Sehr oft werden wir von den Kids hier gefragt: “Was gefällt euch besser: Deutschland oder Indien?”. Sie wollen natürlich nur die eine “richtige” Antwort (=Indien) hören, um diese mit Begeisterung oder eifrigem Kopfgewackel aufzunehmen.Wenn man davon absieht, dass mit Indien vor allem Tamil Nadu gemeint ist (denn dieser Bundesstaat, in dem wir leben, spielt in Indien eine Sonderrolle. Die Liebe der Tamilen zu ihrem Bundesstaat und der Kampf für eine Unabhängigkeit von Indien sind hier besonders stark), ist klar, dass es keine einfache Antwort auf diese Frage gibt, schließlich war Deutschland 18 Jahre lang unsere Heimat und wir waren doch sehr zufrieden… oder?

Wer von euch, liebe Leser, in den letzten Monaten mit uns geskypt hat, weiß, dass wir am Liebsten hier bleiben würden und dem viel zu nahen Abschied Mitte August sehr wehmütig entgegenblicken. Doch woran liegt es, dass wir hier so ein starkes Heimat- und Verbundenheitsgefühl entwickelt haben?

Es liegt hauptsächlich an der engen Beziehung zu den tollen Menschen in unserem Village Vilathikulam. Nicht überall hätten wir diese Erfahrungen machen können, hätten mit so vielen Leuten Freundschaften schließen können oder die Möglichkeit gehabt, lange Gespräche im Park zu führen oder die Menschen bei unseren Spaziergängen durchs Dorf spontan zu besuchen, von allen Seiten angelächelt zu werden und immer wieder dieses spezielle Funkeln der Lebensfreude in den Augen der Leute zu sehen, die vor ihren Hütten sitzen, die kleiner als mein 10 Quadratmeter-Zimmer in Deutschland sind, und in denen sie ihr Leben zu fünft oder sechst verbringen.

Ja, sie werden vielleicht durch Statistken oder Definitionen als arm bezeichnet, aber wen interessiert es, ob sie weniger als einen Dollar am Tag zum Leben haben, wenn sie damit ein glückliches Leben führen können und reich im Herzen sind?
Es ist echt ein Phänomen, dass gerade die, die so wenig haben, besonders glücklich wirken bzw. eine unglaubliche Lebenslust zeigen.

Der Advocatus Diaboli mag nun erwidern, dass sie es einfach nicht anders gewohnt sind und gar nicht anders kennen. Aber das stimmt so nicht! Vor allem in Indien gibt es viele reiche und auf “westliche” Art lebende Menschen. Besonders in den Städten findet man Villen, Shoppingmalls, Kinos, S-Bahnen usw. Nur ist eben Stadt-Land-Gegensatz in vielen Bereichen, wie Infrastruktur, Freizeit- oder Bildungsmöglichkeiten riesig.

Aber auch in Vilathikulam haben viele junge Menschen ein Handy und Internet (es ist für vergleichsweise wenig Geld zu haben und bietet viele praktische Tools an; dafür müssen sie dann jedoch bei anderen Sachen Abstriche machen). In Zeiten der Globalisierung kann man sich informieren und den Reichtum der Großstädte oder anderer Länder sehen. Und an dieser Stelle muss gesagt werden, dass auch wir das Bild von westlichem Reichtum vermitteln – ungewollt, aber es schwingt doch in nahezu jeder Erzählung über Deutschland mit.

Die jungen Menschen leben nicht hinterm Mond oder in der Steinzeit! Sie sind nur durch verschiedene Umstände determiniert und wachsen eben in ärmeren & prekären Verhältnissen auf (Kurzes Beispiel: 90% der Haushalte in Vilahikulam haben keine Toilette, doch die Regierung sorgt dafür, dass jeder Schüler in Tamil Nadu, der die 12. Klasse abgeschlossen hat, Zugang zu einem Laptop bekommt). Trotzdem zeigen sie sich glücklich und auch in Gesprächen erwähnen sie oft, zufrieden mit ihrer Lebenssitation zu sein. Da gibt es im Gegensatz zu Deutschland trotz Problemen kaum jemand, der jammert.

