Buenaaaas!

Ich hoffe, es geht euch allen gut! Eigentlich hatte ich gar nicht geplant, einen neuen Blog zu schreiben – so habe ich doch erst mein kurzes Lebensupdate über die letzten Monate hier veröffentlicht. Trotzdem habe ich gerade irgendwie das Gefühl, einen Blog schreiben zu wollen. Genau das ist auch mein System hier – ohne Regelmäßigkeit, immer wenn mich das Schreibfieber packt, einfach meine Gedanken ausschütten zu können. Deshalb jetzt auch dieser Blog. Und zwar kam vor einigen Tagen unter meinem ersten Blogeintrag hier ein Kommentar rein:

„Welches Erlebnis ist dein prägendstes Erlebnis“

Bei der Beantwortung dieses Kommentars in der Kommentarsektion ist mir aufgefallen, dass ich auf diese einfache Frage keine wirkliche Antwort habe, aber dennoch unglaublich viel zu schreiben, weshalb ich dieser Frage einen ganzen Blog widmen werde.

Es gibt nämlich nicht DAS prägende Erlebnis. Es sind ganz viele kleine Dinge, die mich hier Tag für Tag erneut auf die Probe stellen und für immer (hoffe ich) prägen werden. Seien es die ganzen vielen Momente im Hogar, die mich prägen: dazu zählt, dass alle „meine“ Jungs ihr ganzes Leben in einem Fach in einem geteilten Kleiderschrank aufbewahren; an ihrem Geburtstag wird ihnen ein Lied gesungen und das war es dann auch wieder; dieses ständige Umgeben sein von anderen Jungs ihren Alters (was natürlich meistens schön für sie ist, aber manchmal möchte man auch einfach seinen Freiraum haben); die geteilten Schlafzimmer, von denen die Größten für 14 Jungs ausgelegt sind; dass quasi alles, was die Jungs haben, aus Spenden besteht und die Jungs eigentlich keine normale Jugend haben können. Versteht mich nicht falsch, das Hogar ist ein wundervoller Ort und unglaublich wichtig – ohne das Hogar wären die Jungs entweder in ihren „Familien“ (in denen sie definitiv kein geschütztes Zuhause haben) oder würden auf der Straße leben. Aber dennoch funktioniert so ein Hogar natürlich nur mit Regeln – eben weil so viele Jungs darin leben. Die Strukturen dort sind sehr fest und gruppengebunden, es gibt wenig Platz für Individualität. Dass es möglich wäre, mal rauszugehen und sich mit Freunden aus der Schule zu treffen – Traumvorstellung. Wann immer die Jungs sich was kaufen wollen, müssen sie mit uns Volontären raus, für kleine Jugendsünden wie das erste Mal Alkohol oder Ähnliches ist gar kein Platz und auch so etwas wie Beziehungen oder der erste Kontakt zu Mädchen ist eigentlich nur vormittags während der Schule möglich. Krank sein ist quasi verboten – viel zu oft bemerken Anni und ich, dass der Junge Fieber hat und ins Bett gehören würde, aber er dennoch an der festen Tagesstruktur des Hogars teilnehmen muss. Was mich auch immer prägt, ist, wenn die Jungs mir erzählen, dass am Sonntag ihre Eltern kommen und sie besuchen würden – und am Ende kommt meist doch niemand. Geprägt wurde ich hier darin, wertzuschätzen, dass ich eine „intakte“ Familie habe. Und auch wenn ich eigentlich in meiner Kindheit nie wirklich verwöhnt wurde (materiell gesehen), verstehe ich jetzt, wie verwöhnt ich trotzdem bin: mit jedem Tag liebevoll gekochtem Essen auf dem Tisch; das Ausüben von Hobbies, das mir ermöglicht wurde; die Förderung in der Schule; die Aufmerksamkeit, die mir und meinen augenscheinlich belanglosen Erzählungen gewidmet wurde; die gute Erziehung, die ich genossen habe; Geburtstagsgeschenke und Geburtstagskuchen; die Freiheiten, die meine Eltern mir gegeben haben (ich durfte mich immer mit Freunden treffen – eine „Ausgangssperre“ gab es nie) und so so viele weitere Sachen, die ich in meiner Kindheit genießen durfte.

Andere Erlebnisse, die mich prägen, sind dann außerhalb des Heimkontext – im alltäglichen Leben. So gibt es in Bolivien aufgrund der politischen Situation gerade oft kein Benzin und vor den Tankstellen sind unglaublich lange Schlangen von Autos, bei denen ich am Anfang immer dachte, dass sie im Stau stehen würden. Es kann hier vorkommen, dass man fünf Stunden für Benzin ansteht. Auch bin ich schonmal zum Mercado gegangen, um Eier oder Milch zu kaufen und habe dann als (verzweifelte) Antwort von meiner Marktfrau bekommen, dass es schlichtweg nicht geliefert wurde und bin somit ohne Eier und Milch wieder nach Hause spaziert. Die Situation politisch ist momentan sehr schwierig, was man auch daran merkt, dass der Wechselkurs des Euros durch die Decke schießt. Offiziell würde man für einen Euro sieben Bolivianos bekommen (wenn wir mit der Karte abheben würden, wäre das auch immer noch das, was wir bekommen würden), wenn wir aber mit Bargeld in die Wechselstube gehen, haben wir schonmal für einen Euro 19 Bolivianos bekommen. Für uns natürlich traumhaft, dieser Wechselkurs, für die Bolivianer eine Katastrophe.

