Wenn die Kinder des Foyers morgens in der Schule sind, dann bin ich im Auftrag der so genannten „Baracke“ auf den Straßen von Kara unterwegs. Die Baracke ist ein kleines Haus auf dem Markt, welches den Straßenkindern, montags bis freitags von 08:00 Uhr bis 17:00 Uhr, ein offenes Ohr bietet. Es gibt eben so „Mitarbeiter im Außendienst“. Das heißt diese spazieren auf den Straßen, während „Nicht-Straßenkinder“ in der Schule sein sollten und halten die Augen offen nach Kindern, welche eben nicht in der Schule sind. Mit diesen sucht man dann das Gespräch und versucht in Erfahrung zu bringen, wieso sie nicht in der Schule sind, wie sie heißen, ihr Alter, ob sie zu Hause leben. Nicht jedes Kind, welches nicht in der Schule ist, ist automatisch ein Straßenkind. Natürlich gibt es auch immer mal wieder welche, die sich einfach mal eine kleine Pause gönnen. Kennt man ja.
Aber dann gibt es eben auch diese, welche man immer wieder sieht, deren Kleidung jeden Tag die selbe ist, alte zerottete, meist dreckige Kleidung. Bei diesen Kindern versucht man genauer nachzuhaken. An dieser Stelle möchte ich gerne eine Erfahrung aus dem alltäglichen Straßenarbeitstag einbringen:
Am 3. Januar ist uns Kossi das erste Mal aufgefallen. Er war gerade dabei zu helfen, einen LKW zu entladen. (Diese LKW kommen aus Lomé, der Hauptstadt Togos und importieren Waren nach Kara.) Zusammen mit anderen Erwachsenen entladen sie den LKW, etwas abseits des großen Marktes, in einer Seitengasse. Hier findet man häufig Straßenkinder, welche sich ihr tägliches Brot auf diese Weise verdienen. Die Waren schaffen sie dann mit kleinen Zugwagen, ähnlich wie ein Bollerwagen, zu den entsprechenden Händlern oder Geschäften auf dem Markt. Ab und zu gibt es Versuche einen ganzen Bollerwagen voller Ware zu stehlen. Jedoch meist erfolglos. Die Drahtzieher dieser Arbeit sind erfahren und haben ihre „Wachposten“ dementsprechend verteilt. Diese Versuche enden dann meistens damit, dass die ganze Kompanie sich bei der Polizei wiederfindet.
Wir haben Kossi angesprochen und versucht seine Geschichte in Erfahrung zu bringen. Glücklicherweise sind die „Entlader“ keine Kriminellen und lassen uns mit den Kindern sprechen ohne zu intervenieren. Nein, sie respektieren unsere Arbeit.
Kossi hat uns erzählt, dass seine Eltern beide bei einem Unfall gestorben sind, und er niemanden mehr hat. Er ist 13 Jahre alt und lebt jetzt auf der Straße. Wir haben ihn zur Baracke geführt und dort konnten wir alles auf Papier festhalten um auf das Amt vorbereitet zu sein. Auch hier braucht man sowas wie ein Sorgerecht, und kann das Kind nicht einfach ins Foyer holen. Dies ist allerdings erst seit kurzem so, vorher konnte man es handhaben, wie man wollte.
Also nehmen wir immer brav alle Formalien auf, damit später alles schnell – wobei der Begriff schnell relativ gesehen werden sollte – abgehandelt ist. Kossi kommt seit dem 3. Januar also täglich in die Baracke.
Mit zu unserer Aufgabe gehört auch immer, der Sache auf den Grund zu gehen. Wir fragen Kossi also, wo er denn gewohnt hat. Dieser führt uns daraufhin, am 9. Januar, zu seinem Dorf, und letztendlich auch zu seinem Haus , in dem er gelebt hat. Wir nennen diese Besuche hier „Enquetes“. Ich glaube das heißt sowas ähnliches wie Anhörung oder keine Ahnung was, auf jeden Fall sind es Hausbesuche. Nach 20-minütiger Fahrt durch die heiße Savanne Afrikas, auf einem sandigen Weg, kommen wir also am besagten Ort an.
Hier treffen wir überraschenderweise Kossis Großvater, wobei er doch anfangs sagte, dass er niemanden mehr hat? Nach einem Gespräch mit dem Großvater wurde jedoch klar, der Junge hat gelogen. Seine Geschichte war ausgedacht.
Jetzt gilt es herauszufinden, wieso der Junge nicht bei seinem Vater leben möchte und von zu Hause weggelaufen ist. Wir haben dem Großvater unsere Kontaktdaten, also Handynummer etc. gegeben und wenn der Vater von der Arbeit erscheint, soll dieser Kontakt mit uns aufnehmen um ein Treffen zu vereinbaren. Dann versuchen wir herauszufinden, was das Problem liegt.
Nach einem Gespräch mit Père Jose Luis, welcher der Direktor der Kommunität hier ist, wurde mir klar, dass das kein Einzelfall ist. Er sagte mir, dass 90% aller Geschichten in der Erstfassung so nicht wahr sind. Straßenkinder sind extrem intelligent. Je länger sie auf der Straße sind, desto abgebrühter werden sie. Sie sprechen sich untereinander ab, welche Geschichte ziehen könnte etc.
Auch im Foyer merkt man in einigen Situationen, dass diese Kinder keine normalen sind – nicht im Sinne von unnormal – jedoch ist es sehr schwierig an sie heranzukommen. Man merkt ihnen an, dass sie auf der Straße waren. Ihre Konfliktbereitschaft ist sehr hoch, ihre Frustrationstoleranz sehr niedrig. Sie geraten schnell aus der Fassung. Sie sind mit echten Gefühlen sehr sparsam und trotzdem merke ich, wie sehr sie sich freuen, wenn ich im Foyer bin.
Natürlich öffne ich damit eine Schublade – aber: das sind die Merkmale, welche mir im Vergleich zu Kindern aus gut behütetem Hause, nach meinen ersten vier Monaten in Togo, aufgefallen sind.
Und umso klarer wird mir, dass die Arbeit die ich hier mache wichtig ist und gebraucht wird. Das die Kinder diese Zuneigung brauchen, und ich selber dabei eine innere Zufriedenheit erfahre, wie ich sie noch nie zuvor erfahren habe.
Frohes neues Jahr!
Ulla
Lieber Domonic,
eigentlich wollte ich in Deinem Blog nur kurz was nachlesen- und jetzt haben mich Deine Schuilderungen doch eine halbe Stunde \gefesselt\. Vielleicht hast du ja Lust, Deine Erfahrungen, später für diese Webseite http://www.strassenkinderreport.de/index.php?goto=80&gruppe=R3&username= aufzuarbeiten. Ein Artikel über Togos straßenkinder fehlt noch und du hast ja schon viel \wissen\ hier in Deinem Blog zusammengestellt.
Ich wünsche DIr noch weiterhin einen guten Start ins neue Jahr und ein gutes Zwischenseminar!
Viele Grüße
Ulla