„Kinder sind wie Edelsteine, die auf der Straße liegen. Sie müssen nur aufgehoben werden und schon beginnen sie zu leuchten.“ –Don Bosco

Es ist das Dritte, viel zu junge Kind, das an diesem Abend an unseren Tisch kommt, um nach Geld zu fragen. Ich sitze mit einer Freundin im Eiscafé. Das Erste war ein Mädchen, sie war keine fünf Jahre alt. Ihr Kopf ragte gerade so über die Tischkannte, als sie uns mit einem schüchternen Lächeln Schokoriegel zu verkaufen versuchte. Das Zweite, ein müde und traurig blickender, vielleicht achtjähriger Junge, sagte gar nichts. Mit einem missmutigen Blick öffnete er die Hand. Traurig schüttelte ich den Kopf und sah zu, wie er an den nächsten Tisch zog. Wie alt er wohl gewesen sein mochte? 13? Er hätte genauso gut einer „meiner“ Jungs sein können. Ein Junge des Hogars, dem ich abends ein Gute-Nacht-Lied singe.

Jetzt ist es wieder ein Junge. Sein Hemd ist erstaunlich sauber, er sieht allgemein ordentlich aus. 14 Jahre? 15? Er geht barfuß. „Hätten Sie eine Kleinigkeit für mich?“ Wieder will ich den Kopf schütteln, doch dieses Mal fällt mir etwas besseres ein: „Hast du vielleicht Hunger?“ Ich schiebe ihm meinen fast noch unangetasteten Eisbecher entgegen und lächle ihn aufmunternd an. Nach kurzem Zögern setzt er sich. 

Sofort verliert sich sein Gesicht in der Schüssel. Erst als er merkt, dass ich ihn beobachte, schaut er verlegen auf: „Ich hatte Hunger.“ Ich lächle nur und frage: „Wie heißt du?“. Verwirrt schaut er mich an. Warum ist das von Interesse?, fragt sein Blick, doch er antwortet: „Brayan. Ich bin 11 Jahre alt.“

Irgendwann scheint ihn das Eis zu langweilen, er schaut mich an: „Ich muss heute Abend noch 25 Bolivianos zusammenbekommen, damit ich mir neue Flip-Flops kaufen kann. Am Wochenende war ich mit meinen Freunden am Fluss. Er hat uns alles weggerissen.“

Ohne dass ich nachfrage, beginnt er ausführlicher zu erzählen: „Wir haben erst Kaugummis verkauft und sind dann noch kurz baden gegangen. Hätten wir geahnt, dass der Fluss so reißend ist, hätten wir es sicher gelassen. Mir hat er meine ganze Tüte weggerissen. Darin trage ich immer meine Klamotten und alles… Schwups, von einer auf die anderen Sekunde hatte ich gar nichts mehr.“ Er erzählt von seinem Freund, der fast gestorben wäre und weist dann stolz auf sein Hemd. „Das habe ich für 16 Bs (2€) gekauft. Jetzt fehlen mir nur noch Flipp-Flops!

Brayan erzählt und erzählt. Von seinen vier Freunden, mit denen er dem Fluss ausgeliefert war und von der Frau, die ihnen schließlich geholfen hat. Plötzlich fragt er erschrocken nach der Uhrzeit. „21:30 Uhr“, sage ich. „Ahh“, lächelt er, „dann habe ich ja noch ein bisschen.“ Um 23 Uhr sei er wie jeden Abend mit seinen Freunden am Terminal verabredet. „Da schlafen wir immer in den Kammern der Geldautomaten. Nur an guten Tagen können wir uns Hostels leisten.“

Ich frage ihn, ob er schon einmal in einem Hogar war. „In Tausenden“, meint er und beginnt aufzuzählen. „Hogar San Lorenzo, Caminito, Hogar Don Bosco, …“. Ich bin baff und frage nach dem Hogar Don Bosco. Brayan erzählt, dass er vom Jugendamt mehrmals aufgegriffen und ins Patio (die Auffangstation des Projektes) gebracht wurde. Weil er da immer wieder abhaute, brachte man ihn beim nächsten Aufgreifen ins Techo (Auffangstation nur für Straßenjungs). Dort blieb er lange genug, um ihm schließlich die feste Bleibe des Projektes zuzutrauen: Das Hogar. „Vier Tage habe ich es ausgehalten, dann musste ich gehen. Aus dem Hogar abhauen ist ein Kinderspiel! Die Türen stehen ja immer offen.“ 

„Warum bist du abgehauen, Brayan?“ Er schaut weg. „Ich weiß es nicht. Eine Stimme in mir ruft die ganze Zeit: Du musst weiter, geh weg! So ist das immer…“. Ich verstehe und verstehe doch nicht. „Ist es nicht so viel einfacher ein Dach über dem Kopf zu haben? Immer etwas zu essen zu bekommen?“ Er zuckt mit den Schultern: „Essen finde ich auf der Straße auch immer.“

Dann muss er gehen. Seine Freunde warten ja auf ihn. Er ist schon aufgestanden, da sage ich mit einem offenen Lächeln: „Ich arbeite im Hogar Don Bosco und würde mich sehr freuen, dich wieder zu sehen.“ „Hmm“, macht er nur. „Que le vaya bien!“ Und schon ist er weg. 

Es fühlt sich an, als wäre einer „meiner“ Jungs gegangen. Während wir zahlen und nach Hause gehen, kommen mir Fragen über Fragen. Hat er damals Roxana, meine Mitarbeiterin, kennengelernt? Hat ihm abends auch eine Volontärin ein Lied vorgesungen? Hätte ich nicht noch etwas für ihn tun können? Ich stelle mir vor, wie er im Geldautomaten schläft, anstatt in einem unserer Hochbetten. 

Lange liege ich in dieser Nacht noch wach. Ich suche eine Antwort, die Brayan mir nicht hatte geben können: „Wie kann es sein, dass ein Kind die Straße bevorzugt, obwohl ihm ein warmes Zuhause geboten wird?“

Die leichteste Antwort liegt wohl in der Sucht. Brayan selbst hat nie konsumiert, für ihn lag darin das Ende. Doch ich hatte Kinder in meiner Gruppe, 8 Jahre, 11 und 13, die aus genau diesem Grund abgehauen sind. Eine vielleicht noch schlimmere Antwort ist das fehlende Urvertrauen. Viele Kinder haben Erwachsene bisher nur als gewalttätig, gleichgültig oder missbrauchend erlebt. So fällt es ihnen unglaublich schwer, sich auf Erwachsene einzulassen und zu glauben, dass hier etwas zu ihrem Besten passiert. Das Misstrauen gegenüber staatlichen und privaten Initiativen ist riesengroß. Nur wenn ein Kind bereit ist, sich jemanden anzuvertrauen und es nochmals zu versuchen können Resozialisierungsprozesse funktionieren.

Vielleicht kommt Brayan irgendwann an diesen Punkt. Irgendwann, wenn er echtes Interesse an ihm und seiner Zukunft erfährt. Es tut gut, zu wissen, dass ihm zu diesen Zeitpunkt Türen offen stehen. Eine davon heißt Techo Pinardi. Die Auffangstation des Proyecto Don Boscos öffnet seine Türen auch ein x-fachtes Mal, um Kindern ein Zuhause zu schenken. 

„Das erste Glück eines Kindes ist das Bewusstsein, geliebt zu werden.“ -Don Bosco

Hier noch eine ähnliche Geschichte als Pageflow: https://multimedia.strassenkinder.de/bolivien#52473