Ich persönlich glaube, dass ein Grund für dieses Phänomen die grundsätzlich entspanntere Lebensart der Inder ist (hier spreche ich für all diejenigen, die ich in meinem Dorf oder auf Reisen kennenlernte). Der gesamte Alltag ist von Spontanität und Gelassenheit geprägt. Fällt mal der Strom aus, wird nicht gemeckert, sondern man sucht sich seelenruhig eine Arbeit, die auch ohne Strom erledigt werden kann oder nutzt die Zeit für eine Teepause und gute Unterhaltung.

Um Klischees entgegenzuwirken, muss gesagt werden, dass entgegen der in Deutschland verbreiteten Meinung nicht jeder Inder unpünktlich ist. Pünktlichkeit spielt nur einfach eine untergeordnetere Rolle. Wenn jemand später kommt regt man sich nicht darüber auf, sondern akzeptiert die Situation, so wie sie ist. Was sollte man auch tun, wenn der Zug zwei Stunden später kommt? Vom Ärgern fährt er auch nicht schneller. So kommt es, dass wir auf all unseren Zugfahrten nie schimpfende Menschen an Bahnsteigen gesehen haben.

An dieser Stelle ein Aufruf an euch, liebe Leser:
Nehmt das Leben, so wie es kommt. Versucht vielleicht in nächster Zeit mal spontaner und entspannter im Alltag zu sein.
Der verspätete Bus kann die Chance sein, Dinge in seiner Umgebung wahrzunehmen, die sonst vielleicht übersehen werden (natürlich ist das nicht möglich, wenn man nur auf sein Handy schaut). Anna und ich zum Beispiel haben “indisches” Busfahren lieben gelernt. Es gibt nichts Entspannteres als sich den Fahrtwind um die Ohren blasen zu lassen (indische Busse haben keine Fenster – wozu auch es ist ja immer warm), Leute und deren alltägliches Treiben zu beobachten und sich spontan mit allen Mitfahrern/Mitwartenden zu unterhalten. Wir wissen, dass es keinen festen Fahrzeiten gibt und warten gerne!

Längere Bus- oder Wartezeiten (die Distanzen hier sind größer und Fahrtzeiten meist etwas länger) sind auch eine Möglichkeit, die Gedanken einfach fließen zu lassen. Was passiert dabei im Gehirn? Es können spontane Gedankenblitze, Erinnerungen und Ideen aufkreuzen, weil das Gehirn neue Synapsen bilden bzw. verschalten kann. Kreativität z.B. ist laut Studien viel besser im Ruhezustand möglich. Anstatt sich also zusätzlich ärgern und damit Stresshormone auszuschütten, verschwendet eure Energie nicht durch schlechte Laune und Beschwerden über Dinge, die nicht zu ändern sind, sondern beschwert euch nur dann, wenn es wirklich angebracht ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn etwas bewirkt werden kann (z.B. um sich gegen Ungerechtigkeit einzusetzen).

Das war jetzt Mal ein bisschen anderer Blogartikel und um zur Anfangsfrage zurückzukehren: Auch ein Land wie Deutschland, in dem scheinbar vieles so gut klappt und in dem wir oftmals mehr als genug und praktisch keine Probleme haben, kann sich in manchen Denkweisen auch von angeblich weniger entwickelten Ländern etwas abschauen. So geben wir meist die Antwort, dass wir Indien trotz der uns bewussten Probleme sehr lieben und der Grund dafür die Lebensweise und unglaubliche Herzlichkeit der Menschen hier ist

Alles Liebe aus der sommerlichen Hitze und aus der Mangozeit wünscht
Lydia

 

Hier noch ein paar Fotos, die ein bisschen Lebensfreude vermitteln sollen: