinder die Schule abbrechen, ist hier leider keine Seltenheit. Wer in der Schule nicht mitkommt, wer Prüfungen nicht besteht, wer es sich nicht leisten kann, auf eine Privatschule zu gehen oder wer arbeiten muss, um die Familie zu ernähren, geht eben einfach nicht mehr zur Schule.
Dass das für eine Gesellschaft (die Kinder, denen dann die Bildung fehlt, sind schließlich die Zukunft), für die armen Familien und für den Jugendlichen selbst ein schrecklicher Zustand ist, ist keine Frage.
Wer einmal aus dem Raster fällt, hat es unglaublich schwer, sich irgendwann nocheinmal hinzusetzen und die Basics (z.B. das englische Alphabet) zu lernen.
Für jeden Jugendlichen in Tamil Nadu ist das Nachholen von Abschlusspüfungen der 10. oder 12. Klasse zu einem bestimmten Termin möglich, auch wenn er in dem Jahr keine Schule besucht hat (wer durchfällt fliegt sozusagen von der Schule). Das heißt für diese “Nachholer”, dass sie sich den Stoff selbstständig aneignen müssen, während andere genau diesen Stoff das ganze Jahr im Unterricht behandeln.
Doch wie soll man englische Gedichte auswendig lernen, Grammatikfragen beantworten oder Essays schreiben, wenn man nicht mal einfache englische Wörter lesen kann oder in einigen Fällen in der 10. Klasse noch nicht das Alphabet beherrscht?!
(Zur Erklärung: In Tamil, der hiesigen Sprache, sind die Grammatik, Satzstrukur und das Alphabet grundverschieden zu Englisch bzw. zu unseren Schriftzeichen. Es ist für die meisten buchstäblich so, wie es für uns ist, Chinesisch zu lernen.)
Zum Glück gibt es Möglichkeiten der Nachhilfe von Projekten, wie z.B. Vembu, für dieses sog. “Dropouts” (Schulabbrecher bzw. aus dem Raster fallende Jugendliche). Neben drei Lehrern, die gezielte Examensvorbereitung machen, unterrichten wir täglich Basic-English-Lessons, die wir an das Niveau der Schüler anpassen.
Anna macht beispielsweise mit Murugan* täglich ABC-Training. Er hatte Probleme in der Schule bzw. wirkte desinteressiert, woraufhin er von seinem Vater von der Schule genommen worden ist und in der sechsten Klasse begonnen hat, zu arbeiten. Nun ist er 16 und merkt, dass er die Bildung im Alltag doch braucht und will wieder zur Schule. Gemäß seines Alters wird er in die 8. Klasse gestuft, doch da kann er natürlich nicht mithalten, denn die Lehrer machen Unterricht, der sich an den Englischkentnissen der besseren Students und staatlichen Schulbüchern orientiert. So schaltet er im Unterricht weiter ab und die Lücken werden immer größer. Es ist ein Teufelskreis…
In Indien gibt es keine Trennung nach Mittel-,Realschule oder Gymnasium, was auch Vorteile hat; so wird niemandem schon anhand des Schulnames das Gefühl gegeben, schlechter oder schwächer zu sein. In Deutschland kann auch ein guter Schüler, der von seinem Umfeld gesagt bekommt, sowieso nicht mithalten zu können, nur schwache Leistungen zeigen.
Doch das Problem hier ist, dass es für die langsameren Lerner keine Möglichkeit gibt, Stoff zu vertiefen bzw. nachzuholen und so werden die Lerndefizite immer größer, da die Lehrer zu große Klassen haben, um im Frontalunterricht nachzusehen, dass jeder mitkommt (wobei es natürlich auch Ausnahmen und über den “Soll” hinaus engagierte Lehrer gibt, die dann aber meist auf Privatschulen unterrichten).
Wir haben uns inzwischen schon daran gewöhnt, dass Schüler mit Gedichten zu uns kommen, die sie komplett auswendig können, ohne ein einziges Wort davon zu verstehen. Danach wird im Exam nämlich nicht gefragt. Deswegen hassen viele Schüler Englisch; es ist für sie keine Sprache, die ihnen im Alltag oder für Kommunikation nützen könnte, sondern nur das Auswendiglernen von komischen, unzusammenhängenden Lauten. Dazu kommt vielleicht auch der Hintergrund des Nationalstolzes bzw. der Abneigung von Kolonialzeiten unter britischer Herrschaft, was wir aber nicht als Hauptgrund der vielen Probleme mit der englischen Sprache sehen.
Wer aus ländlichen Gebieten weg in die Städte mit besserer Infrastruktur und Arbeitsplätzen will, braucht im Alltag aber nun mal grundlegende Englischkenntnisse. Selbst im Nachbarstaat Kerala, der nur ein paar Stunden weg liegt und ein beliebtes Ausflugsziel ist (wirklichen Urlaub können sich nur wenige leisten), kommt man mit nur Tamil und ohne Englisch nicht weit. In Indien gibt es 27 verschiedene Amtssprachen und somit ist Englisch zwischen den indischen Bundesstaaten die Handels- und vor allem Kommunikationssprache. Von Jobs in internationalen Firmen brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Ihr merkt, dass zumindest das Lesen des englischen Alphabets und die Grundkenntnisse der Sprache in viele Lebenslagen (z.B. um Aufschriften auf Verpackungen, SMS, Briefe vom Gericht und Government, etc.) extrem wichtig sind.