Eine andere Sache, die ich erst neulich (als mir mein Handy gestohlen wurde) realisiert habe, ist, wie dankbar wir über die Sicherheit sein dürfen. Und damit meine ich nicht die alltägliche Sicherheit, denn ich fühle mich in Bolivien echt total sicher und mir ist noch nie irgendetwas passiert, was mir so nicht auch in Deutschland passieren würde. Das mit dem geklauten Handy ist die schlimmste Sache, die uns bisher „zugestoßen“ ist und Taschendiebe gibt es in den Öffis in deutschen Großstädten genauso. Was ich viel eher mit der Sicherheit meine, ist unsere Polizei. Eigentlich können wir uns immer auf die Polizei verlassen, dass sie uns beisteht und hilft und auch einfach nur diese Präsenz, wenn die Polizei durch die Stadt fährt, führt uns vor Augen, dass da jemand ist, an den wir uns im Notfall wenden können. Anders habe ich das hier in Bolivien erlebt: erstens habe ich in Gesprächen mit Einheimischen schon raushören können, dass ich mit dem geklauten Handy gar nicht erst zur Polizei gehen muss, weil die so oder so korrupt sind, nichts unternehmen werden und sich sowieso für gar nichts interessieren. Zweitens habe ich diese Erfahrung dann auch selber machen können. Ich bin nämlich doch noch zur Polizei, einfach nur, um mein Handy auf die „schwarze Liste“ (darüber wird es über die Seriennummer komplett gesperrt) setzen zu lassen. Hab mich dann vor einem müden Beamten gefunden, der eigentlich keine Ahnung hatte und mich zu einer anderen Zentrale geschickt hat. Auch dort wurde ich weitergeschickt, weshalb ich es dann sein lassen und still akzeptiert habe, dass ich von der bolivianischen Polizei keinen Rückhalt erhalten werde. Traurig eigentlich… Mein Sicherheitsgefühl, das ich davor in Bolivien hatte, war somit auch mit einem Schlag ein bisschen geringer, weil ich jetzt natürlich glaube, dass – wenn wirklich was passieren sollte – ich keine offizielle „Macht“ hätte, die mir zur Seite steht.

Schließlich gibt es noch eine Sache, die mich prägt: der Machismus in Bolivien und die tägliche Aufmerksamkeit, der man sich stellen muss. Dass ich hier auffallen würde, dessen war ich mir vor meiner Abreise natürlich schon bewusst, aber dass ich in der Häufigkeit angestarrt werde und vor allem in der Dauer (es kommt nicht ein kurzer Blick – nein, man wird wirklich teilweise mehrere Minuten lang angestarrt) – und das meistens von der männlichen Bevölkerung hier, damit hätte ich nicht gerechnet. Und mittlerweile habe ich mich (traurigerweise) daran gewöhnt, dass ich angehupt werde, mir hinterhergepfiffen oder -geschrien wird. Mein Blick ist meistens fest auf den Boden geheftet, sobald ich alleine unterwegs bin, damit ich die Blicke nicht ganz so stark bemerke. Und trotzdem habe ich mich in Bolivien noch nie unsicher gefühlt – diese dauerhafte Aufmerksamkeit ist mir lediglich ein wenig unangenehm. Und dass den Frauen so viel hinterhergepfiffen wird, ist hier leider sehr sehr häufig und widerfährt vielen Bolivianerinnen genauso. Und einige bolivianische Männer machen auch einfach keinen Hehl daraus und meistens sind es die, die schon über fünfzig sind…

Wenn ich diesen Blog jetzt so durchlese, fällt mir auf, dass er für den ein oder anderen vielleicht ein wenig negativ rüberkommen könnte. Das meine ich aber auf keinen Fall so!! In all meinen Blogeinträgen ist bisher (hoffe ich!!) rübergekommen, wie sehr ich meine Arbeit, das Land, die Kultur und die Bevölkerung Boliviens liebe und ich würde diesen Freiwilligendienst niemals rückgängig machen – nein, ich hätte sogar unbedingt verlängern wollen (war leider nicht möglich), aber dennoch gibt es wie in jedem Land Dinge, die vielleicht nicht so schön sind. In Bolivien merkt man teilweise schon noch sehr stark, dass wir uns in einem Entwicklungsland befinden – und das prägt mich in einer Weise, zu erkennen, dass ich für alles, was mir bisher im Leben passiert ist, dankbar sein muss und was für ein Glück und Privileg es doch ist, so aufwachsen zu dürfen wie ich. Auch muss ich ganz klar sagen, dass das hier meine subjektiven Wahrnehmungen sind und diese auf keinen Fall auf das ganze Land oder auf alle Bolivianer übertragen werden sollten.

Hasta luego!