„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel“
– J. W. von Goethe –
Dieses Zitat ist nicht nur eine Homage an unsere tollen Eltern, sondern spiegelt auch unsere aktuellen Gedanken und Emotionen wider.
Das erste Mal überhaupt kann ich annähernd nachvollziehen, wie schwierig es für eine Mutter sein muss, ihr Kind gehen zu lassen. Egal ob beim Umzug in die nächstgelegene Stadt oder ans andere Ende der Welt – Kindern Flügel mitzugeben, kann unglaublich emotional und hart sein.
Was ist passiert?
Wir mussten mit dem ersten großen, dauerhaften Abschied umgehen.
Auch wenn wir noch keine Mamas sind und die Bindung zum eigenen Kind natürlich noch um ein Vielfaches größer ist, haben unsere 19 Jungs, die wir in den letzten sieben Monaten täglich begleitet haben, einen großen Platz in unserem Herzen eingenommen. Sie sind wie eine Familie für uns. Wie es mit Geschwistern eben so ist, streitet man auch mal, kämpft miteinander oder es muss geschimpft werden, wenn gewisse Leute zum wiederholten Male zu spät zur Studytime kommen, um dort nur andere abzulenken, anstatt für die kommenden Examen zu lernen. 😉
Was haben wir nicht mitgefiebert im letzten Monat, in dem unsere Ältesten (die 12. Klässler, die zwischen 17 und 18 Jahre alt sind) ihre Abschlussprüfungen hatten! Den ganzen März hatten sie sog. „Studyholidays“, die sie den ganzen Tag mit uns im Hostel verbrachten und eigentlich zum Lernen nutzen sollten.
(Übrigens hat es besser geklappt, als wir dachten, aber natürlich sinkt die Konzentration irgendwann, wenn man um 4:30 zur frühesten Studytime aufstehen muss und bis 22:00 fast durchgehend lernen soll; ich konnte es also vollkommen nachvollziehen, wenn sie irgendwann einfach eingeschlafen sind)
Zwischendurch gibt es natürlich noch die immer lang ersehnte Gamestime, bei der wir zum „River“ gehen (d.h. zu einem ausgetrockneten Flussbett, das aufgrund der ausgeblieben Regenzeit kein Wasser enthält). Es ist wie eine riesige Spielfläche mit Palmen am Rand, Ziegenherden, die ab und an vorbei getrieben werden, oder Chillis, die zum Trocknen ausliegen.
Auf dem ca. 10 minütigen Fußweg zum River erzählen uns die Jungs ihren Gossip (d.h. ihre neusten lustigen Geschichten übereinander oder über ihre geheimen „lovers“) oder berichten von Familienproblemen, den kommenden Exams oder Bullenwettkämpfen etc. Doch nicht immer laufen wir dorthin… Nein, wir sind schließlich in Indien. Wenn ein kleiner Laster (das Tamilwort lautet „Kuttijaney“; übersetzt Mini-Elefant) vorbeikommt, kommt es schon mal vor, dass man schnell per Anhalter mitfährt. Es befinden sich dann 20 grölende und strahlende Jungs mit ihren glücklichen „white ghosts-sisters“ (richtig, das sind wir, die mit der Hautfarbe leider immer herausstechen und angeschaut werden) auf der Ladefläche des „Mini-Elefanten“.
Der tägliche Austausch, die vielen Gespräche, die gemeinsame Ausflüge zum River, zum Obstkaufen oder zum Post-Office (Apropos Post-Office: hier eine kleine Anekdote dazu) hat eine tiefe Bindung zwischen ihnen und uns geschaffen.
Es war beidseitig zu spüren. Die Jungs erzählten uns jeden Tag mehr Persönliches von ihnen, schrieben süße Einträge in unsere Tagebücher (in denen Anna und ich täglich die tollen Erinnerungen festhalten) und sparten in der letzten Zeit nicht an Komplimenten oder Vermissensbekundungen, wenn wir in den Urlaub fuhren.
Auf unserer Seite lief es meistens so:
Abends im Bett unterhalten sich Anna und Lydia:
„Omg heute hat XY (beliebiger Name einsetzbar) so gut mit mir Englisch gesprochen und dies und jenes erzählt…“
„Ohhh mir hat XY (beliebiger Name einsetzbar) heute so süße Sachen gesagt und sogar geschätzte drei Minuten richtig konzentriert gelernt!“
„Wie können wir sie jemals gehen lassen?!“
„Es wird so schwer Anfang April… aber vielleicht kommen wir dann endlich mal wieder dazu irgendwas zu erledigen“
„Ja wir sollten mal wieder Blog schreiben“
„Ja… aber ich freu mich erstmal auf morgen, denn da können wir Zeit mit den Jungs verbringen“
(Ihr denkt jetzt wahrscheinlich, dass wir total übertreiben, aber kurz vor dem Abschied haben wir tatsächlich fast täglich in etwa diesen Dialog geführt)
Vielleicht habt ihr jetzt einen Eindruck davon bekommen, wie sehr wir an ihnen hängen und wie schwer es uns fiel, sie gehen zu lassen.
Zum Abschied haben wir noch rote Tshirts mit selbstdesigntem Anna&Lydia-Logo für alle Jungs und einen Ausflug gesponsort. (Nochmal ein herzliches Dankeschön an alle Spender!) Es war ein wundervoller Tag in Madurai, beim Tempelbesuch, in einem Wasserpark und in einer fast westlichen Shopping-Mall. Die Jungs haben gestrahlt und waren so glücklich! Es war für viele das erste Mal auf einer Rutsche oder auch auf einer Rolltreppe. In der Mall sind wir teilweise mit den Jungs nur den Aufzug hoch und runter gefahren. Für Jugendliche in Deutschland wäre deren Begeisterung unvorstellbar!
Ich hatte das Gefühl, dass dieser Tag niemals enden soll und doch war es am nächsten Morgen Zeit, Abschied zu nehmen. Es war so traurig zu sehen, wie sie ihre Koffer packten und die Fächer des Regals sich leerten. Es sah am Ende ähnlich leer aus, wie sich mein Herz an diesem Tag fühlte. Ich erspare euch Einzelheiten, aber Abschiedstränen gabs auf beiden Seiten.
Die 12. Klässler haben jetzt ihr Abitur in der Tasche und die meisten werden damit dann aufs College in den nächstgelegenen größeren Städten gehen. Auch wenn sie versprachen, mal zu Besuch zu kommen, hatte der Abschied etwas Endgültiges, da wir nicht mehr den Alltag teilen oder Kontaktmöglichkeiten fehlen (nicht alle haben Handys). Jetzt sind sie frei. Und so traurig der Abschied war, freuen wir uns natürlich, dass sie die Schulzeit überstanden haben.
Das meint Goethe wahrscheinlich in seinem Zitat: Wir benötigen Wurzeln, Geborgenheit, eine gute Erziehung und die Gewissheit, jemanden zu haben, der einen unglaublich liebt, und dazu gleichzeitig Flügel, die uns ermöglichen, zu träumen, abzuheben, frei zu sein und eigene Wege zu gehen.
Wir hoffen, dass wir den Jungs das gut vermitteln konnten und sie von uns genauso viel lernen konnten, wie wir von ihnen.
Liebe Grüße aus Vilathikulam,
Eure Lydia
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