Generell ist Bildung nicht nur notwendig für die Person selbst und z.B. ihren Job, sondern für die Entwicklung der gesamte Gesellschaft. Daher ist neben mangelhaften Schulsystemen auch Kinderarbeit (hier ist der Blogeintrag dazu verlinkt) ein weiteres Problem für eine Gesellschaft.
Um Kinderarbeit gar nicht erst entstehen zu lassen, bietet unser Projekt Vembu verschiedene Childlabour-Präventivmaßnahmen. Darunter fällt u.a. die sog. Tuition, eine Art Hausaufgabenbetreuung nach der Schule für ca. 3 Stunden. Dazu muss man verstehen, dass die Kinder hier komplett anders aufwachsen. Ihre Eltern arbeiten hart für den Lebensunterhalt der Familie, die nicht wie in Deutschland vom Staat durch Sozial- und Solidaritätsprinzipien unterstützt wird. Für die Aufsicht der Kinder sind Geschwister bzw. Nachbarschaftshilfe die Grundlage; in einigen Fällen werden die Kleinkinder einfach mit zum Arbeitsplatz genommen, wo sie in extremen Fällen später dann auch mitarbeiten müssen.
Unsere Tuition hilft, sie zum Hinsetzen und Lernen zu bringen bzw. erstmal die Möglichkeit für ein Umfeld zum Lernen zu geben und sie damit vor dem Arbeiten zu bewahren. Denn das Leben der Kinder findet aufgrund der kleinen Häuser/Hütten, die dann zu fünft oder sechst bewohnt und oft nur zum Schlafen genutzt werden, hauptsächlich draußen statt. Ich kenne z.B. keinen einzigen Haushalt in Vilathikulam, der einen Schreibtisch oder einen leisen Raum zum Lernen für die Schuldkinder enthält.
(Ja wir hatten es schon immer sehr gut in unserer Kindheit in Deutschland!)
Das Prinzip dieser Tuition (Nachmittagsbetreuung) ist ja schön und gut, nur leider gibt es nur zwei Lehrer für die 60 bis 100 Schüler, die fast alle Erklärungen und Hilfe bei Hausaufgaben bräuchten (die sie von ihren oft ungebildeten Eltern nicht bekommen können) und die in einigen Fällen auch (undiagnostizierte) Lernbehinderungen besitzen. Das “Gehalt” der Lehrer gleicht dabei mehr einer Aufwandsentschädigung eines Ehrenamts. Deswegen ist dies als Job wenig lukrativ und es gibt nicht viele, die Lust verspüren, sich den Mühen dieser Lehrerarbeit zu stellen. Also versuchen Anna und ich mitzuhelfen und die sonst vernachlässigten Schüler gezielt zu fördern.
Hauptaugenmerk liegt auf ABC- und Lesetraining bei den Älteren (6. bis 10. Klasse), die von Lehrern schon aufgegeben wurden und auch selbst schon nicht mehr daran glauben, noch Englisch zu lernen. Wir hoffen, dass sie Lesen lernen, um sie sich irgendwann auch selbstständig hinsitzen und z.B. Vokabeln lernen zu können.
Es ist manchmal eine Geduldsprobe, die auch uns an unsere Grenzen bringen kann… Aber irgendwo können wir die Schwierigkeiten auch verstehen;
Hier ein kurzes Beispiel für die scheinbare Unlogik der Sprache: L E T T E R S wird im Englischen ja so buchstabiert: el, i, ti, ti, i, ar, es und “elititiiares” hat mit der Aussprache “läthas” im ersten Augenblick wenig gemeinsam und in deren Köpfen entsteht keine Verbindung.
Zur Geduldsprobe für uns wird es dann, wenn nach einer Stunde intensiv Englisch-Nachhilfe eben immer noch zu “letters” “elephant” gesagt wird, weil man gerne mit irgendwelchen schon bekannten Wörter rät, um zu verbergen, dass man das Wort immer noch nicht lesen kann (Meint ihr eigentlich, das merken wir dann nicht, liebe Students?!)
Es ist zwar manchmal mühsam, sich mit einzelnen Schülern hinzusetzen und nicht die Geduld zu verlieren, wenn sie vor jedem Buchstaben überlegen müssen und man erwischt sich auch mal bei dem Gedanken, ob es nicht vergeudete Zeit ist, da sie sich es oftmals doch nicht merken können. Doch es kommt eben nicht immer auf Effizienz an, denn wer außer uns setzt sich sonst mit diesen Schülern hin und versucht Buchstabe für Buchstabe zu entziffern?! Ihre Eltern könnnen höchstwahrscheinlich kein Englisch oder sie sind beschäftigt und in der Schule haben die Lehrer keine Zeit für den Einzelnen. Wer sich da nicht selbst motiviert, aufzupassen, fällt raus; und die Tuition-Teacher haben auch noch 60 andere Schüler, die Aufmerksamkeit wollen. Also haben wir uns vorgenommen, besonders auf die Schwachen und Langsameren zu achten, um ihnen eine Chance zu geben.
Und diese Schwächeren oder vielleicht auch nur in einem anderen Tempo Lernenenden gibt es nicht nur auf der anderen Seite der Welt, sondern überall. Lasst uns nicht vergessen, dass sie unserer Mithilfe und Aufmerksamkeit bedürfen und die wir, in unserem Fokus auf Geld, Job, und Leistungsdruck, zu oft übersehen. Manchmal sollte man eben Effizienzgedanken wegfallen lassen und nur auf den individuellen Menschen mit seinen Stärken und Schwächen eingehen.
Die “Kleinen”, die “Unbedeutenden” gehen zu oft unter in dieser Welt. Lasst uns für die Rechte derer einstehen, für die sonst niemand kämpft!
*Name geändert
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